Kitabı oku: «Leben - Wie geht das?», sayfa 4
7. Kindheit – Intuition und Fragen
In der frühen Kindheit hat die Hinwendung zum Absoluten eher intuitiven Charakter. Das Kind stellt wie selbstverständlich Fragen nach den letzten Gründen des Seins: wo ist die verstorbene Großmutter, was ist nach dem Tod, kommen Tiere auch in den Himmel, ist der liebe Gott auch wirklich lieb, wo wohnt er und warum hängt der Mann da am Kreuz? Diese Fragen treffen ins Zentrum des Lebens, und ein Kind kann mehr Fragen stellen als viele Philosophen beantworten können. Da Antworten auf die Fragen der Kinder nicht ganz leicht zu geben sind und die intellektuellen Zugänge für das Kind noch zu schwer zu verstehen sind, gilt es in dieser Phase der Entwicklung, ihnen atmosphärisch einen Zugang zum Absoluten zu ermöglichen: durch Musik, Stille sowie das Lesen heiliger Texte in versammelter Atmosphäre. Dennoch sollte man sich auch um Antworten bemühen.
Das Kind hat für die Tiefendimensionen des Lebens schon ein inneres Gespür. Gerade in jungen Jahren haben die meist noch unverstellten Kinder viele Fragen, die sich auf die letzten Dinge beziehen. Man sollte diese Fragen ernst nehmen und nicht belächeln. Man sollte sie fördern und kindgerecht zu beantworten suchen. Es ist eine erste wichtige Phase der Orientierung im Leben. Kinder haben neben der Ahnung vom Absoluten auch schon etwas von der Brüchigkeit der Welt erlebt, den Streit mit den anderen Kindern im Kindergarten oder in der Schule, den Streit der Eltern und vielleicht auch deren Trennung. Sie haben die Härte des Lebens schon ein Stück weit kennengelernt und in allem die Grenzen und Zerbrechlichkeit des Lebens. Angesichts dieser Erfahrung der Fragmentarität des Lebens sowie einer Ahnung vom Absoluten fragt das Kind intuitiv darüber hinaus. Es hat ein Gespür dafür, dass vieles so nicht sein sollte und dass es vielleicht noch etwas ganz anderes gibt.
Im Ernstnehmen der Fragen des Kindes und im Bemühen, diese Fragen zu beantworten, werden wesentliche Weichen für das weitere Leben gestellt. Es werden Grundlagen gelegt für ein Vertrauen ins Leben und in eine Macht jenseits der elterlichen Autorität, die das Leben trägt. Die Vorstellung von der elterlichen Allmacht zerbricht in der Pubertät sowieso. Oft haben schon sehr junge Menschen im Alter von sieben oder acht Jahren tiefe intuitive und geistliche Einsichten in eine andere Dimension des Seins. Friedrich Nietzsche soll schon mit acht Jahren gesagt haben, er müsse ein Heiliger werden und die anderen Freunde hätten nicht so schwere Bedingungen.25 Sein Leben lang war er auf der Suche nach seiner religiösen Berufung, viele seiner Schriften geben Auskunft von diesem Ringen.
Das, was der Mensch später an Halt und Orientierung braucht, wird in Kindertagen als Urvertrauen grundgelegt. Was Kinder erleben und erfahren, prägt ihr weiteres Leben, womöglich sogar bis hinein in die Zellen und die Formung des Genoms. Denn es scheint so zu sein, dass sich das Genom des Menschen, das – wie schon erwähnt – aus genetischer Grundinformation und epigenetischer Schaltinformation besteht, noch bis zur Pubertät durch die Umgebung sowie und die Beziehung zur Mutter und zum Vater mitgeformt wird. Es ist nicht starr festgelegt, sondern wird erst langsam Gestalt. So wäre es möglich, dass die Atmosphäre im Elternhaus, Vertrauen und Angst, Frieden und Streit auf diese prägende Phase bis in das Genom hinein Einfluss haben.
Aber zurück zu den Fragen der Kinder. Ihre Fragen kommen ganz automatisch und wie von selbst. Entscheidend ist, wie die Antworten ausfallen. Eltern sollten sich herausfordern lassen durch die Fragen der Kinder. Sie sollten sich bemühen, kindgerechte Antworten zu geben und die Fragen nicht als kindlich abzutun. Dazu müssen sich die Eltern selbst mit den existentiellen Fragen des Lebens auseinandersetzen. Bemühen sie sich nicht um gute Antworten und schieben die Fragen der Kinder als lächerlich beiseite, erlischt mit der Zeit deren Interesse und die Bereitschaft zum Fragen. Mit jeder unbeantworteten Frage wächst die Frustration und führt langsam dazu, nicht mehr zu fragen.
Umgekehrt wächst mit jeder Antwort die Neugierde weiterzufragen und durch den Dialog und das Sprechen mit den Kindern deren Interesse an den Dingen, die sie umgeben. Man sieht nur, was man weiß. Das heißt, dass mehr Wissen den Menschen auch mehr sehen lässt und ein Mehr-Sehen wieder zu mehr Wissen und zu mehr Inter-esse führt (inter-esse, dazwischen sein, drinnen sein). Schließlich wächst auch die Nähe zwischen Eltern und Kind. Denn beide arbeiten gemeinsam an einem Problem oder erschließen sich ein neues Gebiet und kommen sich so näher. Gemeinsam gelebtes Leben und gemeinsames Ringen vertieft die Beziehung.
Das Schlimmste ist, wenn Eltern nicht für Gespräche zur Verfügung stehen und Kinder keine Fragen mehr stellen. Derjenige, der keine Fragen mehr stellt, ist womöglich so enttäuscht worden, dass er gar nicht mehr damit rechnet, Antworten zu bekommen. Eine als lächerlich abgetane Frage verunsichert den jungen Menschen. Eine Mischung aus dem Nichtmehr-weiter-Fragen und einer wachsenden inneren Unsicherheit kann sich im Laufe des Lebens zur Arroganz (a-rogare, nicht fragen) entwickeln, die meint, schon alles zu wissen. Halbbildung macht frech, sagt der Volksmund. Daher ist das Wecken des Interesses in Sinne des Wissen-Wollens und Weiterfragens so wichtig, da dieses Fragen zu den letzten Fragen des Seins führt und gleichzeitig bescheiden macht angesichts des Wissens, was man alles nicht weiß und dass man nichts weiß (Sokrates).
Wer immer weiter fragt, kommt schließlich auf einen letzten Grund. Thomas von Aquin war der Meinung, dass der Mensch, der immer weiter fragt, schließlich auf diesen letzten Grund stößt und diesen letzten Grund nennen alle Gott. Es ist der Grund, der alles trägt und auf den man sich verlassen kann. Es ist der Grund, der die Welt trägt und im Innersten Halt gibt. Aus diesem Grund heraus wachsen dem Menschen – wie von selbst – jene Kräfte zu, die er zum Leben braucht. Dieser Grund ist wie ein Quell lebendigen Wassers im Innersten des Menschen. Manchmal muss der einzelne im späteren Leben erst zu-grunde-gehen, um wieder Anschluss an diesen Quellgrund zu bekommen.
Wenn der Grund und damit die Kraftquelle verschüttet sind, ist der Mensch kraftlos, leer, vielleicht depressiv. Dann muss dieser Grund wieder frei gelegt werden, vielleicht in einem ersten Schritt durch Psychotherapie, letztlich aber durch die Wiederanbindung an den Grund durch Stille, Meditation, Gebet. Die geringfügige „Arbeit“, die man leisten muss, um an diesem Grund dran zu bleiben, ihn nicht zu verlieren oder wieder zu ihm zurückzukehren, ist täglich ein wenig Rückzug und Stille sowie ein Hören auf das göttliche Wort. Dazu muss der Mensch sich je neu freischaufeln von all dem, was ihn im Alttag zuzudecken und zu erdrücken droht.
So sollte eine gute Pädagogik das Fragen der Kinder und Jugendlichen – übrigens auch der Erwachsenen – fördern und es ihnen nicht abgewöhnen. Der Mensch, der nicht mehr fragt, ist wie abgestorben, innerlich tot und desinteressiert. Dabei ist das Inter-esse, das Dazwischen-Sein, ein zentrales Moment am Menschsein. Der Mensch kann mit seinem Intellekt (intus legere, drinnen lesen) in den Dingen und hinter den Dingen lesen. Das schafft die Möglichkeit, sich in dieser Welt zurechtzufinden, sich zu orientieren und die Größe der Welt und des Lebens zu entdecken. Dazu sollten bereits Kinder angeleitet werden.
Um das zu können, müssen Kinder Sprechen, Lesen, Schreiben lernen, sie müssen sich verständlich machen können und Kommunikation üben, soziales Verhalten lernen und die eigenen Grenzen und die des anderen respektieren lernen. Da dies ein großes und anstrengendes Programm ist, dürfen Ruhe und Versammlung, aber auch Spielen, Sport, Freizeit und Musizieren nicht fehlen. Vor allem Sprechen, Schreiben und Kommunikation sind von zentraler Bedeutung für die Entwicklung des Kindes. Ein junger Mensch, dessen Kommunikation mit der Umwelt nicht gelingt, vereinsamt. Er wird nicht sozialisiert. Menschen, die nicht Lesen und Schreiben können, sind von großen Teilen der Welt ausgeschlossen. Kommunikationsstörungen führen auf Dauer zu Beziehungsstörungen und Beziehungsstörungen führen zu Kommunikationsstörungen. Beides führt zu Leid, Einsamkeit und Verzweiflung.
So ist es wegen der hohen Intuition der Kinder für existentielle und religiöse Fragen sinnvoll, schon kleine Kinder in die Grundfragen der Religion einzuführen. Zum Beispiel können schon im Kindergarten einfache Gebetsformen eingeübt und religiöse Fragen beantwortet werden. Zusammen mit guten menschlichen Kontakten wird dies dem Kind Halt und Ausrichtung geben. Es ist auch sinnvoll, zum Beispiel die Feier der Erstkommunion (im katholischen Raum) in dieser frühen Phase vorzunehmen, da Kinder vieles intuitiv aufnehmen, obwohl sie noch nicht alles verstehen können. Aber auch der Erwachsene ringt ein Leben lang um dieses Verständnis. Daher sollte man auch Eltern in die religiöse Erziehung der Kinder mit einbeziehen, wenn ihre Kinder im christlichen Kontext an die Sakramente (Erstkommunion, später Firmung, Konfirmation) herangeführt werden. Symbole und Zeichen müssen erklärt werden, auch sie sind eine Art Sprache.
8. Pubertät als Krise
Mit der Pubertät beginnt der zweite Abnabelungsprozess des jungen Menschen von der Mutter und den Eltern. Alles gerät durcheinander, alles wird infrage gestellt. Hormone spielen verrückt, aus dem Jungen wird ein junger Mann, aus dem Mädchen eine Frau. Die Geschlechtsreife beginnt und bald können die Jugendlichen eigene Kinder zeugen. Werte brechen um, die Absolutheit der Eltern wird hinterfragt. Bei manchem bricht Langweile oder die Null-Bock-Mentalität auf. War bei den Kindern noch ein intuitiver Zugang zum Religiösen möglich, wird auch dieser jetzt infrage gestellt. Der Sinn von Religion überhaupt wird bei vielen fragwürdig. Religion ist für die einen gar nicht mehr „cool“, andere wollen verstehen, wozu der Glaube an Gott überhaupt gut sein soll. Der junge Mensch sucht nach Antworten und setzt sich kritisch mit seinen Eltern und mit allem, was ihm von außen vorgegeben ist, auseinander. Das dient der Findung des Eigenstandes. Die Eltern werden in die Auseinandersetzungen einbezogen oder abgelehnt, sie müssen vieles aushalten und argumentativ erläutern. Um hier mit den Kindern im Gespräch zu bleiben, müssen sie sich weiterhin mit den wesentlichen Fragen des Lebens auseinandersetzen und neu argumentieren lernen.
Fragen und Antworten will gelernt sein, und das kann man trainieren. Im Mittelalter gab es eine eigene Methode des Fragens und Antwortens, eine Anleitung zum Argumentieren. Bei diesem Argumentationstraining sollte man im Gespräch zunächst wiederholen, was der andere gesagt hat, sich rückversichern, dass man ihn richtig verstanden hat und dann erst antworten. Wie viele Missverständnisse kämen gar nicht erst zustande, wenn man sich so verhielte. Und zweitens sollte man im Disput das Argument des anderen stark machen und nicht schwächen. Das eigene Argument sollte besser sein als das stärkste des Gesprächspartners.
Die Diskussionen sollten bei aller Unterschiedlichkeit der Meinungen in angemessenem Respekt und mit Wohlwollen so geführt werden, dass man den anderen nicht bewusst missversteht und verletzt. Philosophieren heißt Weiterfragen, so hat es Carl Friedrich von Weizsäcker einmal formuliert. Mit dem Weiterfragen und dem Versuch der Beantwortung einer Frage entstehen neue Fragen, und neue Fragen bringen das Interesse voran. Dieses Interesse des Fragens und Suchens sollte man auch bei Jugendlichen fördern. Immerhin heißt es: wer suchet, der findet (Mt 7,8).
Was also macht der junge Mensch mit diesem Durcheinander, mit diesem Chaos, mit dieser Krise? Was geschieht jetzt? Wie soll dieser Umbruch der beginnenden Herauslösung aus dem Elternhaus gelingen und gestaltet werden? Der junge Mensch will schon ganz frei und selbstständig sein und kann doch nicht allein leben. Er hat schon Allmachtsphantasien und ist doch noch ganz abhängig. Er ist gerade zwölf bis fünfzehn Jahre alt. Wie löst man diese Spannung? Und woher bekommt man Antwort?
Offensichtlich ist dieser Prozess nicht nur ein Prozess der Befreiung von etwas, also von den Eltern und anderen Fremdbestimmungen, sondern auch ein Prozess zu etwas hin, nämlich zum Finden der eigenen Identität, Wahrheit und Berufung. Wie kann der junge Mensch zu diesem Eigenen durchreifen? Er ist noch sehr jung, kann noch nicht ganz weg vom Elternhaus, aber ganz zu Hause ist er auch nicht mehr. Wie kommt er aus der Spannung des Nicht-mehr-ganz-bei-den-Eltern- und Noch-nicht-ganzbei-sich-selbst-Seins, aus dem Frei-sein-Wollen, aber noch nicht ganz Freisein-Können heraus?
Bedarf es gerade zum Aushalten dieser Spannung und für das Überwinden dieses Abgrundes und des Zwischen-den-Welten-Seins einer ganz anderen Dimension, eines Überstieges in eine andere Welt, die jetzt in diesem Chaos tragende Kraft bekommt und neue innere Ordnung schafft? Bedarf es gerade für diesen schrittweisen Überstieg zur Selbstwerdung einer ganz anderen Ebene? Das klingt paradox. Der Mensch soll ja gerade aus der Fremdbestimmung durch die Eltern langsam zum eigenen Ich heranreifen. Und jetzt soll noch eine andere zusätzliche Ebene, womöglich eine neue „fremde Macht“ ins Spiel kommen? Soll der junge Mensch aus einer Fremdbestimmung in eine andere Fremdbestimmung hineingeraten? Das klingt widersprüchlich.
Damit das nicht geschieht, müsste diese „andere Dimension“ „da“ sein und doch nicht vereinnahmen, sie müsste ganz zurücktreten und doch Halt geben. Sie müsste im innersten Innen des Menschen ansetzen und doch Orientierung geben, sie müsste Wegweisung sein und doch Raum geben zur Selbstentfaltung. Sie müsste von innen her Halt geben und in den Eigenstand und die Freiheit führen. Sie dürfte den jungen Menschen nicht wiederum von außen her fremd bestimmen wie eine äußere Autorität, sondern müsste eine innere Autorität sein, die dem Menschen wie ein Kompass den Weg weist. Sie müsste ihm helfen, zu sich selbst zu erwachen und den eigenen Lebensweg schrittweise zu finden. Sie müsste die Selbstwerdung fördern und nicht blockieren, sie müsste den Menschen groß machen und nicht klein, ihn wachsen lassen und nicht schrumpfen, ihm Vertrauen schenken und nicht Angst einflößen, den Weg ins Unbekannte bahnen helfen und nicht im Alten stecken bleiben. Eine solche Macht müsste den Menschen überschreiten und doch in ihm sein, sie müsste dem Menschen innerlicher sein als er sich selbst innerlich sein kann.
Bevor diese Macht und innere Autorität näher beschrieben wird, sollen zunächst zwei weitere grundsätzliche Fragen bedacht werden: Zum einen jene über die Brüchigkeit der Welt, die sich gerade in Krisen- und Umbruchszeiten zeigt, und zum anderen jene über die Grundstruktur des Menschen, die sich vor allem in seinem Geist- und Vernunftcharakter zeigt. Wer diese Zwischenüberlegungen nicht mitvollziehen will, möge gleich zum Teil C „Pubertät als existentieller Umbruch“ übergehen.
Teil B
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Grundreflexionen
über die Welt,
den Menschen
und die Frage nach
dem Absoluten
9. Die Brüchigkeit und Zerrissenheit der Welt
Die Welt ist endlich und hat Mängel, sie ist kein Paradies. Das merkt schon das Kind, der junge Mensch, der Pubertierende. Es kann sein, dass der Heranwachsende in der Pubertät gar nicht mehr weiß, wie er mit sich selbst und mit anderen umgehen soll. Er wird sich und womöglich auch den anderen ein Stück weit fremd. Selbst wenn er spürt, dass es in der Welt eine Ordnung gibt, herrscht dennoch auch Unordnung und Chaos in ihm und um ihn herum. Es gibt konstruktive Kräfte des Aufbauens und destruktive der Zerstörung. Es gibt Krankheit und Leid, Erfahrung von Endlichkeit und Tod. Es gibt Scheitern und Enttäuschung, Naturkatastrophen und Kriege. Es gibt Chaos in der Natur, aber auch Chaos im eigenen Inneren und im menschlichen Leben. Es wird Leid ausgelöst durch menschliches Handeln und den Missbrauch der menschlichen Freiheit: malum physicum und malum morale nennt das die Tradition. Es gibt das Übel in der Natur und das Übel durch menschliches Handeln.
In all dem Hin und Her muss der Mensch Orientierung finden. Er muss das Gute vom Schlechten unterscheiden lernen, die desintegrierenden und ihn in Verwirrung bringenden Kräften von jenen unterscheiden lernen, die ihn zur inneren Mitte und zum inneren Frieden führen. Das geht nicht von heute auf morgen. Es bedarf verschiedener Suchbewegungen, Grenzerfahrungen, Scheiterns und Gelingens, Gesprächs mit Älteren und gegenseitigen Austausches. In Umbruchszeiten, wenn Äußeres zusammenbricht, sucht der Mensch im Chaos des eigenen Lebens nach neuem Halt. Das gilt für die persönliche Biographie, das gilt aber auch für geschichtliche Perioden von Umbruchzeiten.
Die gegenwärtige Zeit ist eine Zeit derartiger Umbrüche. Diese sind begleitet von einem Verlust an Grundwerten, Zerbrechen von Beziehungen und Strukturen, von enormer Zeitbeschleunigung und Verdichtung von Zeit durch immer mehr zu bewältigende Aufgaben. Die Neuorientierungen geschehen in einer ständig komplexer werdenden Welt mit einer nahezu unüberschaubaren Zunahme an Informationen. Außerdem kommt es durch Internet und Handy-Kultur zu ganz neuen Formen der Kommunikation sowie zu einem Gleichzeitig-Werden mit der ganzen Welt. Eine immer tiefere Durchmischung von Kulturen und Religionen. Migrationsbewegungen, Reisen sowie Flugverkehr beschleunigt diesen Vorgang.
Dieses zum Teil undurchschaubare Vielerlei führt zu einer Suche nach Ethik und Spiritualität, der Mensch sucht in dieser aufgewühlten Zeit nach Ruhe, Orientierung und innerer Ausrichtung. Er droht einerseits in der Flut von Angeboten unterzugehen, im Pluralismus von Meinungen und Sinnangeboten seine Orientierung zu verlieren und andererseits zu vereinsamen und in die Isolation zu geraten. Er braucht für sich selbst und für andere neue Orientierungspunkte. Auch die Gesellschaft muss sich neu ausrichten und sich fragen, wohin die Reise eigentlich gehen soll und welche Grundwerte sie aufrecht erhalten will. Was in einer Einzelbiographie in der Pubertät an Unruhe aufbricht und durcheinander gerät, scheint auch in Zeitepochen immer wieder zu geschehen: Umbruch, Aufbruch, neue Orientierung, tieferen Stand finden. Die Gegenwart ist eine solche Zeit der Umbrüche und Transformationen. Sie bedarf einer neuen Ausrichtung und einer tieferen Verankerung des Lebens.
In einer derartigen Zeit der Krise des Staates entstand die Nikomachische Ethik von Aristoteles, ein Buch, das dem Menschen helfen will, wieder Halt und Orientierung zu finden. Aristoteles geht davon aus, dass der Mensch diese Orientierung braucht, wenn er sein Leben nicht verfehlen will. Im letzten will der einzelne, dass sein Leben gelingt. Er sucht nach seinem Glück. Nach diesem Glück strebt – so Aristoteles und später Thomas von Aquin – jeder Mensch, allein der Weg dahin ist schwer zu finden. Glück heißt im Griechischen Eu-daimonia („eu“ heißt gut und „daimon“ ist der Geist). Diesen Begriff kann man frei so übersetzen: dem guten Geist folgen. Der Mensch findet sein Glück, wenn er dem guten Geist folgt.
Glück kann man nicht machen, aber Glück stellt sich ein, wenn man richtig lebt und dem guten Geist folgt. Richtig leben und dem guten Geist folgen bedeutet für Aristoteles: ein tugendhaftes Leben zu leben. Und das heißt wiederum – sehr verkürzt – die vier Tugenden der Klugheit, Tapferkeit, des Maßes und der Gerechtigkeit im Leben umzusetzen. Es bedeutet, in allem das rechte Maß zu finden, nicht zuviel, nicht zu wenig, die rechte Mitte einzuhalten zwischen den Extremen. Der Mensch soll klug entscheiden und klug handeln, mutig und tapfer nach vorne leben und nach der Gerechtigkeit streben. Gerade diese Werte und ein solches Leben interessieren aber den Pubertierenden womöglich gar nicht.
Orientierung suchen heißt auch, nach Selbstvergewisserung Ausschau halten, nach Haltepunkten, die nicht brechen. Einen solchen Versuch, nach derartigen Haltepunkten zu suchen, unternahm schon Augustinus. Er fragte sich, ob in Situationen, wo alles rundherum zusammenbricht, wirklich alles bricht oder ob es nicht doch noch etwas gibt, was sicher ist, woran man sich halten kann. Seine Antwort war: Selbst wenn alles zusammenbricht, selbst wenn der Mensch an allem zweifelt, selbst wenn er sich in vielem täuscht und getäuscht wird, selbst wenn Gott ihn täuschen sollte, so wird ihm doch klar, dass er es selbst ist, der da zweifelt, sich täuscht oder getäuscht wird. Si enim fallor sum: Selbst wenn ich mich täusche, bin ich26, selbst wenn ich in allem getäuscht werde, weiß ich doch, dass ich es bin, der da getäuscht wird, wenn ich mich irre, weiß ich, dass ich bin und dass ich mich irre.
René Descartes hat später diese Grundeinsicht, die Augustinus mit der Täuschung durchreflektiert hat, auf das Denken selbst übertragen. Sein Satz: cogito ergo sum (ich denke, also bin ich) stellt ebenfalls einen Versuch dar, sich seiner selbst gewiss zu werden. Die Tatsache, dass der Mensch über all diese Fragen nachdenken kann, zeigt, dass er sich in einem nicht täuschen kann, nämlich darin, dass er selbst es ist, der da denkt. Bei Augustinus lief der Weg zur Selbstvergewisserung über die Täuschung, bei Descartes über das Denken, heutzutage würde er vermutlich über das Fühlen oder das Nicht-mehr Fühlen laufen.
Viele Menschen sagen: Ich fühle nichts mehr, es ist so leer in mir, es ist alles wie abgetötet. Die Depression ist nahezu Volkskrankheit Nummer eins geworden. Manche wollen cool sein, Spaß haben, Chillen. Und hier könnte man sagen: ja, es ist so leer in dir und du fühlst nichts, aber du kannst erkennen, dass du es bist, der nichts fühlt und dass es deine Leere und Gefühllosigkeit ist. Und man könnte sogar hinzufügen: Du kannst etwas dagegen tun. Heidegger würde sagen, der Mensch ist immer irgendwie gestimmt: traurig, fröhlich, leer, erfüllt. Der Mensch kann aber darauf reflektieren, dass es seine Stimmung ist und nicht die eines anderen. So kann der Mensch auch im Bereich der Stimmungen und Gefühle eine Art Selbstvergewisserung suchen: Ich fühle, also bin ich, oder: ich fühle nichts, also bin ich. Aus dieser Perspektive tritt das Ich in den Vordergrund. Aber es muss gefragt werden, ob dieses Ich schon das letzte ist, das den Menschen ausmacht oder ob auch das Fühlen, das Denken und das Getäuschtwerden auf etwas anderes verweist, ob es nicht eine dialogische Struktur hat.
Kehren wir zunächst zurück zum Lebensvollzug. Der Mensch in der Umbruchzeit sucht Halt, zunächst bei den Mitmenschen. Aber gerade diese Menschen wie zum Beispiel die Eltern verlieren ihren Absolutheitsstatus. Das Elternhaus wird brüchig, man beginnt sich davon zu entfernen. Wenn es gut geht, sind Freunde da und Gleichgesinnte, auf die Verlass ist. Neue peer-groups entstehen, es finden sich Gleichaltrige, mit denen man auf Augenhöhe diskutieren kann. (Missbrauchsfälle entstehen oft in Situationen, wo Abhängigkeitsverhältnisse bestehen und gerade keine peergroups vorhanden sind und nicht auf Augenhöhe miteinander kommuni ziert wird.) Gerade in einer solchen Phase braucht man Menschen, mit denen man sprechen kann, mit denen man seine Probleme und Visionen teilen kann. Mancher gerät auch in Gruppen, die ihm nicht gut tun. Selbst wenn der einzelne das spürt, dass er in falschen Gruppen unterwegs ist, scheint für ihn die Hauptsache zu sein, nicht allein zu sein, irgendwo dazuzugehören, verstanden zu werden, angenommen zu sein, nicht ausgestoßen zu werden und geliebt zu sein trotz der schwierigen Phase, in der er steckt.
Diese Fragen bleiben ein ganzes Leben lang: wo bin ich zu hause, wo kann ich mich anlehnen, wo finde ich meine innere Ruhe? Wo bin ich anerkannt und akzeptiert, selbst in meiner Unleidlichkeit? Wo kann ich so sein, wie ich bin, wo muss ich mich nicht verstellen? Wohin soll der Mensch sich wenden, wenn der Halt bei den Mitmenschen verloren geht, wenn Mitmenschen ihn enttäuschen, wenn Eltern nicht da sind oder ihre Autorität und Absolutheit verlieren, wenn beginnende Freundschaften zerbrechen, wenn man sich selbst nicht mag und keine rechte Beziehung zu sich selbst und zu anderen aufbauen kann, wenn man gar ein anderer sein möchte und in die Einsamkeit gerät. Da ist oft Leere und Verzweiflung.
Die größte Verzweiflung ist die, so hat Sören Kierkegaard es formuliert, ein anderer sein zu wollen, als man selbst ist: „Diese Form von Verzweiflung ist: verzweifelt nicht man selbst sein wollen, oder noch niedriger: verzweifelt nicht ein Selbst sein wollen, oder am allerniedrigsten: verzweifelt ein anderer sein wollen als man selbst, ein neues Selbst sich wünschen.“27 Die Frage ist, wie man aus dieser Einsamkeit und der inneren Zerrissenheit, aus der Zweiheit, in die die Verzweiflung einen geführt hat, wieder zurück zur Einheit und Gemeinschaft gelangt. Hier gibt es viele Angebote aus der Psychologie und Psychiatrie, manches aus der Esoterik und den Religionen. Seriöse Therapien können helfen, mit der Zerrissenheit fertig zu werden, zumindest kurzfristig. Langfristig wird man sich tiefer verankern müssen. (Mehr dazu im Kapitel über die Stimmigkeit.)
Die Brüchigkeit des Lebens lässt also Ausschau halten nach Haltgebendem, Bleibendem und Absolutem. In jedem Zusammenbrechen muss doch etwas Bleibendes sein, es bricht ja immer nur Etwas, nie das Ganze zusammen (es sei denn, der Mensch stirbt und die Welt geht unter). Der Mangel deutet darauf hin, dass er auch behoben werden kann, der Durst deutet darauf hin, dass es irgendwo Wasser gibt, die Zerrissenheit auf Einheit, die Ungerechtigkeit auf Gerechtigkeit hin, das Unglück auf Glück, die Lüge auf Wahrheit, die Krankheit auf die Möglichkeit der Gesundheit.
Dabei ist es ist nicht so, dass es das Unglück geben muss, damit es auch das Glück geben kann, dass es das Dunkel geben muss, damit es das Licht gibt, oder den Teufel und das Böse, damit es Gott und das Gute geben kann. Sondern man muss die Asymmetrie der Welt als Asymmetrie ernst nehmen und die Gerichtetheit der Welt sehen lernen. Hier herrscht ein Gefälle: Die Zerrissenheit ist die Abweichung von der Einheit, das Unglück die Abweichung vom Glück, die Lüge Abweichung von der Wahrheit, die Ungerechtigkeit Abweichung von der Gerechtigkeit. Und nicht umgekehrt!
Der Maßstab der Bewertung ist immer das Positive. Die Wahrheit ist der Maßstab für die Lüge und nicht umgekehrt. Andersherum ist der Begriff der Lüge ein wertender Begriff und deutet implizit darauf hin, dass Wahrheit sein soll, der Begriff der Krankheit deutet darauf hin, dass eigentlich Gesundheit sein soll, die Zerrissenheit, dass Stimmigkeit und Einheit sein soll. In einem Satz zusammengefasst: Die Wahrheit ist Anzeige ihrer selbst und ihres Gegenteils. Die Welt des Mangels ist die Welt des „Abfalls“ vom Guten, vom Wahren und vom Schönen. Es sind nicht zwei gleichwertige Welten, die des Bösen und des Guten, die sich hier gegenüber stehen. Das Böse ist der Mangel an Gutem, man könnte auch sagen, das Böse ist das pervertierte Gute. Es zieht die Kraft aus dem Guten, oder wie Ignatius von Loyola einmal sagte: Das Böse kommt oft unter dem Anschein des Guten.
So deutet die Gebrochenheit und Brüchigkeit des Lebens darauf hin, dass es eigentlich nicht so sein sollte, dass es heil und ganz sein sollte. Allein die Frage, wie man zu dieser Ganzheit hinfindet, ist entscheidend. Der Mangel und die Brüchigkeit des Lebens zeigen sich wohl am schmerzlichsten in gescheiterten Beziehungen, im Abschied nehmen müssen, im Tod. Der Mensch sucht ein Leben lang nach bleibenden guten Beziehungen, nach bleibendem Beieinandersein, nach Nicht-Abschied-nehmen-Müssen, nach Nicht-Streit-Haben, sondern Frieden, nach Anerkanntsein, Geliebtwerden und Erkanntwerden. Lieben und Erkennen sind im Hebräischen ein Wort. Der andere soll sein Gegenüber wahrnehmen wie er „wirklich“ ist. Es sollen Begegnungen stattfinden und keine – wie Heidegger es nennt – Vergegnungen.
Das größte Leid und die schwersten Folgen für das Leben mit all seinen Entscheidungen, die oft weit in die Politik und die Weltgeschichte hineinreichen, ist das Nicht-Angenommensein, das Verlassen-Werden und die quälende Einsamkeit. Es sind zerstörte Beziehungen, zerbrochene Lieben, enttäuschte Erwartungen, das Nicht-Geliebt-Werden. Es entstehen Minderwertigkeitsgefühle des Nicht-gut-genug-Seins, des Nicht-Anerkannt Werdens, des Von-der-Welt-nicht-Wahrgenommenwerdens, des Versagens. Als Reaktion darauf kommt es zu Kompensationen der Minderwertigkeitsgefühle, zu Machtausübung und Unterdrückung des anderen. Die Kompensationsmechanismen können das große Auto sein oder der Reichtum, es kann die Sehnsucht nach Geltung und Macht sein, die Sucht nach Erfolg. Es können die kleinen Dinge des Alltags sein, aber auch die Weltpolitik lebt von diesen Kompensationshandlungen. Mancher Diktator hat aus Gefühlen der Minderwertigkeit heraus ein ganzes Regime aufgebaut bis zur Vernichtung der Welt.
Alfred Adler hat eine ganze Psychologie dieser Minderwertigkeitsgefühle mit ihren Kompensationsmechanismen entwickelt. Viele psychologische Forschungen befassen sich mit den dahinter liegenden Beziehungsstörungen, frühkindlichen und sogar pränatalen Störungen in der Beziehung zwischen Mutter und Kind. Fast könnte man sagen: das größte Unheil der Menschheitsgeschichte sind misslungene und gestörte Beziehungen, die verletzte oder nicht gewährte Liebe. Eine gestörte Beziehung zum anderen hat oft auch eine gestörte Beziehung zu sich selbst zur Folge oder umgekehrt, das gestörte Verhältnis zu sich selbst führt zu Beziehungsstörungen.
Hinter all diesen Fehlstellungen steckt die große Sehnsucht des Menschen, geradezu der Schrei nach Wahrgenommen-Werden, Erkanntwerden, Angenommensein, Geliebtwerden, Geborgenheit, nach Heilsein und Ganzsein, nach Lebensentfaltung. Warum? Weil man im Raum des Angenommenseins ausruhen kann und seinen Frieden findet, weil man sich dort nicht mehr verstellen und mit dem Leben lügen muss, weil man seine Wahrheit leben kann und keinen Schein mehr aufbauen muss, der das wahre Sein verdeckt. Das schafft innere Ruhe und Gelassenheit, es gibt Vertrauen und Mut, in das Leben hineinzuleben. Es gibt auch die Kraft zur Lebensentfaltung und Lebensfreude. Das Seinkönnen im eigenen Sein befreit zum Selbstsein.
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