Kitabı oku: «Schweiz – Europäische Union: Grundlagen, Bilaterale Abkommen, Autonomer Nachvollzug», sayfa 4

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Die Schweiz als «zugewandter Ort» der EU

Die Doppelstrategie der völkerrechtlichen Anbindung und selbstgewählten Anpassung führt zu einer sektoriell weitreichenden Integration der Schweiz in das Recht der EU, weshalb die Schweiz als «zugewandter Ort» der EU (D. Freiburghaus, S. 391; M. Oesch/A. Lang, S. 135) oder als «de facto Mitglied der EU» (T. Cottier et al., Rz. 998; A.R. Ziegler, De-facto Mitgliedschaft, S. 270) qualifiziert wird oder von einer «Passivmitgliedschaft» (U. Altermatt, S. 155) oder einer «Integration ohne Mitgliedschaft» (M. Vahl/N. Grolimund, passim) die Rede ist.

Die Schweiz ist mit der EU in der Tat ausserordentlich eng verbunden. Politisch, gesellschaftlich, kulturell und wissenschaftlich teilen die Schweiz und die EU gemeinsame Grundwerte. Die geographische Lage inmitten Europas verschafft der Schweiz in Verkehrsfragen eine zentrale Stellung. Auch die wirtschaftliche Vernetzung ist gross (s. für diese Zahlen www.eda.admin.ch/dea und Link zu Europapolitik der Schweiz). Knapp 52 % aller Exporte aus der Schweiz werden in den EU-Raum geliefert. Rund 70 % aller Importe in die Schweiz stammen aus dem EU-Raum. Das Hauptaugenmerk liegt auf dem deutschen Markt, der knapp 20 % aller Exporte aus der Schweiz abnimmt und für 27 % aller Importe in die Schweiz verantwortlich zeichnet (wobei die Handelsbeziehungen mit den Nachbarbundesländern Baden-Württemberg und Bayern ganz im Vordergrund stehen). Mehr als die Hälfte der schweizerischen Auslandinvestitionen fliesst in den EU-Raum. Damit ist die EU bei weitem die wichtigste Handelspartnerin der Schweiz. Eine Studie schätzt, dass die Schweiz – als Drittstaat! – pro Kopf von allen europäischen Staaten am meisten von der Errichtung des Binnenmarktes profitiert hat (Bertelsmann Stiftung, Ökonomische Effekte des EU-Binnenmarktes in Europas Ländern und Regionen, 2019). Umgekehrt ist aber auch die Schweiz für die EU wichtiger, als es ihre Stellung als Kleinstaat vermuten lässt. In absoluten Zahlen ist die Schweiz nach den Vereinigten Staaten und China die drittwichtigste Handelspartnerin der EU. Auch bei den Personen, welche sich regelmässig in der EU bzw. Schweiz aufhalten – sei es als Arbeitskräfte, sei es als Pensionierte, Privatiers oder Studierende, sei es als Familienangehörige von freizügigkeitsberechtigten Personen –, ist die Verflechtung gross: Aktuell sind mehr als 450 000 Schweizerinnen und Schweizer in der EU niedergelassen (wobei rund ¾ dieser Personen Mehrfachbürgerinnen und Mehrfachbürger sind). Umgekehrt wohnen mehr als 1 400 000 EU/EFTA-Bürgerinnen und Bürger in der Schweiz; damit kommen rund zwei Drittel der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung in der Schweiz aus der EU/EFTA. 320 000 Grenzgängerinnen und Grenzgänger aus der EU arbeiten in der Schweiz und überqueren die Grenzen in der Regel täglich oder mindestens einmal pro Woche.

Die Schweiz beteiligt sich an diversen Agenturen, Programmen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU. Dabei sticht insbesondere die Teilnahme an Agenturen ins Auge, welche als selbständige Verwaltungseinheiten dezentralisiert Verwaltungsaufgaben erledigen und ein wesentliches Rückgrat der Eigenverwaltung der EU bilden. Sie sind Teil des europäischen Verwaltungsverbunds (E. Schmidt-Assmann, S. 1; s. zu diesem Label auch BVerfGE 140, 317 [338] – Identitätskontrolle), wobei dieser Verbund durch die Beteiligung von Drittstaaten über die EU hinaus erweitert wird und paneuropäische Dimensionen annimmt. Aktuell beteiligt sich die Schweiz an der Europäischen Agentur für Flugsicherheit (EASA), an der Europäischen Umweltagentur (EUA) und am Europäischen Umweltinformations- und Umweltbeobachtungsnetz (Eionet), an der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex), am Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO), an Europol und Eurojust, an den Satellitennavigationsprogrammen Galileo und EGNOS und an Forschungsprogrammen (s. zum Ganzen Agenturbericht, passim; M. Oesch/A. Lang, S. 135-139; C. Tobler, IT-Agentur, Rz. 53-72). Ergänzend pflegt die Schweiz mit weiteren Agenturen und Einrichtungen lose, unterschiedlich weitgehende Formen der Zusammenarbeit (fachlicher Austausch, Beobachterstatus); dazu gehören das Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (HABM), die Europäische Verteidigungsagentur (EVA), die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA), die Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (EIOPA) und die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA). Auf diese Weise erhält die Schweiz Zugang zu einschlägigen Gremien und Netzwerken. Sie profitiert von Vorarbeiten und kann mit eigenen Beiträgen Einfluss auf die Politikgestaltung nehmen. Zeitweise besitzen diese Agenturen die Befugnis, für die Schweiz verbindliche Entscheide zu treffen; dies gilt etwa für die Europäische Agentur für Flugsicherheit (EASA).

Die Beteiligung der Schweiz an unionalen Einrichtungen ist auch eine Folge davon, dass sich das Umfeld für die intergouvernementale Zusammenarbeit in Europa in den letzten zwei Jahrzehnten verändert hat. Die Tätigkeiten und Aufgaben von internationalen Organisationen und informellen Foren wurden vermehrt auf Einrichtungen der EU übertragen und damit gleichsam «vergemeinschaftet» bzw. «unionalisiert». Beispiele dafür sind die Joint Aviation Authorities (JAA), welche zur Harmonisierung der in Europa geltenden Vorschriften im Bereich der technischen und operationellen Flugsicherheit beitrugen, und der informelle und ad hoc orchestrierte Informationsaustausch zwischen europäischen Staaten zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten. Diese Aufgaben werden heute im Wesentlichen durch die Europäische Agentur für Flugsicherheit (EASA) und das Europäische Zentrum für Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC; s. zu den Verhandlungen über eine Beteiligung der Schweiz N. 35) wahrgenommen; die EASA und das ECDC sind Agenturen der EU. Die Integration von europäischen Organisationen und informellen Netzwerken in den EU-Rechtsrahmen und die damit einhergehende Formalisierung und Verrechtlichung führen dazu, dass die Beteiligung von Drittstaaten grundsätzlich in Frage gestellt wird und nurmehr unter klar definierten Vorgaben – und ohne Stimmrecht – im Angebot ist (Agenturbericht, S. 2-3; S. Lavenex/R. Schwok, S. 44).

Die EU ermöglicht der Schweiz, sich bei der Vorbereitung neuer EU-Rechtsakte im Anwendungsbereich der bilateralen Abkommen zu beteiligen und den Inhalt mitzugestalten (N. 94). Expertinnen und Experten aus der Schweiz tauschen sich in Arbeitsgruppen, Ausschüssen und weiteren – auch informellen – Netzwerken mit den Kolleginnen und Kollegen der EU-Eigenverwaltung und der Verwaltungen der EU-Mitgliedstaaten aus (proposal shaping), verfügen in aller Regel aber über kein Stimmrecht (decision making).

Der Einfluss der Schweiz hängt wesentlich von der Qualität und Überzeugungskraft der Argumente ab (power of the pen). Diese fallen umso eher auf fruchtbaren Boden, je technischer eine Materie ist. Umgekehrt verfügen Äusserungen eines «Passivmitglieds» zwangsläufig über weniger Gewicht als Einwürfe von «Aktivmitgliedern», wenn politisch umstrittene Grundsatzfragen debattiert werden. Das ist für die Schweiz nachteilig, auch wenn die meisten Entscheidungen in solchen unionalen Gremien im Konsens getroffen werden (Agenturbericht, S. 46, 51, 106; Bericht Schengen 2013, S. 6334). Entsprechend essentiell ist, dass die Schweiz ihre Mittel möglichst effektiv einsetzt und sich mit anderen Staaten, deren Interessen gleichlaufen, verbündet.

Insgesamt wirkt die Schweiz damit punktuell in mitgliedstaatsähnlicher Weise im europäischen Staatenverbund (s. zu diesem Label BVerfGE 89, 155 [181] – Maastricht) mit. Politisch bleibt die Schweiz eine Aussenseiterin und ist für Mitwirkungsrechte auf das Entgegenkommen der EU angewiesen; funktional ist sie eng eingebunden – deutlich enger als dies prima vista und allein mit Blick auf die klassisch völkerrechtlich ausgestalteten Vertragsbeziehungen aussehen mag (S. Lavenex/R. Schwok, S. 49). Dabei verändert die Mitwirkung in den unionalen Agentur- und Programmverwaltungen sowie bei der Vorbereitung neuer EU-Rechtsakte den tradierten Integrationsmodus der Schweiz (J. Saurer, S. 428). Die traditionelle Politik des Bilateralismus trägt reaktive Züge. Die EU bestimmt Rhythmus und Themen. Die Schweiz folgt hintenan nach. Sie übernimmt passiv «fertiges» EU-Recht, sei es im Rahmen des Abschlusses und der Weiterentwicklung bilateraler Abkommen, sei es im Rahmen des autonomen Nachvollzugs. Demgegenüber verlangt die Mitarbeit in unionalen Gremien eine proaktive und konstruktive Mitwirkung – verbunden mit der Verpflichtung, (Mit-) Verantwortung für die Politikgestaltung im paneuropäischen Kontext zu übernehmen.

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Introvertierte Verfassungstradition

Die Bundesverfassung atmet einen weltoffenen und völkerrechtsfreundlichen Geist (vgl. auch A. Auer/G. Malinverni/M. Hottelier, Rz. 31; G. Biaggini, Öffnung, S. 965). Sie verpflichtet den Bund, «in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt» zu handeln (Präambel), sich «für eine friedliche und gerechte internationale Ordnung» einzusetzen (Art. 2 BV), «zur Linderung von Not und Armut in der Welt, zur Achtung der Menschenrechte und zur Förderung der Demokratie, zu einem friedlichen Zusammenleben der Völker sowie zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen» beizutragen (Art. 54 BV) und «die Interessen der schweizerischen Wirtschaft im Ausland» zu wahren (Art. 101 BV). Diese Zielbestimmungen geben der Aussenpolitik – verbindlich, wenngleich offen formuliert und konkretisierungsbedürftig – inhaltlich die Richtung vor. Der Grundrechtekatalog beruht wesentlich auf der EMRK, welche auf diese Weise «konstitutionalisiert» wurde (G. Biaggini, Verhältnis, S. 727). Die Aussenverfassung regelt die kompetenziellen Fragen (Art. 54-56, Art. 140-141, Art. 166 und Art. 184 BV). Das Staatsvertragsreferendum – 1921 eingeführt, 1977 erstmals erweitert – wurde 2003 als Reaktion auf den fortschreitenden Prozess der Globalisierung und Europäisierung des Rechts weiter ausgebaut mit dem Ziel, die direkt-demokratische Legitimierung völkerrechtlicher Verträge sicherzustellen (s. zur demokratischen Legitimation der bilateralen Abkommen N. 59-68). Die Völkerrechtsfreundlichkeit wird durch die Verpflichtung zur Beachtung des Völkerrechts durch Bund und Kantone betont (Art. 5 BV). Diese Vorgaben gelten allesamt auch bei der Gestaltung der Beziehungen der Schweiz zur EU. Beachtenswert ist, dass der Beitritt zu supranationalen Gemeinschaften dem obligatorischen Referendum untersteht, womit die Tür auch für einen EU-Beitritt verfassungsrechtlich offensteht (Art. 140 BV).

Das BGer hat das Verhältnis von Völker- und Landesrecht weiter ausdifferenziert. Eine reichhaltige Praxis besteht dabei auch zur Geltung und zum Rang der bilateralen Abkommen im schweizerischen Recht, zur Auslegung des schweizerischen Rechts im Licht der bilateralen Abkommen sowie zu ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit (N. 50-58).

Gleichzeitig schweigt sich die Bundesverfassung über die Bedeutung der Einbindung der Schweiz in globale und regionale Organisationen und Vertragswerke und die damit einhergehenden Interdependenzen und Abhängigkeiten weitgehend aus. Die einzige internationale Organisation, welche namentlich erwähnt wird, ist die UNO. Der durch eine Volksinitiative angestossene Beitritt der Schweiz zur UNO von 2002 hat es immerhin in die Übergangsbestimmungen geschafft (Art. 197 Ziff. 1 BV). Dieses verzerrte Bild ist bedauerlich und der Orientierungsfunktion der Bundesverfassung abträglich (s. dazu auch A.R. Ziegler/K. Odendahl, Rz. 39; G. Biaggini, Öffnung, S. 969). Gleichzeitig ändert dieser blinde Fleck der Verfassung nichts an der grundlegend konstitutiven Bedeutung, welche Organisationen und Regelwerke wie die WTO, die OECD, die UNO-Pakte I und II und andere Menschenrechtskonventionen für die jeweiligen Politikbereiche in der Schweiz haben.

Der Befund der Verfassungsblindheit gilt ebenso für die Beteiligung der Schweiz am europäischen Integrationsprozess. Die Leserin und der Leser suchen die Begriffe Europa, EU, EFTA, bilaterale Abkommen, Europarat und EMRK in der Bundesverfassung vergeblich. Es besteht ein Widerspruch zur gelebten (Verfassungs-) Wirklichkeit, der sich mit jedem weiteren Integrationsschritt der Schweiz akzentuiert. Weder die enge Vernetzung der Schweiz mit der EU noch die überragende Bedeutung der EMRK für den Grundrechtsschutz in der Schweiz werden abgebildet. Es finden sich keine Aussagen über die Grundsätze, Ziele und Grenzen der schweizerischen Europapolitik. Die Bundesverfassung von 1999 kommt bewusst «europaneutral» daher (Botschaft Bundesverfassung S. 119). Die Öffentlichkeit war nach der Ablehnung des Beitritts zum EWR verunsichert und in Bezug auf die Europafrage gespalten. Der Verfassungsgeber scheute das Risiko, die Konsensfähigkeit des neuen Verfassungstexts durch konkrete Aussagen zum Verhältnis der Schweiz zur EU aufs Spiel zu setzen, und nahm die «Tabuisierung des Themas Europa» bewusst in Kauf (T. Cottier, Bundesverfassung, S. 183).

Während es der Schweiz in der Folge gelang, die Beziehungen zur EU qua bilateraler Abkommen auf eine tragfähige Basis zu stellen, wurde die Frage des Verhältnisses der Schweiz zu Europa verfassungsrechtlich ausdrücklich nur noch bei zwei Volksinitiativen aufgeworfen. Sowohl die Volksinitiative «EU-Beitrittsverhandlungen vors Volk!» von 1997 als auch die Volksinitiative «Ja zu Europa!» von 2001 wurden wuchtig abgelehnt (s. dazu und zu weiteren europapolitisch bedeutsamen Volksabstimmungen N. 60-64).

Rechtsgelehrte haben vorgeschlagen, zumindest die weitreichende Verflechtung mit Europa verfassungsrechtlich abzubilden und auf diese Weise Verfassungstext und gelebte Praxis in Einklang zu bringen (s. A. Kölz/J.P. Müller, Art. 113; im Hinblick auf einen EU-Beitritt D. Thürer, Verfassungsfragen, S. 30-33; zum Ganzen auch E.-U. Petersmann/A.R. Ziegler, passim). Der Zweck eines solchen Europa-Artikels oder – systematisch wohl kluger – eines Europa-Absatzes, der Art. 54 BV ergänzte, bestünde darin, über die Grundsätze, Ziele und Grenzen der schweizerischen Europapolitik Auskunft zu geben. Ein Vorschlag lautet wie folgt (s. für diesen Vorschlag M. Oesch, Verfassungswandel, S. 177-181; ein ähnlicher Vorschlag stammt von T. Cottier, Europa-Artikel, passim):

Art. 54 Auswärtige Angelegenheiten

1 …

2 …

2bis Er [der Bund] wirkt am Prozess der europäischen Integration mit. Die Schweiz ist Mitglied des Europarates und strebt eine aktive und enge Zusammenarbeit mit der Europäischen Union an. Sie achtet die gemeineuropäisch anerkannten Werte und setzt sich für ihre Förderung ein; dazu gehören zuvörderst Frieden, Freiheit, Wohlergehen, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Achtung der Menschenrechte.

2ter Er berücksichtigt bei der Aushandlung und Umsetzung völkerrechtlicher Verträge insbesondere die gesamtwirtschaftlichen Interessen der Schweiz, die Bedürfnisse der Wohnbevölkerung und die natürlichen Lebensgrundlagen in der Schweiz. Er erlässt im Rahmen seiner Zuständigkeiten flankierende Massnahmen.

3 …

Der vorgeschlagene Abs. 2bis reflektiert eine betont europafreundliche Grundhaltung und schliesst einen Alleingang der Schweiz in Europa aus. Namentlich werden der Europarat und die EU genannt, ohne dass damit eine Gering(er)schätzung weiterer Organisationen und Vertragswerke impliziert wird. Abs. 2bis verzichtet darauf, die Art und Weise der Zusammenarbeit und das Instrumentarium festzulegen. Er überlässt den Entscheid über weitere Integrationsschritte den Behörden, wobei zumindest bei einem EU-Beitritt ohnehin Volk und Stände das letzte Wort haben und sich eine Neufassung dieser Bestimmung aufdrängt. Umgekehrt scheint es sinnvoll, im Zug der Einführung eines solchen Europa-Artikels Art. 121a und Art. 197 Ziff. 11 BV aufzuheben; diese Bestimmungen zielen auf den Alleingang der Schweiz und sind mit der aktuellen Integrationspolitik der Schweiz nicht vereinbar. Gute Gründe sprechen dafür, die Sorgen und Ängste, welche zur Annahme der Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» geführt haben, verfassungsrechtlich weiterhin zu reflektieren. Abs. 2ter verpflichtet den Bund, die mitunter als negativ gewerteten Folgen der europäischen Integration zu bedenken und flankierende Massnahmen zu erlassen. Auch dieser vorgeschlagene Absatz ist programmatischer Natur. Er schafft keine neuen Bundeskompetenzen.

Ein solcher Vorschlag mag auf den ersten Blick blutleer und unspektakulär daherkommen. Gleichwohl sollte seine rechtspolitische Bedeutung nicht unterschätzt werden. Abs. 2bis nimmt auf die Grundwerte des Europarates, der EMRK und der EU Bezug, wie sie auch in der Bundesverfassung zum Ausdruck kommen. Er hält den Bund an, sich für die Förderung dieser Werte einzusetzen. Auch bilden diese Werte Mindeststandards bzw. Schranken, welche es bei der Mitwirkung am europäischen Integrationsprozess stets zu beachten gilt. Abs. 2bis unterstreicht die Wichtigkeit enger und stabiler Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU und nimmt damit ein Anliegen auf, über das in Politik und Gesellschaft ein breiter Konsens besteht.

Dieser Vorschlag orientiert sich an der Rechtslage diverser EU-Mitgliedstaaten, deren Verfassungstexte sich spezifisch zum Verhältnis zur EU und zur Übertragung von Hoheitsrechten äussern (s. dazu die Übersichten bei C.D. Classen, S. 285-306; F.C. Mayer/M. Wendel, passim). Wenngleich solche Öffnungs- oder Integrationsklauseln für die Schweiz nur beschränkt fruchtbar gemacht werden können, zielen sie im Kern hier wie da doch aufs Gleiche: Sie übernehmen eine wichtige Scharnierfunktion zwischen der nationalstaatlichen und der europäischen Ebene. Sie spiegeln die überstaatlichen Bedingtheiten des Staates und die (nurmehr) begrenzte Steuerungs- und Gestaltungsfunktion der nationalstaatlichen Verfassung insbesondere mit Blick auf die fortschreitende Europäisierung. Sie tragen zur Entwicklung eines gesamtheitlichen Systems im Sinne eines europäischen Verfassungsverbunds (s. zu diesem Label BVerfGE 140, 317 [338] – Identitätskontrolle) bei, indem sie nicht nur einseitig kompetenzielle Fragen regeln, sondern der Europäisierung die Richtung vorgeben und Schranken setzen.

II

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Entstehung und Grundzüge
A. Etappen

Das Verhältnis der Schweiz zur europäischen Integration unter dem Dach der EGKS/EWG/EG/EU ist gekennzeichnet durch das Bestreben, sektoriell bilaterale Abkommen abzuschliessen, ohne sich institutionell (allzu) weitreichend zu integrieren. Die zentralen Wegmarken – von den ersten Annäherungen in den 1950er Jahren über den Abschluss des Freihandelsabkommens, die Ablehnung des Beitritts zum EWR und den Abschluss der Bilateralen I und II bis hin zu den aktuell laufenden Verhandlungen – lassen sich wie folgt zusammenfassen.

1. Erste Annäherung (1956-1972)

Die Aussenpolitik der Schweiz beruhte nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Pfeilern der Souveränität, der Unabhängigkeit, der Neutralität und der handelspolitischen Autonomie. Die schweizerische Exportwirtschaft profitierte von bilateralen Handelsabkommen mit einer Vielzahl von Staaten und von einer starken Auslandnachfrage im Rahmen des europäischen Wiederaufbaus. Die Schweiz war gut aufgestellt, ihren Wohlstand zu mehren. Das Landwirtschaftsrecht war auf die Unterstützung des Bauernstandes ausgerichtet und bot massiven Grenzschutz. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass die Schweiz bemüht war, sich nur selektiv völkerrechtlich zu binden. Diese Zurückhaltung galt zuvörderst mit Blick auf globale Organisationen und Regelwerke sowie (verteidigungs-) politische Bündnisse.

Die Schweiz trat erst 1966 definitiv dem GATT bei. Der Beitritt zu den Bretton Woods-Institutionen und zu den Vereinten Nationen erfolgte 1992 und 2002. 1995 war die Schweiz Gründungsmitglied der WTO. Der Westeuropäischen Union (WEU) blieb die Schweiz zeitlebens fern. Sie ist ebenso wenig Mitglied der NATO; seit 1996 beteiligt sie sich an der Partnerschaft für den Frieden (PfP) und am Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat (EAPC).

Ähnlich defensiv agierte die Schweiz auch auf dem europäischen Kontinent. Sie fungierte 1948 zwar als Gründungsmitglied der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC, 1961 umgetauft in OECD), machte ihre Beteiligung aber von der Einhaltung gewisser Vorbehalte abhängig; dazu gehört die Beachtung der Neutralität, die Weitergeltung der handelspolitischen Autonomie und die Nichtverbindlichkeit von Entscheiden, denen die Schweiz nicht zugestimmt hat (Botschaft OEEC, S. 1177). Eine Teilnahme am europäischen Integrationsprozess im Rahmen der EGKS/EWG/Euratom kam für die Schweiz nicht in Frage. Die kriegsverschonte Schweiz blieb gegenüber dem zentralen Projekt der europäischen Friedenssicherung distanziert. Stattdessen engagierte sie sich im Verbund mit den anderen Staaten der «Äusseren Sieben» 1960 bei der Gründung der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA). Sie erblickte darin eine willkommene Gelegenheit, Freihandel, Agrarprotektionismus und nationale Souveränität zu vereinen. Dem Europarat trat die Schweiz 1963 bei; seit 1974 ist sie Vertragspartei der EMRK.

Die Anfänge des vertraglichen Bilateralismus mit den Europäischen Gemeinschaften bildeten ein Konsultationsabkommen zwischen der Schweiz und der Hohen Behörde der EGKS von 1956 sowie ein Abkommen über die Einführung direkter internationaler Eisenbahntarife im Verkehr mit Kohle und Stahl im Durchgang durch das schweizerische Gebiet zwischen dem Schweizerischen Bundesrat einerseits und den Regierungen der EGKS-Mitgliedstaaten und der Hohen Behörde der EGKS andererseits von 1956 (AS 1957 71, AS 1957 381; C. Tobler/J. Beglinger, Grundzüge, Rz. 12); diese Abkommen sind heute nicht mehr in Kraft. Weitere Abkommen mit der EWG folgten. Dazu gehört das Abkommen betreffend die Erzeugnisse der Uhrenindustrie zwischen der Schweiz und der EWG und ihren Mitgliedstaaten von 1967, das bis heute in Kraft ist (SR 0.632.290.13).