Kitabı oku: «"... es ist ein zu starker Contrast mit meinem Inneren!"», sayfa 4

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In der Höhle der Löwen

Man darf vermuten, dass bei den vielen Gesprächen im kleinen Kreis Brahms von Joachim schon vorab Hinweise erhalten hatte, auf was er bei der Begegnung mit dem Weimarer Zirkel achten solle, könne und müsse. Als hanseatischer Künstler aus bescheidenen Verhältnissen war er eher den Umgang mit gut situierten bürgerlichen Gönnern gewohnt, kaum den mit echten Blaublütern. Und so eindrucksvoll sich das Bürgertum im Laufe des 19. Jahrhunderts auch entwickeln sollte, die Führungsrolle der Aristokratie blieb nachhal-tiger. Künstler wie Clara Schumann und Johannes Brahms fanden in Aristokratenkreisen und im Geldadel ihre größten Anhänger und Förderer. Ihr Selbstbewusstsein gegenüber dem Erbadel speiste sich aus künstlerischen Höchstleistungen und scharfem Verstand.

Anfang Juni 1853 wurden Brahms und Reményi bei der Fürstin zu Sayn-Wittgenstein und Liszt auf der Altenburg in Weimar vorstellig. Nur Eduard Reményi war den Anwesenden dem Namen nach bekannt, zu denen die Komponisten Karl Klindworth und Joachim Raff sowie Liszts Klavierschüler Dionys Pruckner und William Mason gehörten. Es sei dahingestellt, ob ein souveräner Pianist wie Brahms durch die Vielzahl der zumeist kaum älteren Anwesenden eingeschüchtert oder ob er durch die langen Reisen ermüdet war, und ob ihm Joachim, der Liszts Usancen kannte, vielleicht sogar geraten hatte, den Tastenlöwen aus der Reserve zu locken. Was geschah, wurde durch Augenzeugen überliefert: »Endlich kam Liszt herunter, und nach einer allgemeinen Unterhaltung wandte er sich an Brahms und sagte: ›Uns interessiert, etwas von Ihren Kompositionen zu hören, wann auch immer Sie bereit und geneigt sind, sie uns vorzuspielen‹«, berichtete Mason. »Brahms, der ganz offensichtlich nervös war, erklärte, es sei ihm ganz unmöglich, in seiner momentanen Verfassung zu spielen, und ungeachtet des dringlichsten Ersuchens von Liszt und Reményi ließ er sich nicht dazu bewegen, sich ans Klavier zu setzen. Als Liszt erkannte, dass man nicht weiterkam, ging er hinüber zum Tisch, nahm das erste Stück von Brahms, ein unleserliches Scherzo, zur Hand und sagte: ›Nun, dann werde ich wohl spielen müssen‹, und legte das Manuskript aufs Klavier.« Der Ungar konnte souverän vom Blatt spielen, was »unter Begleitung einer fortlaufenden hörbaren Kritik über die Musik« geschah, sodass »Brahms verblüfft und erfreut« war. Raff wandte ein, er entdecke in dem Werk Reminiszenzen an Chopins b-Moll-Scherzo, worauf Brahms entgegnete, er habe »bislang Kompositionen von Chopin weder gesehen noch gehört«.69 Clara Schumann hatte über vierzig Stücke von Chopin im Repertoire und sie besaß pädagogisches Talent, sodass Johannes Brahms von jemandem wie ihr gerne einen Rat annahm. Von Liszts Eleven wollte er sich gewiss nicht belehren lassen. Letztendlich ging es bei der Begegnung auf der Altenburg auch nicht um Brahms – Liszt ließ alles um sich als Zentralgestirn kreisen und lauerte wahrscheinlich nur darauf, dass ihn endlich jemand bat, den alten und potenziell neuen Jüngern seine eigene Sonate zu Gehör zu bringen, deren Tinte auf dem Manuskript kaum getrocknet war. Der Virtuose spielte noch einen Auszug aus Johannes’ Sonate in C-Dur und nachdem die Brahmsschen ›Ergüsse‹ überstanden waren, brachte jemand das Gespräch auf Liszts neuestes Werk. »Ohne zu zögern setzte er sich und begann, es vorzutragen«, fuhr Mason fort. »Im Laufe des Stückes kam er zu einer sehr ausdrucksvollen Stelle der Sonate, die bei ihm immer von extremem Pathos durchdrungen war, wobei er ein besonderes Aufmerken und Anteilnehmen seitens der Zuhörer erwartete. Als er einen Blick zu Brahms warf, stellte er fest, dass Letzterer in seinem Sessel schlummerte. Liszt spielte die Sonate zu Ende, dann erhob er sich und verließ den Raum. Von meinem Platze aus konnte ich Brahms nicht sehen, aber mir war bewusst, dass sich etwas Ungewöhnliches ereignet hatte, und ich denke, Reményi war es, der mir nachher sagte, was geschehen sei.«70 Auch wenn sich die Anwesenden nicht ganz einig schienen, ob Brahms tatsächlich eingeschlafen war – zuzutrauen wäre es ihm! Es war eine für ihn bezeichnende Reaktion: Der Maler Ludwig Michalek berichtete, dass der angesehene Komponist später so höflich war, sich ihm und einem Bildhauerkollegen für Porträts zur Verfügung zu stellen, aber ihm »war die Modellsitzerei höchst langweilig – einmal schlief er uns komplett ein«.71

Was auch immer seinerzeit passiert sein mag, Brahms beobachtete das Gebaren der Weimarer Kreise mit Zurückhaltung und trieb seine sozialen Studien. Hingegen war Reményi in erster Linie daran gelegen, Kontakte zu knüpfen und sich einzuschmeicheln. Da Liszt das Französische geläufiger war, ersann Reményi in dieser Sprache – unter Anspielung auf das mühselige Schreiben mit der Feder – Wendungen wie: »Dieses Gekratze erlaubt sich, sich an den großen Mann zu wenden, nachdem er die Sonate, das Scherzo, die Rhapsodien, die Fantasie nach Dante etc. etc. gehört hat. Man muss Mut besitzen, um es zu wagen, an einen solchen Mann zu schreiben – also, versuchen wir es trotzdem. Wir werden sehen, ob ich das Talent zum Fortführen habe.« Bei der Anrede erging er sich in ungarischen Ehrenbezeugungen wie »Tisztelt Liszt!« [Geehrter Liszt] »Úr! [Herr] Bewundernswerter Landsmann!« Liszt mag bedauert haben, dass Brahms und die Schumanns nicht so unterwürfig waren. Die Spur, die der Schleimer Reményi hinterließ, war lang: »Ich bin ein glücklicher Sterblicher, ich besitze die Schrift – nein, einen persönlichen Brief von Liszt. Sie können versichert sein, dass das für mich alles ist – das wird mein Talisman sein.«72

Mendelssohn, die Schumanns, Joachim und Brahms waren nie solche Speichellecker. Sie wollten um ihres Könnens willen gemocht werden. Ausgehend von seinen Weimarer Erfahrungen entwickelte Brahms einen Widerwillen gegen Liszt und seinen Hofstaat. Einmal meinte er, die Kompositionen des Ungarn würden mit der Zeit »immer schrecklicher« und so »juckt’s oft in den Fingern, Streit anzufangen, Anti-Liszts zu schreiben«.73 Clara teilte seine Haltung. Sie gestand Franz Liszt zwar zu, er habe sich ihr und ihrem Mann gegenüber »immer aufs Freundlichste gezeigt«, und auch, dass »er hinreißend spielte«, allerdings seien seine Kompositionen »ein Caos [sic] von Dissonanzen, die grellsten, ein immerwährendes Gemurmel im tiefsten Baß und höchsten Diskant zusammen«.74 Doch weder Clara noch Johannes, der schon ungern Briefe zu Papier brachte, waren gewiefte Verfasser von Artikeln, Abhandlungen oder gar Büchern. Immerhin schrieb er den Namen von Liszt richtig. Als Liszt Brahms beim Besuch in Weimar ein Zigarrenetui schenkte, hieß es in seiner eigenhändigen Widmung irrtümlicherweise, sie sei für »Brams«. Es ist unklar, ob Liszt einfach nur nachlässig war oder ob er einem unreifen Burschen demonstrieren wollte, es sei nicht nötig, sich seinen Namen zu merken.

Das ›System Liszt‹ hatte eher für unterwürfige Anbiederer Verwendung, kritische Geister konnte es kaum gebrauchen. Reményis letzte Bemerkung, »PS. Brahms ist nach Göttingen abgereist«, legt unausgesprochen nahe: Er ist nun bei dem Abtrünnigen Joseph Joachim und wir sind endlich unter uns.

Unschönes und Erbauliches

Während Johannes Brahms das Klima in verschiedenen Sphären des Kulturbetriebs testete, heimste Clara Schumann mit Konzertauftritten Erfolge ein. Sie feilte an ihrem Repertoire, plante Tourneen durch das Rheinland, die Niederlande sowie England und bastelte an kleineren Kompositionen, die sie verschenken wollte. Die Arbeit an einem ihrer wenigen größeren Werke – dem Trio für Pianoforte, Violine und Violoncello – lag schon sieben Jahre zurück. Im Sommer 1853 entstanden die Romanze in a-Moll – gewidmet der Düsseldorfer Freundin Rosalie Leser, die wie der König in Hannover ebenfalls blind war – und ferner einige kleinere Klavierstücke nebst der Vertonung des Goethe-Gedichts »Das Veilchen«, das sie der Sängerin Livia Frege zueignete, einer Mitbegründerin des Leipziger Bachvereins.

Ihren Robert plagten derweil mal wieder gereizte Nerven – sie kannte ihn kaum anders – und ein Hexenschuss. Auf eine unerwartete »sonderbare Sprachorganschwäche« eines Abends folgten wieder Tage voller Freude und Heiterkeit, wie sie ihrem Tagebuch anvertraute.75 Und so oblag es Clara, ihren Mann nach Kräften zu unterstützen und auch noch den Haushalt und die Familie zu versorgen. Sie führte eher ein moderates bürgerliches Leben, »kleidete sich gut: einfach, doch mit Geschmack«, wie es hieß.76 Bei Johannes war es ähnlich, nur im Urlaub nahm er die Etiketteregeln lockerer. »Da werden sie wieder alle über meine defekte Kleidung schimpfen!«, meinte er einmal, als man ihn in Ischl zusammen mit Johann Strauß fotografierte. »Strauß ist trotz seines Alters ein ›Gigerl‹ geblieben. Und was für einer! Ich bin nie nachlässig gekleidet. Und daß ich im Sommer Jägerwäsche trage –, nun, das darf ich mir erlauben.«77 Auch Clara zeigte sich frei von Extravaganzen nebst den Allüren einer Starpianistin. Dabei war sie, wie ihre Schülerin Marfa Sabinina in ihren Erinnerungen festhielt, »in jener Zeit unbestritten die erste Klavierspielerin Europas«.78 Clara war eine Respektsperson. Sie sei »nicht ohne Zittern und Beben« zu ihr gegangen, berichtete Marfa, die später eine Anstellung am Zarenhof fand. »Sie beschloß, mir zwei Stunden wöchentlich zu geben. Ihr Name als Klavierspielerin und Lehrerin war sehr bekannt, pro Stunde nahm sie aber 2 Taler (etwas mehr als 2 Rubel). Für die erste Stunde gab sie mir folgendes auf: Prelude und Fuge Nr. 2 von Bach, Etüden Nr. 1, 3 und 5 von Cramer, drei Seiten aus der Sonate von Beethoven op. […] und das zweite Notturno von Chopin (op. 3). In solchem Umfang stellte sie mir Aufgaben von einer Stunde zur anderen.«79 Clara vermittelte ihre Ansprüche an gehaltvolle Musik bis hinein in die Wortwahl bei Beschreibungen. Als Marfa einmal ein Klavierstück von Robert lediglich als »hübsch« bezeichnete, wurde sie gleich eines Besseren belehrt: »Mein Fräulein, Sie sagen ›hübsch‹. Wie kann man so ein Wort gebrauchen für so eine Komposition? Sagen Sie ›schön, wunderschön‹. Ich bitte mir in dieser Hinsicht eine andere Denkweise aus.« Dabei echauffierte sich Clara so sehr, dass sie »beim Sprechen lispelte«, was »sich bei der leisesten Aufregung verstärkte«.80 Johannes pries Musik, die ihm zusagte – wie etwa die von Antonín Dvořák – begeistert mit Ausrufen wie »Ah, das ist so musikalisch«.81

Im Hause Schumann hielt die auch praktisch veranlagte Clara nicht nur symbolisch die Fäden in der Hand. »Sie war sehr tätig und beschäftigte sich tagsüber mit ihrem Mann, ihren Kindern, ihrer Musik oder Korrespondenz und schließlich mit dem Haushalt«, überlieferte Marfa Sabinina. »Alles, was nur möglich war, tat sie zu Hause eigenhändig – bis hin zum Notenpapier, das sie für ihren Mann selbst linierte; sie nähte auch und kleidete die Puppen ihrer Kinder usw.« Doch die Anspannungen wirkten sich auch auf ihre Karriere aus. »Solche rege Tätigkeit erschöpfte sie, was sich öfters an ihrem blassen Gesicht, müdem Aussehen, ihrer Magerkeit und ihrem nervösen Spiel bemerkbar machte«, meinte Marfa. »Auf alle Ermahnungen, sich zu schonen, erwiderte sie immer: ›Kann ich denn anders leben?‹ Sie litt sehr unter den düsteren Seelenstimmungen ihres Mannes, doch liebte sie ihn trotzdem unbegrenzt, und sie lebten sehr glücklich zusammen.«

Während ihre Schülerinnen auf dem Weg zu einer Pianistenlaufbahn gut sechs Stunden am Tag übten, musste Clara oft mit weniger auskommen. »Eines Tages, vor einem Konzert, das um 6 Uhr anfangen sollte, wollte sie um 5, noch im Hauskleid, den Kindern Milch und Semmeln geben«, berichtete Marfa über ihre Zähigkeit. »Sie nimmt das Messer, fängt an zu schneiden und schneidet sich die Kuppe des linken Zeigefingers ab. In aller Eile den Finger verbunden und mit englischem Pflaster beklebt, hat sie sich umgezogen und ist noch rechtzeitig zum Konzert gekommen.«82

Das Vermitteln großartiger Musik war Claras Lebensinhalt. Als sie gegen Ende September 1853 ahnte, dass sie wieder schwanger sein könnte, zerbarsten alle Aussichten auf eine ersehnte Englandtournee. »Meine letzten guten Jahre gehen hin, meine Kräfte auch – gewiß Grund genug, mich zu betrüben«, seufzte sie ins Tagebuch.83

»Sie war mit Gefühl, ja Feingefühl begabt: Es ist das Schicksal fast aller in Kunst oder Literatur hervorragenden Frauen«, meinte Marfa Sabinina. »Es gibt keinen Extrabegriff für dieses Gefühl; es ist angeboren und entfaltet sich nur bei allgemeiner Entwicklung der Persönlichkeit. Es jemandem mittels Erziehung beizubringen, ist unmöglich. Es wird denen gegeben, deren Herz und Geist bereits entwickelt sind. Clara Schumann nannte es: das richtige Leben in eigenen Empfindungen zu leben.«84 In Johannes sollte Clara einen Seelenverwandten finden.

Geistige Anregungen

Die verzweigten Wege, die Johannes Brahms letztendlich zu den Schumanns führten, waren genauso wichtig wie das Zusammentreffen selbst. Mit jeder neuen Person, die er auf seinem Weg kennenlernte, mit jedem neu geknüpften Kontakt, lernte er das Umfeld kennen, das auch Clara Schumann vertraut war und am Herzen lag. Die Stationen seiner Reise boten dem jungen Musiker die Gelegenheit, intensiv in jene Welt einzutauchen, in der sich die längst anerkannten Künstler bewegten: Hier atmete er die Luft der musikalischen Sphären auf höchstem Niveau, aber auch den Dunst von Egozentrik und Misstrauen, erlebte den erlesenen Geschmack und die Kultiviertheit blaublütiger Kreise, die argwöhnisch das Treiben der unteren Schichten beobachteten, und genoss den Wohlstand gut betuchter Bürger, deren ›rotes Blut‹ durch gehaltvolle Kunst in freudige Wallung geriet.

Entscheidender Vermittler wurde Joseph Joachim. Seine Einladung, ihm in Göttingen einen Besuch abzustatten, kam Brahms sehr gelegen. Der Geiger besaß einen weiten Horizont. Er nutzte Göttingen nicht nur zum Entspannen, sondern auch um sich umfassend zu bilden. In dem zwei Jahre älteren Joachim fand Brahms einen Freund, der nicht allein nur Partituren las, sondern Bücher aus unterschiedlichsten Wissensgebieten verschlang und Vorlesungen über Geschichte und Philosophie lauschte. Zwar konnte sich Brahms wenig für Hörsäle begeistern, aber er entwickelte sich zu einem vielseitig interessierten Leser.

In Göttingen, das seinerzeit zum Königreich Hannover gehörte, verliefen die Revolutionsjahre 1848/49 bis auf kleinere Gerangel zwischen Korpsstudenten und der Polizei verhältnismäßig glimpflich. Als Brahms die Stadt erstmals kennenlernte, fieberte die Bevölkerung der Eröffnung der Eisenbahnstrecke von Alfeld nach Göttingen im kommenden Jahr entgegen. Neben dem allmählichen Aufschwung des Bildungswesens – zu dem die Einführung einer Schulpflicht wie auch das Errichten von Monumenten zur historischen Bewusstseinsbildung gehörten – lebten Johannes Brahms und Clara Schumann noch in einem Mitteleuropa, in dem es bis zur Reichsgründung weiterhin mitunter effektheischende öffentliche Hinrichtungen von Mördern gab. Sie wurden danach diskreter und unmittelbar in den Gefängnissen durchgeführt. Das 19. Jahrhundert war nicht zimperlich: Als Clara neun Jahre alt war, vollzog man zum letzten Mal die Exekution durch das Zerstoßen der Glieder mit eisernen Keulen im Raum Hannover, und die letzte publikumswirksame Hinrichtung mit dem Schwert unter der Gerichtslinde auf dem Göttinger Leineberg fand am 20. Januar 1859 statt.

Obwohl Göttingen Anfang der 1850er-Jahre nur wenig mehr als 10 000 Einwohner hatte, genoss der Ort als Universitätsstadt höchstes Ansehen: Die Brüder Grimm hatten hier gewirkt sowie Gelehrte wie der Physiker Wilhelm Weber und der Historiker Friedrich Christoph Dahlmann. Literarisch hatte Puschkin den Ort verewigt, indem er in der Verserzählung Eugen Onegin dem Dichter Wladimir Lenskij eine »Göttinger Seele« bescheinigte.85 Brahms begann in Göttingen, sich umfassender Lektüre zu widmen. Darüber tauschte er sich dann in Briefen und Gesprächen aus – dies sollte eine der wichtigsten Gemeinsamkeiten von Johannes und Clara werden.

Joachim konnte sich nach den Wochen mit Brahms sicher sein, dass der sich für den Freundeszirkel mit den Schumanns eignete. Doch noch blieb Johannes Brahms gegenüber den Schumanns skeptisch. War nicht zu befürchten, dass Düsseldorf letztlich genauso enttäuschende Erlebnisse bescheren würde wie Weimar? Er machte sich nicht direkt auf den Weg, sondern plante, dabei auch eine der sagenumwobenen Regionen der deutschsprachigen Lande kennenzulernen.

Eine politische Rheinwanderung

Um sich über das, was Joseph Joachim ihm alles erzählt haben mag, noch weiter in die Welt und das Denken der Schumanns zu vertiefen, begab sich Brahms auf eine Wanderung, die ihn von Ende August bis Ende September 1853 von Mainz aus rheinabwärts bis Düsseldorf führte. Noch wusste er nicht, dass Clara dem längsten deutschen Strom ein Denkmal gesetzt hatte, indem sie für eine ihrer vier Heine-Vertonungen im Juni 1843 das Gedicht »Die Lorelei« gewählt hatte. Mit diesem Geschenk, das sie mit der Widmung »An meinen lieben Mann / zum 8. Juni 1843« versah, setzte sie der zwei Jahre zuvor entstandenen Liszt-Vertonung ihre Interpretation entgegen.

Bekannter war seinerzeit Robert Schumanns Umsetzung des sogenannten »Rheinlieds« des Bonners Nikolaus Becker, das er als »patriotisches Lied« schon wenige Monate nach Erscheinen des Textes als Beitrag für einen Wettbewerb einreichte. Ferner konnte Brahms nicht entgangen sein, dass im März 1851 mit Erfolg Robert Schumanns Rheinische Sinfonie in Düsseldorf uraufgeführt worden war. Das im November 1850 im Rheinland entstandene Werk war schon bald zu seinem Beinamen gekommen, weil es bereits in einer Besprechung in der Rheinischen Musik-Zeitung hieß, es »entrolle ein Stück rheinisches Leben«. Ein Tagebucheintrag von Clara zeigt, dass sie die Es-Dur-Sinfonie »auch für den Laien« als »sehr leicht zugänglich« erachtete, wobei ihr nur der vorletzte, der vierte Satz, der die Eindrücke eines Besuchs des Kölner Doms schildert, »am wenigsten klar« vorkam, da er zwar »äußerst kunstvoll« geraten war, man ihm indes »nicht so recht folgen« konnte.86 Es ist durchaus wahrscheinlich, dass Joachim seinerzeit Brahms mit dieser aktuellen Sinfonie vertraut machte: Sie war 1851 vom Berliner Verleger Simrock veröffentlicht worden und überraschte mit bewusst verwendeten deutschen Tempobezeichnungen: »Lebhaft« (I), »Scherzo: Sehr mäßig« (II), »Nicht schnell« (III), »Feierlich« (IV) und »Lebhaft« (V) standen dort für die einzelnen Sätze statt der traditionell noch auf dem Programmzettel der ersten Aufführung verwendeten italienischen Angaben. Der ›Held‹ der Sinfonie war immerhin der bedeutendste deutsche Fluss. Tausende von Mitarbeitern waren gerade dabei, ihn um letztendlich fast 90 Kilometer zu verkürzen. Man nahm eine Begradigung vor, um eine gewisse Hochwassersicherheit zu erreichen sowie ihn schneller und auf eine längere Distanz schiffbar zu machen. Als das Orchesterwerk entstand, befand man sich gerade mitten in den Baumaßnahmen, die von 1817 bis 1876 dauerten. Parallel zu diesen Ereignissen gestaltete Robert Schumann eine Musik, die die Bürger bei ihren damaligen Projekten inspirieren konnte. Clara bewunderte, dass Robert schon immer viel Sinn für Symbolik besaß: So unterstützte er schon 1836 als Gründer und Herausgeber seiner in Leipzig erscheinenden Neuen Zeitschrift für Musik den Spendenaufruf für das Beethoven-Denkmal auf dem Bonner Münsterplatz; nicht zuletzt knüpfte die Rheinische Sinfonie mit fünf Sätzen auch an die Pastoral-Sinfonie des Rheinländers Beethoven an. Dieser Fluss war wesentlich für eine gemeinsame deutsche Identität: Schon seit dem 17. Jahrhundert gab es neuzeitliche Rhenus-Darstellungen und Skulpturen des ›Vater Rhein‹, der nicht zuletzt eine der wichtigsten Lebens- und Wirtschaftsadern im Lande wurde. Jede künstlerische Auseinandersetzung mit ihm stellte ein wichtiges Symbol für die Utopie eines vereinten Deutschlands dar, auf das zur Entstehungszeit der Sinfonie viele Menschen in den König- und Herzogtümern hofften. Johannes und Clara sollten 1871 die Staatsgründung noch erleben; Robert Schumann starb zuvor in der Fremde. Von wenigen kurzen Ausnahmen abgesehen, hatten die Schumanns ausschließlich in Sachsen gelebt, bevor sie ins Rheinland zogen. Dieses war nach dem Wiener Kongress in den größten Teilen des vormals französisch annektierten linken Rheinufers preußisch geworden. Viele Künstler hatten den Rheinmythos und damit oft indirekt die deutsche Einheit beschworen: Allen voran Clemens Brentano mit seinen von 1810 bis 1812 entstandenen vier Erzählungen Die Mährchen vom Rhein, die erst posthum 1846 veröffentlicht wurden, und Heinrich Heine mit seinem Versepos Deutschland – Ein Wintermärchen, das zwei Jahre zuvor herausgekommen war. »Franzosen und Russen gehört das Land, / Das Meer gehört den Britten, / Wir aber besitzen im Luftreich’ des Traums / Die Herrschaft unbestritten«, dichtete Heine und legte nahe, was die Menschen deutscher Zunge bisher nur in der Fantasie zuwege gebracht hatten: »Hier üben wir die Hegemonie, / Hier sind wir unzerstückelt; / Die andern Völker haben sich / Auf platter Erde entwickelt.«87

Heines Text wurde bald danach in Preußen verboten. Das Buch schildert nicht nur eine Wanderung von Paris nach Hamburg, es wurde auch in Brahms’ Geburtsort vom Verlag Hoffmann und Campe herausgegeben. Einem Mann wie Johannes Brahms, der von sich behauptete: »Ich lege all mein Geld in Büchern an, Bücher sind meine höchste Lust, ich habe von Kindesbeinen an soviel gelesen, wie ich nur konnte…«,88 wird so etwas selbst als Schuljunge nicht entgangen sein.

Mit seiner Tour präsentierte sich der junge Brahms bewusst anti-bürgerlich, denn für eine Wanderung entlang des imposanten, mythenumwobenen deutschen Flusses hatte kein Städter Zeit. Privat erwanderte niemand den Rhein damals zum Zeitvertreib – es sei denn, es war eine kulturpolitisch motivierte Erkundungstour! Die gut 240 Kilometer zwischen Mainz und Bonn größtenteils zu Fuß zurückzulegen, war seinerzeit nichts Besonderes, sofern man Arbeiter war. Brahms ließ es mit etlichen Abstechern und Besuchen ausgesprochen gemächlich angehen und benötigte etwa vier Wochen. Die Handwerksgesellen, die sich in Mitteleuropa zu Tausenden regelmäßig auf Wanderschaft begaben, legten täglich etwa 35 Kilometer zurück. In gewisser Weise näherte sich der passionierte Spaziergänger Brahms seinen Zielen mit den Gesellenstücken im Gepäck wie ein solcher Handwerker auf der Walz. Wie noch im 18. Jahrhundert war für den Verehrer von Mozart und Haydn die Musik ein Handwerk, bei dem es nur den Besten gelingen kann, unter mühevoller Arbeit hochwertige Kunstwerke herzustellen. Neben Beethoven gehörten diese beiden Komponisten auch zu den Idolen des fiktiven Kapellmeisters Johannes Kreisler, den E. T. A. Hoffmann Anfang des 19. Jahrhunderts in Werken auftreten ließ wie den zwölf »Kreisleriana« in Fantasiestücke in Callot’s Manier und einem Roman mit dem monumentalen Titel Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern. Den hingebungsvollen Leser Brahms mag an der Figur der gleiche Vorname angesprochen haben und dass ihr der Meister einen »Lehrbrief in den Sack« schob, den er »sämmtlichen musikalischen Gilden und Innungen als Passeport vorzeigen« konnte. Johannes Brahms und Hoffmanns fiktiver Johannes Kreisler wussten, wie es sich anfühlte, wenn man »diejenige Meisterschaft erlangt hat, welche nöthig ist, um ein schickliches gehöriges Lernen zu beginnen«: Man hatte das »Hörorgan so geschärft«, dass »bisweilen die Stimme des in Deinem Innern versteckten Poeten (um mit Schubert zu reden)« hervortrat. Diese Bemerkung bezog sich auf die 1814 in Hoffmanns Bamberger Verlag erstmals verlegte Schrift Die Symbolik des Traumes des Arztes und Pädagogen Gotthilf Heinrich von Schubert. Sie kam 1862 zwei Jahre nach dem Tod des Verfassers noch einmal heraus und gehörte zu den einflussreichsten Büchern des 19. Jahrhunderts. Noch Freud und Jung diente sie als Vorbild, insbesondere weil sie den Traum als eine Hieroglyphensprache darlegte, die es zu entschlüsseln galt. »Der Ton wohnt überall«, wird Kreisler bei Hoffmann eingeschärft, »die Töne, das heißt die Melodien, welche die höhere Sprache des Geisterreichs reden, ruhen nur in der Brust des Menschen. – Aber geht denn nicht, so wie der Geist des Tons, auch der Geist der Musik durch die ganze Natur? Der mechanisch affizirte tönende Körper spricht ins Leben geweckt sein Daseyn aus, oder vielmehr sein innerer Organismus tritt im Bewußtseyn hervor.«89 Das Geisterhafte faszinierte Robert Schumann, der nur wenige Monate darauf seinen Klavierzyklus Geistervariationen zu Papier bringen sollte. Brahms hielt sich vornehmlich an die Wahrnehmung seines Innersten und an die Natur. Erst 1861 verarbeitete er das Hauptthema Schumanns in seinen Variationen Opus 23 für Klavier zu vier Händen. In den 1850er-Jahren spukte er lieber selber irrlichternd durch seinen Bekannten- und Freundeskreis. Alle spielten noch mit, sofern es sich um literarische Scharaden handelte, beispielsweise wenn Brahms sich in Anspielung auf die etwa vierzig Jahre zuvor erschienenen Texte E. T. A. Hoffmanns in Notizen, Skizzen und Briefen nach dem skurrilen Kapellmeister Kreisler scherzhaft »der junge Kreisler«, »Johannes Kreisler junior« oder »Johannes Kreisler II.« nannte. Jeder wusste in jenen Jahren, wer gemeint war, wenn er einen Brief gelegentlich mit »Jean de Krösel le jeune« unterschrieb oder wenn Julius Otto Grimm Freunden mitteilte, »Br – Kr« sei gekommen oder »Kreisler und ich« hätten »viele herrliche Stunden mit ihr«, Clara Schumann, verbracht. Wollte Johannes mit den Anspielungen Clara imponieren und seine Belesenheit demonstrieren? Immerhin ahmte er damit eine Pose ihres Mannes Robert nach, der es sich als Gründer der Neuen Zeitschrift für Musik erlaubt hatte, widerstreitende Gedanken durch die Pseudonyme Florestan und Eusebius darzulegen. Nur wenige Monate später komponierte Johannes Variationen über ein musikalisches Thema von Schumann, von denen einige mit Namenskürzeln am Ende gekennzeichnet sind: So unterzeichnete er die Variationen 4, 7, 8, 14 und 16 mit »B« für Brahms sowie die Variationen 5, 6, 9, 12 und 13 mit »Kr« für Kreisler – die einen innig, die anderen kapriziös-kess. Johannes meinte gegenüber seinem Verleger, dass er »die Variationen für das Beste halte, was ich bis jetzt geschrieben«90 habe und ahnte gewiss, dass er Clara damit die Dialektik seines Wesens offenlegte. Sie wusste nur zu gut: Der Künstler als öffentliche Person und der Künstler als Mensch war nicht ein- und dieselbe Person. Das Verbergen der Identität hinter literarischen Namen oder Phantasiebezeichnungen war eine im 19. Jahrhundert keineswegs ungewöhnliche Praxis – Wagner publizierte als Karl Freigedank, Mary Anne Evans als George Eliot und Prosper Mérimée als Clara Gazul. Die Kreisler-Attitüde von Brahms war die verspielte Variante eines antibürgerlichen Aktionismus, der sich im 19. Jahrhundert mit der zunehmenden Politisierung der Gesellschaft zu einem immer größer werdenden Problem auswuchs. Die vielfach überschätzte »révolution française« von 1789 war ein lokal begrenztes, von Gewalt dominiertes Ereignis, das nur allzu rasch in Revolutionsverbrechen und Diktatur mündete. Dennoch wurde sie von vielen Intellektuellen genauso naiv glorifiziert wie über hundert Jahre später die brutale Revolution in Russland. Büchner übernahm 1835 in seinem Drama Dantons Tod zu Recht ein Zitat, das ein Anwalt bereits 1793 formuliert hatte: »Die Revolution ist wie Saturn, sie frißt ihre eigenen Kinder.«91 Dennoch kultivierten etliche kluge Köpfe später lediglich die Positives verheißenden Schlagworte und unterschlugen den Terror. Ihre bis zur Parodie überstrapazierten Parolen gingen im Kern zurück auf die dreizehn Jahre zuvor viel subtiler formulierte Unabhängigkeitserklärung der USA: Jenem einem Kontinent gleichen Land, in dem Clara Schumanns Freundinnen Emilie und Elise List einige Jahre gelebt hatten. Ihre Tochter Elise würde später dorthin ziehen; sie selbst erhielt Einladungen für Tourneen; Brahms’ Opus 16 erklang dort früher als in Wien oder London und sein Opus 8 wurde in New York sowie das Opus 36 in Boston uraufgeführt.

Clara wuchs in einem Zeitalter der Restauration traditioneller Werte auf, Johannes kam hingegen kurz nach der viel folgenreicheren Julirevolution von 1830 zur Welt, »Les Trois Glorieuses« genannt. Sie führte am 27., 28. und 29. Juli 1830 zur Beseitigung der Bourbonenherrschaft in Frankreich und zu einer viel stärkeren Geltung des Bürgertums. Auch die deutschsprachigen Länder zeigten sich davon nicht unbeeindruckt: Ereignisse wie das Hambacher Fest im Sommer 1832 sowie die Unruhen 1847/48 bildeten unter etlichen Widerstandsaktionen nur die Gipfelpunkte der Opposition. Die Machtverhältnisse verschoben sich. Während das Bürgertum sich immer wichtiger und vornehmer gab, wies man dem Adel zunehmend eine Repräsentationsrolle zu. Allerdings blieben seine Lebensweise und seine Kultiviertheit stilprägend. »Keine Gesellschaft kann ohne eine Aristokratie bestehen«, erklärte 1836 ein französischer Parlamentsabgeordneter. »Wollen Sie wissen, wer die Aristokraten des Julikönigtums sind? Die Großindustriellen; sie sind das Fundament der neuen Dynastie.«92 Diese Entwicklungen strahlten auch auf andere Länder aus. Was Künstler zunehmend in Gewissenskonflikte brachte, war die Diskrepanz, nach Autonomie zu streben und zugleich vom Besitzbürgertum abhängig zu sein.

Anstatt für die Blaublütigen wurde die Kunst nun für den Geldadel zunehmend zum schmückenden Beiwerk, bei dem alles vom staatstragenden Auftrumpfen bis hin zur Hofnarrenfunktion und charmanten Enfant-terrible-Provokationen goutiert wurde. Hoffmanns Kreisler-Figur mutierte zum Modell des wie besessen Schaffenden: »Zuweilen komponirte er zur Nachtzeit in der aufgeregtesten Stimmung; – er weckte den Freund, der neben ihm wohnte, um ihm alles in der höchsten Begeisterung vorzuspielen, was er in unglaublicher Schnelle aufgeschrieben – er vergoß Thränen der Freude über das gelungene Werk – er pries sich selbst als den glücklichsten Menschen, aber den andern Tag – lag die herrliche Komposition im Feuer.«93 Das Kunstwerk sollte perfekt werden, nicht der Erfolg, den man damit errang. Die Schumanns und Johannes Brahms schätzten auch die Malerei und kannten einige Künstler persönlich. Dabei konnten sie beobachten, dass es in anderen Kunstbereichen ähnliche Konflikte gab: Viele Literaten, Maler und Musiker setzten Bürger mit Philistern gleich und erklärten ›Bourgeoisie‹ zum Schimpfwort. »Drei Dinge entehren den Schriftsteller«, soll Guy de Maupassant gesagt haben: »La Revue des deux mondes, die Légion d’honneur und die Académie française.«94 Selbst ein Mustermusikus wie Kreisler war abhängig von einem ihm wohlgesonnenen Publikum – ebenso wie eine Clara Schumann und ein Johannes Brahms. Clara katapultierte sich nach einem ausgeklügelten Reiseplan mit den schnellstmöglichen Verkehrsverbindungen nicht nur durch deutschsprachige Lande und gab allein 1853 – in dem Jahr, als sie Johannes kennenlernte – Konzerte in Barmen, Köln, Bonn, Düsseldorf, Utrecht, Den Haag, Rotterdam und Amsterdam. All dies tat sie in dem ständigen Bewusstsein, nicht verstanden zu werden. »Ich spielte nicht frisch«, urteilte sie einmal nach Auftritten, »die Leute fanden es aber herrlich; wie wenig verstehen die Menschen einen feineren Unterschied.«95 Das Präsentieren großartiger Musik machte Clara »doch Freude«, wenn sie auch – nach eigenem Bekunden – »sonst ziemlich gleichgültig gegen Publikum« war.96