Kitabı oku: «"... es ist ein zu starker Contrast mit meinem Inneren!"», sayfa 5

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Das aufstrebende Bürgertum war indes besser als sein Ruf, selbst wenn das Bild bis zur Karikatur verzerrt wurde von seinen stets wechselnde Posen einnehmenden Verächtern, von den cholerisch Bourgeoisophoben wie Émile Zola bis hin zu seinen publizistisch einflussreichen Hassern wie Karl Marx. Die Länder Mitteleuropas hätten nie die medizinischen, juristischen, technischen und gesellschaftlichen Fortschritte gemacht, die das 19. Jahrhundert auszeichnen, ohne die Empathie, die Wissbegierde, den Einfallsreichtum und die Strebsamkeit des Bürgertums, die alle inspiriert wurden durch das Verständnis für kulturelle Werte. Das Publikum für die Kunst von Clara und Johannes rekrutierte sich vor allem aus der großen Gesellschaftsschicht des Bürgertums und der kleineren des Adels. Mit der Zeit wurde beiden klar, dass ihre moderate Haltung im kulturaffinen Bürgertum verbreitet war. So umschrieb der Historiker Jacob Burckhardt in einem Brief an die Salonnière und Komponistin Johanna Kinkel treffend die Einstellung vieler Gipfelstürmer: »… alles will Neu sein, aber auch nichts weiter.«97 Für eine nachhaltige Vermittlung von Kunst muss man nicht die Brechstange ansetzen, sondern situationsgerecht mit feinerem Besteck zu Werke gehen. Die Aufmerksamkeit des Publikums ist allemal gegeben: Wenn Beobachter den Eindruck hatten, man lausche der Musik »wie die Gemeinde in einer Kirche«,98 so hing dies nicht mit dem kunstreligiösen Anspruch von Liszt und Wagner zusammen, sondern mit einem von der Philosophie inspirierten bürgerlichen Ethos. Senecas Leitlinie »Res severa est verum gaudium« (Eine mit Ernst betriebene Sache gewährt wahre Freude) war seit 1780 der Wahlspruch des Gewandhauses in Leipzig. Man konnte ihn am früheren Gebäude schon von außen unter dem Giebel lesen. In dem Gewandhaus, das Clara und Johannes erlebten, war er im Saal in den höchsten Fries der gerundeten Schmalseite über dem Orchester eingebracht.

Thomas Mann, zwanzig Jahre lang ein Zeitgenosse von Clara und Johannes, brachte die Situation des Künstlers in der Sphäre der aufstrebenden Bürgerschichten auf den Punkt. Das Dilemma des Verhältnisses von Künstler und Bürgertum bündelte er in seinem Roman Tonio Kröger in die Klage: »Ich stehe zwischen zwei Welten, bin in keiner daheim.«99 Diese Diskrepanz dürften beide gespürt haben. Sie erlebten, wie die einen das Bürgertum bloßstellen wollten und der Kreis um Robert Schumann es vor allem im Lied und in der Kammermusik mit seiner psychischen Befindlichkeit konfrontierte. Die Poesie, die man dafür auswählte, dürfte nicht nur Clara tief berührt haben. Für Thomas Mann gehörten Lieder wie Brahms’ »Die Mainacht« sowie Schumanns »Mondnacht« und »Zwielicht« als »Seelenwunder und Kleinod« sowie »Perle der Perlen« zum Schönsten überhaupt.100

Die vierwöchige Tour entlang des Rheins bot Johannes viel Zeit zum Nachdenken. Dabei kam er auch durch Orte, in denen Clara bereits Konzerte gegeben hatte. In 10- bis 20-Kilometer-Etappen durchstreifte er von Mainz aus Naturschönheiten und Stätten der Historie. Der kommende Arrangeur von Volksliedern und Kenner der Dichtkunst erlebte bei seinen Wanderungen die deutschsprachigen Landstriche wie kaum ein anderer Komponist seiner Zeit. Tagesetappen führten ihn über Biebrich, Schierstein, Eltville, Erbach, Oestrich, Mittelheim, Winkel und Johannisberg nach Geisenheim, wo er übernachtete. Dieser kleine Ort wurde 772 erstmals urkundlich erwähnt und steht mit Karl dem Großen und Hartmann von Aues mittelalterlicher Dichtung Der arme Heinrich in Verbindung, die im 19. Jahrhundert neue Aufmerksamkeit fand. Jahre später zog Johannes Brahms das erst 1883 eingeweihte Niederwalddenkmal erneut in die Region. Vorerst setzte er in Rüdesheim mit der Fähre über nach Bingen, mit dem der Name der Äbtissin Hildegard von Bingen verknüpft ist, und bewunderte die Burg Rheinstein, bevor er sich in Trechtingshausen ein Quartier suchte. Historisches, Mythologie, Literarisches, Flusstäler mit Burgen, Auen, Felder, Wälder, Ruinen, Schlösser, Vergangenes und Gegenwärtiges fand Johannes allenthalben auf seiner Wegstrecke. Die Themen seiner zahlreichen Chorstücke, 20 Duette, 60 Quartette und 195 Sololieder, die in 32 Liedersammlungen erschienen, bieten ein Abbild der Erfahrungen und Gedanken seiner zahllosen Wanderungen durch einige der schönsten Regionen Europas. Dass er in Karl Simrocks Gedicht »Auf dem See«, dem zweiten Lied seines Opus 59, die Zeilen »Also spiegle du in Liedern / Was die Erde Schönstes hat« vertonte, erscheint geradezu programmatisch. Hermann Allmers’ »Feldeinsamkeit« (op. 86, Nr. 2) mit der »wundersam umwobenen« Himmelsbläue wird zu einer Reflexion über die Ewigkeit und Clemens Brentanos »O kühler Wald« (op. 72, Nr. 3) zum Nachsinnen über seelische Schmerzen.

Die Wanderung zu den Schumanns führte den Hanseaten durch Gebiete, die Clara und ihr Mann schon lange vor ihm erkundet hatten. Sie brachte ihn nicht nur in Verbindung mit seinem eigenen Selbst, sondern auch mit Regionen und deren Geschichte, die für eine in viele Kleinstaaten zersplitterte Sprachengemeinschaft identitätsstiftend waren. Am 7. September 1853 erreichte Johannes in der Mehlemer Aue die Sommervilla der Bankiersfamilie Deichmann. Von hier aus unternahm er Ausflüge mit dem Rheindampfer und nutzte die Ratschläge von Joseph Joachim, um sich bei einflussreichen Persönlichkeiten vorzustellen.

Meriten, Musik und Merkantiles

Empfehlungsschreiben führten Brahms in Kreise, die auch die Schumanns für ihre Arbeit benötigten: Ausübende Musiker, um sich über die Kunst auszutauschen; wohlhabende Kulturfreunde, die Projekte förderten, und Institutionen, die Aufführungen realisieren konnten.

Der Mendelssohn-Schüler und spätere Schumann-Biograf Wilhelm Joseph von Wasielewski, mittlerweile Chorleiter in Bonn, freute sich im September 1853 über »den Besuch eines schmucken, blondhaarigen Jünglings« und erinnerte sich, dass er ihm »eine Visitenkarte Joachims überbrachte, auf deren Rückseite sich das humoristisch abgefaßte Signalement des jungen Ankömmlings befand«. Er nahm Johannes für einige Tage bei sich auf, dessen »frisches, natürlich ungezwungenes Wesen« ihm gefiel. Als aufgeschlossener Künstler nahm er keinen Anstoß daran, dass der hochtalentierte Musiker »den Wanderstab in der Hand, ein Ränzel auf dem Rücken tragend« bei ihm aufkreuzte.101

Allerdings hätte Johannes so verschwitzt und abgerissen kaum den Schumanns unter die Augen treten können. Den nötigen Schliff bekam er in Mehlem im kultur- und gastfreundlichen Hause des Kommerzienrates Wilhelm Ludwig Deichmann. Dieser war in Köln Leiter und Teilhaber des Handels- und Bankhauses A. Schaaffhausen’scher Bankverein und gründete vier Jahre später analog zu der Amsterdamer Bank seines Bruders in Köln das Bankhaus Deichmann & Co. Er habe Beziehungen bis in die höchsten Zirkel, hieß es, ja, bis hinauf zum preußischen Thron. Sein Landgut auf der Mehlemer Au am linken Rheinufer gegenüber von Königswinter strahlte etwas Aristokratisches aus. Innerhalb der Mauern seines Sommersitzes musizierten die angesehensten Künstler der Region, in deren Kreis Brahms rasch akzeptiert wurde. Der Pianist und Dirigent Franz Wüllner beschrieb Brahms als jemanden, dem »Energie und Geist aus den Augen blitzten«. Von dessen Kompositionen – darunter die frühen Klaviersonaten und Lieder – waren Wüllner und andere junge Musiker »sofort entzückt und begeistert«.102

Johannes entflammte für die Bibliothek der Deichmanns, die prall gefüllt war mit literarischen und wissenschaftlichen Publikationen. Zudem lernte er auch etliche Werke von Robert Schumann kennen, wobei er sich eingestehen musste, dass die Vorbehalte seines Lehrers Marxsen unbegründet waren und Louise Japha mit ihrer Schwärmerei für diese Musik doch recht hatte. Sie studierte mittlerweile bei Clara Schumann. Wenn sie akzeptiert worden war, warum sollte er diesmal abgewiesen werden? Immerhin hatte er mittlerweile viel an Erfahrung hinzugewonnen.

Johannes sah sich gezwungen, allen Mut zusammenzunehmen und es direkt bei den Schumanns zu versuchen. Er ahnte nicht, wie schwer die Prüfung war, die ihm bevorstand. Selbst als sie Joseph Joachim schon einige Jahre kannte, hegte die überaus kritische Clara Schumann noch immer Zweifel, denn »so entzückt aber alle von ihm sind, so will er uns doch gar nicht erwärmen«. Wie seinerzeit üblich, hatte man im privaten Kreis eines Abends in Leipzig gemeinsam musiziert: Clara spielte eine Sonate von Bach und Joachim trug Mendelssohns Violinkonzert vor, wobei am Klavier der Orchesterpart simuliert wurde. »Sein Spiel ist vollendet, alles schön, das feinste Pianissimo, die höchste Bravour, völlige Beherrschung des Instrumentes, doch das, was einen packt, wo es einem kalt und heiß wird, das fehlt«, notierte sie im Tagebuch über den 19-jährigen Geiger, denn »es ist weder Gemüt noch Feuer in ihm, und das ist schlimm, denn ihm steht keine schöne künstlerische Zukunft bevor, technisch ist er vollkommen fertig, das andre, wer weiß, ob das noch kommt?! – Er ist übrigens ein lieber, bescheidener Mensch, und eben deshalb tut mir’s doppelt leid, daß ich von ihm als Künstler nicht mehr entzückt sein kann.«103 Johannes ahnte gar nicht, wie hoch die Messlatte erst für unbekannte Klavierspieler lag.

Liebe auf den ersten Ton

Brahms brauchte Hartnäckigkeit. Zunächst klopfte er im falschen Augenblick bei der Wohnung der Schumanns an. Eine der Töchter ließ ihn wissen, die Eltern seien gerade ausgegangen und er würde am nächsten Tag gegen Mittag mehr Glück haben. Robert Schumann verzeichnete in seinen Tagebüchern statistisch nüchtern das Aufsuchen und das Kennenlernen mit einem kurzen Erinnerungsvermerk:

»30. Sept. Hr. Brahms a. Hamburg.«

»1. Oct. Das Concert für Violine beendigt. Brahms zum Besuch (ein Genius).«104

Clara Schumanns private Eintragungen fielen erheblich enthusiastischer aus. »Dieser Monat brachte uns eine wunderbare Erscheinung in dem 20jährigen Komponisten Brahms aus Hamburg«, schrieb sie. »Das ist wieder einmal einer der kommt wie eigens von Gott gesandt!«105 Wieder einer? Clara begeisterte sich für jeden, der den Ideen ihres Mannes offen gegenüberstand. Und Robert Schumann war als Gründer und ehemaliger Herausgeber einer Musikzeitschrift sowie als leitender Dirigent der Ansprechpartner für viele junge Talente. Die meisten der von ihm protegierten Künstler konnten die in sie gesetzten Erwartungen auf Dauer nicht erfüllen. Doch bei Johannes Brahms lag eine ganz andere Chemie in der Luft. »Er spielte uns Sonaten, Scherzos etc. von sich, alles voll überschwänglicher Phantasie, Innigkeit der Empfindung und meisterhaft in der Form«, erinnerte sich Clara. Ihr war, als hätte ihn »der liebe Gott gleich so fertig auf die Welt gesetzt«. Selbst »Robert meint, er wüßte ihm nichts zu sagen, das er hinweg- oder hinzutun solle«. Für Clara war es »wirklich rührend, wenn man diesen Menschen am Klavier sieht mit seinem interessant jugendlichen Gesichte, das sich beim Spielen ganz verklärt, seine schöne Hand, die mit der größten Leichtigkeit die größten Schwierigkeiten besiegt (seine Sachen sind sehr schwer), und dazu nun diese merkwürdigen Kompositionen«. Die Musik, die Johannes im Gepäck und im Kopf mit sich führte, hatte sich größtenteils schon in Hannover, Weimar und im Rheinland bewährt: Klaviersonaten in C-Dur und fis-Moll sowie Lieder auf Texte von Hoffmann von Fallersleben und Eichendorff. Claras Einschätzung: »Eine schöne Zukunft steht Dem bevor, denn wenn er erst für Orchester schreiben wird, dann wird er erst das rechte Feld für seine Phantasie gefunden haben!«106 deckte sich mit Roberts Eindruck, dass Brahms’ Sonaten »mehr verschleierte Symphonien« seien.107

In den folgenden Tagen traf man sich spätestens ab »Nachmittags um 5« regelmäßig zum Gedankenaustausch und zum Musizieren. Gemeinsam wurden einander Märchen und Gedichte vorgelesen, darunter zeitgenössische Poeten wie Christian Friedrich Scherenberg und Titus Ullrich. Johannes lernte Werke der Schumanns kennen, aber wenn »Musik bei uns« auf dem Programm stand, spielte man gemeinsam Bach, lauschte aber auch gerne, wenn der Gast, so Clara, »sehr eigentümliche ungarische Volkslieder« sowie seine eigenen Ideen zum Besten gab: Darunter neben den Sonaten und einem Scherzo auch eine Fantasie für Klavier, Violine und Violoncello – für Clara »ein merkwürdiges jugendlich wildes Stück« –, Lieder, ein Quartett sowie eine Sonate für Violine und Pianoforte. Zwar sei der Klang der Instrumente »hier und da nicht immer ganz ihrem Charakter angemessen«, meinte Clara, »doch das sind eben Kleinigkeiten im Vergleich zu seiner reichen Phantasie und Gemüt«.108

Robert Schumann bedankte sich bei Joachim, dass er Johannes ermutigt hatte, zu ihm zu kommen. Dieser Brahms sei jemand, der »die größeste Bewegung in der musikalischen Welt hervorrufen wird«, schrieb er ihm.109 Souverän entgegnete der Dirigent und Stargeiger, er »liebe Brahms zu sehr, um ihn zu beneiden«.110 Wenige Tage später nutzte er eine Gelegenheit, um selbst in Düsseldorf vorbeizuschauen, zumal Robert Schumann gerade ein für Clara lediglich »höchst interessantes« Violinkonzert fertiggestellt hatte, das er unverzüglich kennenlernen wollte.

Johannes musste nicht nur die Erwachsenen von sich überzeugen. Clara und Robert hatten sechs Kinder zwischen zwei und zwölf Jahren. Den Älteren konnte er mit seinen intellektuellen Scharaden und den Anspielungen auf »Kreisler« Respekt abnötigen. Die Jugend beeindruckte er mit seinem Schabernack und seiner Akrobatik. Claras Tochter Eugenie berichtete, dass man im Flur der Düsseldorfer Wohnung staunend beobachtete, wie Johannes alle mit »halsbrecherischsten Turnübungen« verblüffte: Er »schwingt sich von rechts nach links, hinauf, hinab; schließlich stemmt er beide Arme fest auf, streckt die Beine hoch in die Luft und springt mit einem Satze hinunter, mitten hinein in die bewundernde Kinderschar«.111 Er neckte, stichelte, spöttelte, reizte. Doch sobald seine Eulenspiegeleien, und sei es beim Herumalbern, persönlich wurden, ließen viele, mitunter auch Clara, den erforderlichen Humor vermissen. Von einem charakteristischen spontanen Brahms-Kommentar berichtete sein späterer Freund Richard Heuberger, selbst Komponist einer von Hans Richter uraufgeführten Sinfonie und mehrerer Opern: Als er erfuhr, dass die Gattinnen des Autors Kalbeck und des Pianisten Epstein am Vortag in einen heftigen Streit geraten waren, fragte Brahms Amélie Epstein: »Ich höre, Sie haben gestern Bruderschaft mit Frau Kalbeck getrunken.«112 Bei den Erwachsenen stießen seine Tollereien mitunter auf Missbilligung. Allerdings war alles vergeben und vergessen, sobald sich Johannes ans Klavier setzte. »Brahms spielt besonders schön«, notierte Robert Schumann und Clara präzisierte, er »ergriff uns alle (ich hatte es einigen Schülerinnen und Frl. Leser gesagt) aufs Tiefste«.113

Die Bürde der Anerkennung

Nur zwei Wochen nach dem Kennenlernen begann Robert Schumann mit einem Zeitungsbeitrag, um Johannes Brahms zu Bekanntheit zu verhelfen. Robert hatte seine Tätigkeit als Herausgeber der im April 1834 in Leipzig von ihm mitbegründeten Neuen Zeitschrift für Musik lange aufgegeben. Im Oktober 1853 besaß er aber immer noch genügend Autorität, um jederzeit einen Leitartikel lancieren zu können.

In einer der ersten Ausgaben hatte er postuliert, es gelte »die alte Zeit und ihre Werke anzuerkennen« und »eine junge, dichterische Zukunft vorzubereiten, beschleunigen zu helfen«.114 Als er zehn Jahre nach der Gründung nach Dresden übersiedelte, übergab er die Leitung an seinen Mitarbeiter Oswald Lorenz, einen unverheirateten Musiklehrer, dem er seinen Liederzyklus Frauenliebe und -leben gewidmet hatte. Als Lorenz Ende 1844 als Gesangslehrer und Organist nach Winterthur zog, kaufte der Musikgelehrte Franz Brendel die Zeitung kurzerhand. Der Sohn eines bedeutenden sächsischen Bergbautechnikers und Maschinendirektors schwang sich damit ab dem 1. Januar 1845 für nahezu ein Vierteljahrhundert zum verantwortlichen Chefredakteur auf.

Claras Vater Friedrich Wieck hatte bei der Anbahnung des Geschäfts die Hände im Spiel, weil es ihm wahrscheinlich durchaus recht war, dass Brendel das Magazin keineswegs im Schumannschen Sinn weiterführen wollte. Sobald der ungeliebte Schwiegersohn nicht mehr das Sagen hatte, veröffentlichte Wieck in der Neuen Zeitschrift für Musik ab 1846 etliche Beiträge zur Musikpädagogik. Brendel ließ er wissen, er »arbeite gleich aus dem ganzen, äußerst feurig u. hitzig«.115 Clara Schumann bewies einen sicheren Instinkt, als sie sich 1843 nicht dafür einspannen ließ, zu Vorträgen Brendels die Musikbeispiele zu präsentieren und meinte, »ein musikalischer Philosoph der Art sey ein Häufchen Unglück«.116 Welch unliebsame Entwicklung dieses Publikationsorgan nehmen sollte, erkannten die Schumanns spätestens im September 1850: Unter dem Titel »Das Judenthum in der Musik« – so die originale Schreibweise – erschien ein unter dem Pseudonym »K. Freigedank« anonym verfasster Artikel, in dem gegen den drei Jahre zuvor verstorbenen Freund Felix Mendelssohn Bartholdy gehetzt wurde.117 Dieser Tendenz, die »Zukunft vorzubereiten«, wollte Robert Schumann etwas entgegensetzen.

Am 28. Oktober 1853 erschien sein Beitrag über Johannes Brahms als den kommenden Mann der deutschen Musik unter dem ambitionierten Titel »Neue Bahnen« auf der Titelseite der Neuen Zeitschrift für Musik.118 Bereits in der Einleitung erinnerte Robert Schumann daran, dass er als jemand, der sich jahrelang »der früheren Redaktion dieser Blätter widmete«, eine qualifizierte Instanz für diesbezügliche Prophezeiungen sei. Er formulierte sein Anliegen in einer für das 19. Jahrhundert durchaus üblichen rhetorischen Weitschweifigkeit, die mit mythologischen Anspielungen durchsetzt wurde. Man warte auf einen »Auserwählten«, hieß es, der »uns die Meisterschaft nicht in stufenweiser Entfaltung brächte, sondern, wie Minerva, gleich vollkommen gepanzert aus dem Haupte des Kronion entspränge«. Er kündigte an, dass nun »ein junges Blut« gekommen sei, »an dessen Wiege Grazien und Helden Wache« hielten: »Er heißt Johannes Brahms, kam von Hamburg, dort in dunkler Stille schaffend, aber von einem trefflichen und begeistert zutragenden Lehrer gebildet in den schwierigsten Satzungen der Kunst, mir kurz vorher von einem verehrten bekannten Meister empfohlen. Er trug, auch im Aeußeren, alle Anzeichen an sich, die uns ankündigen: das ist ein Berufener. Am Clavier sitzend, fing er an wunderbare Regionen zu enthüllen. Wir wurden in immer zauberischere Kreise hineingezogen. Dazu kam ein ganz geniales Spiel, das aus dem Clavier ein Orchester von wehklagenden und lautjubelnden Stimmen machte. Es waren Sonaten, mehr verschleierte Symphonien, – Lieder, deren Poesie man, ohne die Worte zu kennen, verstehen würde, obwohl eine tiefe Gesangsmelodie sich durch alle hindurchzieht, – einzelne Clavierstücke, theilweise dämonischer Natur von der anmuthigsten Form, – dann Sonaten für Violine und Clavier, – Quartette für Saiteninstrumente, – und jedes so abweichend vom andern, daß sie jedes verschiedenen Quellen zu entströmen schienen. Und dann schien es, als vereinigte er, als Strom dahinbrausend, alle wie zu einem Wasserfall, über die hinunterstürzenden Wogen den friedlichen Regenbogen tragend und am Ufer von Schmetterlingen umspielt und von Nachtigallenstimmen begleitet.« Schumann krönte seinen Artikel mit einer Aussage, die für Johannes Brahms mehr Gefahren barg, als ihm nützten konnte: »Wenn er seinen Zauberstab dahin senken wird, wo ihm die Mächte der Massen, im Chor und Orchester, ihre Kräfte leihen, so stehen uns noch wunderbarere Blicke in die Geheimnisse der Geisterwelt bevor. Möchte ihn der höchste Genius dazu stärken, wozu die Voraussicht da ist, da ihm auch ein anderer Genius, der der Bescheidenheit, innewohnt. Seine Mitgenossen begrüßen ihn bei seinem ersten Gang durch die Welt, wo seiner vielleicht Wunden warten werden, aber auch Lorbeeren und Palmen; wir heißen ihn willkommen als starken Streiter.« Die »Lorbeeren« waren durchaus wörtlich zu nehmen, denn es war eine im 19. Jahrhundert übliche Praxis, bei Jubiläen oder als Dankesbezeugung bei herausragenden Leistungen auf dem Konzertpodium, öffentlich individuell dekorierte Teller, Pokale oder Lorbeerkränze zu überreichen.

Wie Fußnoten zu seinem Artikel belegen, war sich Robert Schumann darüber im Klaren, dass vorerst die Brahmsschen »Productionen mehr einem engeren Kreise bekannt sind«. Hierzu zählte er Musiker wie Joseph Joachim, Ernst Naumann, Ludvig Norman, Woldemar Bargiel – Claras Stiefbruder –, Theodor Kirchner, Julius Schäffer, C. [sic, D.] F. Wilsing und Albert Dietrich; meinte aber, es seien »als rüstig schreitende Vorboten« zudem Niels W. Gade, C. A. Mangold, Robert Franz und St. Heller zu nennen. »Es waltet in jeder Zeit ein geheimes Bündnis verwandter Geister«, schrieb Schumann und wünschte sich: »Schließt, die Ihr zusammengehört, den Kreis fester, daß die Wahrheit der Kunst immer klarer leuchte, überall Freude und Segen verbreitend.«

Nur wenige Seiten später verabreichte Franz Brendel das Gegenmittel zu dem Beitrag, den er sicherlich mehr aus Respekt gegenüber dem Gründer als aus Neigung aufgenommen hatte. In einem Konzertbericht aus Karlsruhe würdigte man, wie (der konvertierte jüdische Musiker) Joseph Joachim für seinen »Vortrag der Bach’schen Chaconne für Violine solo« einen »wahren Beifallssturm« erntete, und vermerkte wohlwollend, dass er sie »ohne die Mendelsohn’sche Clavierbegleitung« vortrug, »was auch wir für das Bessere und Richtigere halten«. Im gleichen Konzert präsentierte der Wagner-Apologet Hans von Bülow als Pianist Liszts Fantasie für Klavier und Orchester über Beethovens »Ruinen von Athen«. Dieses Werk wurde gepriesen als »ein Product der neuen Kunstrichtung«, denn es war »ganz geeignet, die Claviertechnik und Compositionsart unserer Zeit in ihrer charakteristischen Eigenthümlichkeit zu zeichnen«.119 In Brendel fand Liszt einen Gesinnungsgenossen in der Publizistik: Mögen die anderen auch »hin und her Recensionen spucken«, so »schreiten wir unserentheils rüstig und besonnen voran«, schrieb er »in aufrichtiger Freundschaft und Ergebenheit« nach Leipzig.120 Die Fronten waren abgesteckt.