Kitabı oku: «Schweizerspiegel», sayfa 11
Sie kamen am Ende der Budenstadt auf den freien Platz zwischen Festhütte und Schießstand. Dieser Platz war zum größten Teil von Schützen belebt, die sich von den Festbummlern deutlich unterschieden, obwohl die meisten ihre Gewehre eingestellt hatten. Sie wechselten, Resultate überzählend und einander vorweisend, lachend, unternehmungslustig oder schimpfend zwischen Stand und Hütte hin und her, einige in grauen Überhemden, viele ohne Kragen, während manche, Schatten und Ruhe suchend, sich ohne Rock dem Stand entlang in den Rasen gelagert hatten. Die Brüder beschlossen, nun sogleich zum Mittelpunkt des Festes vorzudringen, und betraten den Schießstand, ein älteres, mit einem Türmchen versehenes Holzgebäude, das durch zwei neu angebaute niedere Flügel erweitert worden war. Sie hatten als bloße Zuschauer beim Eintritt eine Karte zu lösen, die Fred hinter das Hutband steckte, während Paul sie in der Tasche verschwinden ließ. Im Innern des Standes, wo die Schüsse nicht mehr das draußen hörbare trockene Geknatter, sondern ein hallendes Krachen hervorriefen, standen die Schützen dicht gedrängt hinter den Gewehrrechen; zwischen ihren Köpfen hindurch gewahrte man in der Entfernung von dreihundert Metern die lange Reihe der beweglichen Scheiben, auf denen da und dort Zeigerkellen erschienen, doch von den Schießenden selber war hinter der geschlossenen Menge nur wenig zu sehen.
Die Brüder suchten eine Lücke und schritten den Stand nach beiden Seiten hin ab, wobei sie fortwährend ausweichen mußten oder beiseite geschoben wurden. Im rechten Flügel stießen sie auf ihren Vetter Christian, der, eine grüne Rosette am Rockaufschlag, zur Wand der Wartenden hinausdrängte und einem der Büros zustrebte, die sich hinter Verschlägen an der Rückseite des Raumes befanden.
«Einen Augenblick!» sagte Christian, nachdem er kaum recht genickt hatte, und verschwand hinter einer Tür, um nach einiger Zeit wieder zu erscheinen und seine städtischen Vettern kurz zu begrüßen. «Ich habe noch Schießaufsicht, aber in einer halben Stunde werde ich abgelöst», erklärte er sehr ernsthaft, mit beschäftigter Miene. «Wollen wir uns in der Festhütte treffen?» In diesem Augenblick wandten sich in der Nähe, beim Gewehrrechen, ein paar Schützen um und riefen: «Schießkomitee! Schießkomitee!»
«Also in einer halben Stunde beim Eingang der Festhütte!» sagte Christian hastig und schob sich, dem Rufe folgend, eilig durch die Reihen.
Paul blickte in diesem Gedränge, Lärm und fortwährenden Krachen kopfschüttelnd den Bruder an, als ob ihm das alles unfaßbar wäre, und winkte mit der Rechten müde ab, aber auch Fred fand kein Vergnügen mehr an diesem Aufenthalt.
Sie verließen den Stand, bummelten noch ein wenig und setzten sich zur verabredeten Zeit mit ihrem Vetter endlich in der Festhütte an einen der langen, mit weißem Papier bespannten Tische. Fred bestellte eine Flasche Wein. Durch den hohen Hüttenraum, der gegen dreitausend Personen fassen mochte, dröhnte von der Bühne herab Rossinis Ouvertüre zum «Wilhelm Tell»; das Gastkonzert der städtischen Kapelle war in vollem Gang. In den Pausen verursachte der Lärm der zahlreichen Gäste ein betäubendes Summen. Es war brütend heiß.
«Paul ist nämlich als Pressevertreter da», erklärte Fred. «Es kommt alles in die Zeitung, was da läuft.»
Paul warf seinem Bruder schweigend einen kurzen, spaßhaft geringschätzigen Blick zu, während Christian mit einem leisen, vorsichtigen Lächeln Paul ansah, den er mehr aus dem Familienklatsch als aus eigener Erfahrung kannte.
«Das ist ja übrigens ein höllischer Betrieb», fuhr Fred fort. «Also wie lange dauert das Fest?»
«Zehn Tage», antwortete Christian, während er wieder eine sachlich ernste Miene annahm. «Es hat am Freitag begonnen. Aber ein solcher Betrieb ist natürlich nicht an jedem Tag.»
«Ja, aber geschossen wird doch zehn Tage lang von morgens bis abends auf alle sechzig Scheiben?»
Christian nickte.
«Wieviele Sektionen sind eigentlich angemeldet?»
«Hundertdreißig und rund vierhundertvierzig Gruppen, zusammen etwa viertausend Mann. Dazu kommen noch die Einzelschützen, die nicht angemeldet sind.»
«Und wie hoch ist die Plansumme?»
«Zweihunderttausend Franken.»
«Zwei-hundert-tausend? Die Plansumme», erklärte Fred, zu Paul gewandt, «ist nämlich der voraussichtliche Umsatz beim Schießen, abgesehen vom ganzen übrigen Betrieb. Mach dir einen Begriff davon!»
Christian lächelte, weil Fred offenbar bestrebt war, seinem Bruder das Fest so großartig wie möglich darzustellen.
«Und wieviel Schützenfeste werden jährlich in der Schweiz abgehalten?» fragte Fred weiter. Er ging zu seinem Vergnügen jetzt wirklich darauf aus, Pauls Entsetzen über das schweizerische Festleben auf die Spitze zu treiben, wobei seine eigene Stellung dazu unentschieden blieb.
«Das kann ich jetzt kaum so genau sagen», antwortete Christian, der den Hintergrund dieses Fragespiels nicht zu erkennen vermochte. «In der ganzen Schweiz werden jedes Jahr etwa fünf oder sechs solche Kantonal-Schützenfeste abgehalten. Aber daneben gibt es jährlich noch Dutzende von kleineren Schützenfesten, vielleicht vierzig bis fünfzig …»
«Tatsächlich?» fragte nun Paul selber.
«Das ist bei weitem nicht alles!» rief Fred. «Zu den Schützenfesten kommen bekanntlich noch Sängerfeste, Turnfeste, Musikfeste, Schwingfeste … außerdem gibt’s fast jedes Jahr irgendein eidgenössisches Fest, wo es noch ganz anders großartig zugeht.»
«Ja, es ist unglaublich, ganz unglaublich», sagte Paul leise und ernsthaft. «Dagegen ist nicht aufzukommen. Es ist überwältigend.»
Während nun Fred vom Ausmaß der eidgenössischen Feste zu reden begann, gewahrte Paul eine wachsende Zahl von Schützen, die den Lorbeerkranz auf dem Hute trugen, und seine Miene erhellte sich zu spöttischer Anteilnahme. Einer dieser Schützen, der offenbar leicht betrunken war, versuchte unter dem Gelächter und den Zurufen seiner Kameraden, die ihn durch die Hütte begleiteten, unversehens eine Kellnerin zu umarmen, was ihm nur halb gelang; jetzt bummelte er weiter und kam in der Nähe vorbei, ein etwas ungeschlachter Mann in mittleren Jahren, das Gewehr unordentlich nach hinten gehängt, auf dem zurückgeschobenen Strohhut den dichtbelaubten Lorbeerkranz, dessen eine blauweiße Schleife ihm verdreht auf den Nacken herabfiel; breitspurig bummelte er vorüber und sang oder gröhlte vielmehr «Heil dir, Helvetia, Hast noch der Söhne ja …», mit einem grimmigen Ausdruck seines dicknasigen Gesichtes, als ob er jeden herausfordern wollte, der seine vaterländische Kundgebung etwa nicht ernst zu nehmen geneigt wäre.
Fred hatte kaum ein paar vermutlich übertriebene Bemerkungen über die Höhe des Alkoholkonsums bei derartigen Festen an diesen Auftritt geknüpft, als er über zwei Tische hinweg den Onkel Robert in Begleitung Karls, Marthas und einiger ihm unbekannter Männer entdeckte. Sogleich erhob er sich und rief sie, seinen langen Arm reckend, zu Pauls Ärger laut herbei.
Das robuste, rötliche Gesicht seines Onkels leuchtete beim Anblick seiner Neffen erfreut auf, zugleich ließ er sich zum Spaß ein wenig in die Knie fallen, als ob er einen Sprung tun wollte, und kam rasch heran. Martha folgte ihm mit einem fröhlich innigen Ausdruck, der ihr stilles Gesicht schön machte. Die Gesellschaft drängte sich grüßend und plaudernd an dem schon zur Hälfte besetzten Tisch zusammen, während gleichzeitig an allen Eingängen der Hütte ein auffallender Andrang einsetzte. Man vernahm, daß ein Gewitter im Anzug sei, es wurde auch merkbar dunkler, und schon in einer der nächsten Konzertpausen übertönte ein nahes Donnern den Hüttenlärm.
Paul war von quälendem Unbehagen erfüllt, und während er lächeln, reden, antworten mußte, spürte er zum hundertsten Male, daß er mit diesen Leuten nichts gemein hatte und an alldem, was sie beschäftigte, niemals ernsthaft würde teilnehmen können. Er benützte ein lautes Gelächter, um Fred mitzuteilen, daß er sich drücken und in die Stadt zurückfahren werde.
«Ach was, wart nur!» antwortete Fred. «Wir gehen nachher miteinander zum Bahnhof.»
Paul schüttelte mit einer flüchtigen Grimasse den Kopf.
«So wart doch wenigstens, bis das Gewitter vorbei ist!» erwiderte Fred und blickte ihn lächelnd an. Er verstand den Bruder sehr wohl, ja er vermochte ihm sein wachsendes Befremden gegenüber dem Festrummel, der nun durch dies Zusammentreffen fordernd auch nach ihnen griff, fast genau nachzufühlen. Zugleich wurde er sich bewußt, wie leicht und ungezwungen er selber mit diesen von Paul verschmähten Leuten verkehren konnte, und in diesem Augenblick fühlte er sich dem sonst bewunderten Bruder zum erstenmal überlegen. Mochte Pauls empfindsame Ausschließlichkeit auch ein geistiger Vorzug sein, oder umgekehrt der Geist zu dieser Ausschließlichkeit führen, das Volk besaß jedenfalls ein natürliches Anrecht, sich so ungeistig und trivial zu betragen wie ihm zumute war. Ob er, Fred, es mit diesem oder jenem halten möchte, das zu entscheiden fühlte er sich unfähig, er stand seinem eigenen Gefühle nach in der Mitte zwischen diesen zwei Erscheinungen, die für immer getrennt zu sein schienen und die er doch beide begriff.
Indessen fuhren ein paar stürmische feuchte Windstöße in die auf zwei Seiten offene Hütte hinein, und die ersten Regenschauer trieben den Rest des bummelnden Volkes unter Dach. Das nun herrschende Gedränge, in dem die numerierten Aufwärterinnen sich mit verzweifelter Miene Bahn zu schaffen suchten, der heftig auf das Hüttendach rauschende Gewitterregen, die Klänge der unbeirrt weiterkonzertierenden Kapelle und der verworrene Lärm der Menge selber steigerten das festliche Treiben zu einem ungeheuren, sinnlosen Tumult. Paul fühlte sich dem in keiner Weise mehr gewachsen, und das gewohnte, ironisch abwehrende Lächeln erstarb ihm auf den Lippen. Befremdet, ja beängstigt sah er, wie dagegen seine Tischgenossen sich all dessen nicht bewußt zu sein schienen, sondern mitspielten wie selbstlose Gestalten in einem furchtbaren Traum, den er allein mit wachen Sinnen zu träumen verdammt war.
Nachdem er sich endlich von der Gesellschaft getrennt hatte und durch den Schmutz des zertretenen Rasens mit dem hinausdrängenden Volk auf die Straße geraten war, wo die schon wieder glühende Sonne sich in den Regenlachen spiegelte, trat er mit abweisender Miene sogleich den Rückweg zum Bahnhof an. Hier mußte er sich eine ziemliche Weile gedulden, und als der Zug einfuhr, blieb ihm nichts anderes übrig, als inmitten von wohlgelaunt heimkehrenden Schützen und Festbummlern Platz zu nehmen. Er fühlte sich niedergeschlagen vom Andrang dieses Tages, den er unbeteiligt mit heiterm Spott zu ertragen gehofft hatte, und in diesem Zustande begann ihm sein eigenes Dasein fragwürdig zu erscheinen. Mochte dieses Dasein auch seine eigene innere Rechtfertigung besitzen, was half ihm das gegen jene Übermacht, die es ausschloß und vor der es so nichtig wurde wie ein Menschenleben im Bergsturz!
Während der Fahrt stahl er sich freilich in seine gewohnte Haltung zurück, in jene Haltung eben, die halb aus Not, halb aus Einsicht, jedenfalls aber mit vollem Bewußtsein auf den Anschluß an das den Tag beherrschende Volk verzichtet. Er teilte sie mit vielen Intellektuellen aller europäischen Länder, und er war geneigt, sie zu übertreiben, wie mancher schaffende Künstler, der seiner Einsamkeit eine befremdend grundlose Eigenwelt abtrotzte.
Nach seiner Ankunft in Zürich schlug er durch den noch taghellen, von heimkehrenden Ausflüglern belebten Sonntagabend sogleich mürrisch verschlossen den Weg nach Hause ein. Vor dem Gebäude einer großen Tageszeitung aber wurde er zu seiner Verwunderung von einer Menschenmasse aufgehalten, die, an ihren Rändern unruhig gelockert, im Innern fest geschlossen, nach Tausenden zählen mochte. Er erinnerte sich, daß die Zeitung auf diesen Abend ein Extrablatt angekündigt hatte, die Ereignisse der letzten Tage fielen ihm ein, die nach der überwältigenden Gewöhnlichkeit des europäischen Alltags endlich das Ungewöhnliche erwarten ließen, und die Lust danach ergriff auch ihn. Er mischte sich unter die Menge, in der die merkwürdigsten Gerüchte von Mund zu Mund liefen, und wurde von einer plötzlich einsetzenden Strömung einem Ausgang des Gebäudes zugedrängt, wo die ersten Zeitungsverkäufer erschienen waren. Noch eh er hingelangte, fuhren ihm schon fetzenweise Nachrichten entgegen, die alle Erwartungen oder Befürchtungen zu erfüllen versprachen. Indes gedachte er an dieser Gier der Masse nach Sensationen nicht teilzunehmen und wandte sich mit dem eroberten Blatt in der Tasche gelassen heimwärts, um es freilich an der nächsten ruhigen Straßenecke dennoch aufzuschlagen.
Etwas großartig Spannendes und zugleich schon unheimlich Entschiedenes drang aus der bedruckten Seite auf ihn ein, der Anfang eines noch gar nicht übersehbaren Geschehens, das auf vernunftwidrige oder doch beängstigend dunkle Art alle Völker zu ergreifen drohte. Die gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Österreich und Serbien stand unmittelbar bevor, die diplomatischen Beziehungen waren abgebrochen, die österreichische Gesandtschaft hatte Belgrad verlassen, die serbische Armee wurde mobilisiert. Aus Petersburg kam die unverhüllte Erklärung, Rußland fühle sich durch die Maßnahmen der Wiener Regierung provoziert und sei nicht mehr imstande, eine gleichgültige Haltung zu bewahren. In allen Hauptstädten wuchs sich die Spannung zu einer fieberhaften Bereitschaft aus, überall reisten Monarchen, Minister, Diplomaten heim auf ihre Posten, und die europäische Presse betonte wie aus einem Mund die schwere Bedrohung der internationalen Lage.
Paul, der mit seinem Urteil diesen Anzeichen der nahenden Katastrophe so unzulänglich gegenüberstand wie jedermann, faltete das Blatt zusammen und ging erregt mit beschleunigten Schritten weiter. Er hatte heimlich nie befürchtet, daß etwa der Sturm ausbrechen, sondern im Gegenteil, daß er sich verziehen könnte, wie er denn meinte, daß in Europa seit Jahrzehnten alles Verheißungsvolle, groß Begonnene und Elementare immer wieder im Sande verlaufen sei. Jetzt endlich schien etwas Mächtiges wirksam zu werden, das die Menschen nicht mehr ihren blöden Zwecken vorspannen konnten.
In der Nähe des Hauses sah er sich zwischen leicht- und hellgekleideten Passanten plötzlich der auffallend gewichtigen schwarzen Gestalt seines Vaters gegenüber.
«Ah, Paul … eh … hast du etwa das Extrablatt?» fragte Ammann flüchtig und schon bereit, weiterzugehen. «Aha, schön, danke! Wollte es eben auch holen.» Er kehrte um und fragte leichthin, während er das Blatt aufschlug und, stehen bleibend, einen ersten Blick hineinwarf: «Und wie ist die Lage?»
«Ach …», sagte Paul unbestimmt, mit einem Achselzucken, und blieb scheinbar gelangweilt ebenfalls stehen.
Ammann begann, ohne eine Antwort zu erwarten, die hervorstechenden Nachrichten zu lesen, dann setzte er sich, immerfort lesend, mit einem Ausdruck steigender Sorge an Pauls Seite langsam wieder in Bewegung.
Paul beobachtete ihn unbemerkt, er sah, wie er die dicke Unterlippe vorschob und die Stirn runzelte, wie in seinen leuchtkräftigen Augen ein leises Erschrecken aufglomm und wie er schließlich mit einer nachdenklichen Verdüsterung seines satten, selbstzufriedenen Gesichtes einen Augenblick vor der Haustür stehen blieb. «Riechst du, wie es brenzelt»? dachte er. «Es ist euere Welt, die zu brennen anfängt und hoffentlich einstürzen wird, euere zivilisierte, sichere, fortschrittliche Welt! Löscht jetzt, wenn ihr könnt!» Er schloß die Tür auf, ließ den Vater eintreten und folgte ihm, von einer unvernünftigen wilden Genugtuung erfüllt.
8
Nachdem das festliche Treiben dieses Tages um die abendliche Essenszeit einen kurzen Unterbruch erfahren hatte, setzte es beim Anbruch der Dunkelheit im strahlenden Flitterglanz der Budenstadt wieder ein und erreichte einen neuen Höhepunkt in der Festhütte, wo die Vereine des Orts mit wechselnden Darbietungen die Bühne betraten. Fred saß in Gesellschaft an einem der langen Tische und hörte dem Gespräch zu, das zwischen Christian und anderen Schützen im Gange war.
«Nein, heute wurde nicht besonders gut geschossen, wenigstens in den Hauptstichen», erklärte Christian. «Das höchste Resultat in der ‹Kunst› hat immer noch Brunner mit 443 Punkten. In der ‹Meisterschaft› steht vorläufig Otter mit 23 Nummern an der Spitze.»
«Das sind schöne Resultate!» erwiderte sein Nachbar, ein großer, magerer Mann mit einem herben Gesicht von bäuerlichem Schnitt und verständigem Aussehen, ein Wagner namens Eckert. «Am letzten Kantonalen stand Eggmann in der ‹Kunst› mit 450,5 Punkten im ersten Rang. Und auf mehr als 23 Nummern hat’s in der ‹Meisterschaft› doch keiner gebracht.»
«Ja … aber die Gefährlichsten fangen erst an. Reich, Meister, Fenner, Tobler und andere waren noch gar nicht da. Und Ihr», fügte er mit einem Lächeln bei, «habt’s auch noch nicht gewagt.»
«Papapapa … ich komme nicht mehr in Frage. Wenn ich’s auf 20 Nummern bringe, bin ich wohl zufrieden. Aber an dir ist es jetzt! Wenn einer schon am ersten Tag in der Serie 24 Nummern schießt, dann …»
«Jaja, liegend wär’s zu machen, aber in allen drei Stellungen … das ist eine andere Sache.»
«Ach, er hat daheim ja schon wochenlang Zielübungen gemacht», warf hier Lisi vorlaut ein.
«Das ist ganz in Ordnung!» erklärte Eckert entschieden, mit einem scherzhaft verweisenden Beiklang. «Wer nicht übt, bringt’s zu nichts. Unsere Meisterschützen machen täglich Zielübungen …»
Bei diesen letzten Worten dämpfte er die Stimme, denn jetzt wurde es in der Hütte dunkel, und auf der Bühne erschien im schwankenden Rot des bengalischen Lichtes die Winkelriedszene, ein vom Turnverein gestelltes «lebendes Bild». Der Held lag, von einer Anzahl kniender und stehender Eidgenossen umgeben, mit einem an die Brust gedrückten Bündel feindlicher Speere sterbend in den Armen eines jungen Kriegers. Die regungslose mehlweiße Gruppe verdämmerte, starker Beifall setzte ein, der Vorhang fiel und das Licht wurde wieder angedreht, während sich im Zuschauerraum schon die Mitglieder des Männerchors erhoben, die nun drei Lieder vorzutragen hatten.
«Ein verrücktes Resultat», begann Christian wieder, «hat am Samstag Stähli im Schnellstich geschossen, 78 Punkte, und unmittelbar vorher das Maximum in der Gruppe.»
«Schon gehört!» antwortete Eckert. «Der Stähli ist ein ganz hervorragender Schütze! Wie steht’s übrigens bis jetzt mit den Gruppen und Sektionen?»
«Vier sehr gute Resultate hat eine Tessiner Gruppe von Bellinzona. Von den Sektionen kann man noch nicht viel sagen. Neumünster, Winterthur und Zürcher Stadtschützen haben allerdings bis jetzt fast nur Kranzresultate.»
Fred hörte aufmerksam zu, obwohl ihm die genannten Punktzahlen keinen Begriff vom Wert der Resultate vermitteln konnten; er hatte im Militärdienst wohl schießen und treffen gelernt, doch auf den ausgeklügelten Plan eines Schützenfestes verstand er sich nicht. Er sah aber ein, daß die Schützen selber das Fest anders beurteilten als die Bummler, und daß sie hier nicht zur Belustigung erschienen, sondern zum Wettkampf, der eine ernstliche Anspannung erforderte und erstrebenswerte Folgen haben mußte. Der gute Schütze wurde ja berühmt, und dieser Ruhm konnte sich nicht auf ein bloßes Vergnügen beziehen, sondern nur auf gewisse gesteigerte Fähigkeiten, die ihren Träger vor seinen Volksgenossen auszeichneten, auf seine sichere Hand also, sein scharfes Auge, seine Geduld und Selbstbeherrschung. Jede Ortschaft, jede Gemeinde vermerkte es mit Genugtuung, wenn einer ihrer Angehörigen oder ihre Gruppe, ihre Sektion, einen so offenen, allgemeinen Wettkampf siegreich bestand, und aus dem Bewußtsein des ganzen Volkes war die Tatsache nicht zu tilgen, daß die Schweiz die besten Schützen der Welt besaß.
Nach den Liedern des Männerchors erhob sich Christian gemächlich, nickte der Tischgesellschaft zu und wollte gehen.
«He he!» widersprach Eckert. «Was ist mit dir? Grad so ohne weiteres läuft man jetzt nicht fort!»
Dasselbe wurde Christian noch von anderen Bekannten zugerufen, so daß er schließlich gestand, er wolle morgen früh mit dem Schießen beginnen. «Wenn man nicht richtig ausgeschlafen hat», sagte er, «dann braucht man gar nicht erst ein Gewehr in die Hand zu nehmen.»
Während Eckert halb zustimmend, halb bedauernd den Kopf wiegte und die übrigen laut widersprachen, griff auch Fred nach dem Hut und erklärte schmunzelnd, er gedenke morgen ebenfalls zu schießen und werde jetzt mit Christian heimgehen. Da stand Martha auf. «Ach, dann komm’ ich auch grad mit, die Mutter ist so allein zu Hause», sagte sie unverfänglich, mit kaum merkbarem Erröten. Nach erneuten Protesten und nutzlosen Verhandlungen trennte sich die kleine Gesellschaft. Lisi und der Vater blieben mit ihren Bekannten in der Hütte, Christian, Fred und Martha wanderten durch die besternte warme Nacht dem Rusgrund zu.
Am nächsten Morgen betrat Fred wirklich in aller Frühe mit Christian den Schießstand, und wenn er vorerst auch nicht selber ein Gewehr in die Hand zu nehmen gedachte, so wollte er doch die Schützen an der Arbeit sehen. Das Feuer war um sechs Uhr eröffnet worden, die Schüsse dröhnten schon auf der ganzen Front. Christian strich neugierig den Gewehrrechen entlang und machte Fred bald auf einen festen, rotnackigen Mann aufmerksam, der im Begriffe war, auf einer Stichscheibe ein hohes Resultat zu erzielen. Die Stichscheiben, erfuhr Fred, besaßen ein in hundert Kreise eingeteiltes rundes Trefferfeld von einem Meter Durchmesser. Auf diese Scheiben schoß man die «Kunst» mit fünf, das «Glück» mit zwei und den «Nachdoppel» mit beliebig vielen Schüssen. Die Prämien wurden gesondert in jeder Kategorie durch die Rangordnung bestimmt. Der Warnerknabe nun, der durch einen Druck auf den Läutknopf dem Zeiger den erfolgten Schuß zu melden hatte, stempelte diesem Schützen soeben unter «Kunst» die Punktzahl 92 ins Büchlein. Es war der vierte Schuß, die drei vorhergehenden zählten 87, 96, 83. Der Schütze zielte wieder. Er lag auf die Ellbogen gestützt, den Hut über dem rechten Ohr, das Gewehr im Anschlag, und zielte wohl eine halbe Minute lang, dann legte er, ohne den Schuß gelöst zu haben, atemholend das Gewehr nieder, um es nach kurzer Ruhe abermals anzuschlagen. Dasselbe wiederholte er noch zweimal, dann wandte er sich, den Kopf schüttelnd, nach einem Kameraden um, und Fred sah sein robustes, vor Anspannung gerötetes Gesicht, das zu lächeln versuchte und es nicht fertig brachte. Der Kamerad beruhigte ihn mit betonter Gelassenheit: «Wart nur, Köbi, du hast Zeit genug!» Der Schütze wandte sich wieder der Scheibe zu, zielte aber noch nicht, sondern senkte wartend und wie erschöpft den Kopf.
«Er hat Fieber», flüsterte Christian seinem belustigten Vetter zu. «Wenn ihm dieser letzte Schuß noch gelingt, dann hat er ein Bombenresultat, er könnte in den ersten Rang kommen. Das weiß er, und darum tanzt ihm jetzt schon alles vor den Augen. Es gelingt ihm nicht, du wirst sehen! Das kommt sehr oft vor.»
Inzwischen sammelten sich hinter dem Schützen immer mehr Neugierige an, jeder Hinzutretende suchte zu ergründen, was hier vorging, und blieb, wenn er es erfahren hatte, gespannt in der Nähe stehen. Fred, der seinen Platz am Gewehrrechen mit einiger Mühe behauptete, blickte bald auf den nach Selbstbeherrschung ringenden Schützen, bald auf dessen Nachbarn zur Rechten, den er für einen Regierungsrat oder sonst einen hohen Beamten hielt. Dieser ergraute, eindrucksvolle Mann schoß mit seinem Privatgewehr, einem Stutzer, in sehr gerader Haltung erhobenen Hauptes kniend den «Nachdoppel», er löste einen Schuß nach dem andern, blies nach jedem mit gespitzten Lippen sorgfältig den Rauch aus dem Lauf und schielte dabei durch seinen schiefen Klemmer nach der Scheibe, wo die Kelle einen mittelmäßigen Treffer zeigte, dann schob er eine neue Patrone ins Lager, schlug den Stutzer feierlich an, zielte wieder und schoß, alles mit einer unvergleichlich würdigen Ruhe, die zum Fieber seines ringenden Nachbarn im stärksten Gegensatze stand. Noch weiter rechts bemerkte Fred einen liegenden jüngern Mann, der heftig den Gewehrverschluß zurückriß, mit einem grimmigen Ausdruck seines scharfgeschnittenen Gesichtes nach der Scheibe starrte und plötzlich, den Verschluß mit Wucht zustoßend, ehrlich erzürnt ausrief: «Lueg, jetzt isch der Stärnechaib wieder z’höch!» Im selben Augenblick krachte vor Fred endlich der fünfte Schuß des Fiebermannes, eine kurze Bewegung ging durch die Schar der Zuschauer, dann blickten alle gespannt und still auf die Scheibe. Die Zeigerkelle erschien eine Hand breit neben dem Schwarzen, der Schuß zählte 61 Punkte und war nicht geradezu schlecht, drückte aber doch das gesamte Ergebnis auf eine kaum mehr auffällige Punktzahl herab. «Schade!» sagte der Kamerad bedauernd. Die Zuschauer entfernten sich schweigend. Der Schütze, noch immer rot im Gesicht, unterzeichnete das Resultat, dann winkte er, alle Schuld sich selber zuschiebend, mit der Rechten verächtlich ab und trat zurück. Er hatte das bescheidene Glück, das da endlich auf ihn zugekommen war, aus mangelnder Beherrschung mit dem letzten schwächlichen Zugriff verscherzt und tauchte in der Masse der unbekannten Schützen namenlos wieder unter.
Fred ging, da er Christian nirgends mehr erblickte, langsam durch den Stand, wobei ihm auffiel, wie viele bejahrte und gesetzte Männer sich unter den Schützen befanden, welch soliden Eindruck auch die jüngern erweckten, was für prächtige Köpfe hier auftauchten und wie ansteckend ernst, sachlich, gesammelt fast alle Gesichter erschienen. Fred fühlte sich wirklich angesteckt, ja schon verlockt, seine eigene Tüchtigkeit auf die Probe zu stellen und den Versuch mit der Waffe zu wagen; jedenfalls begann er, statt mit belustigter Neugier ziellos herumzuschweifen, nun auch eine beschäftigte Miene zur Schau zu tragen. Er wollte hier doch lieber nicht als Außenseiter gelten. In diesem Zustand begegnete er dreimal einem Schützen, dessen Anblick ihn sonst erheitert hätte; jetzt verbot er sich geradezu, ihn wunderlich zu finden. Dieser Mann, eine hohe, kahlköpfige Gestalt im grauen Überhemd, hatte sich eine Schießbrille in die Stirn geschoben und wanderte, die Hände auf dem Rücken, den Kopf ein wenig gesenkt, in tiefes Sinnen versunken immerzu auf und ab, wobei er den im Wege stehenden Schützen auswich, ohne sie eines Blickes zu würdigen und ohne auch nur einen Augenblick seinen regelmäßigen Gang zu unterbrechen.
Im äußersten rechten Flügel entdeckte Fred plötzlich seinen Vetter, wie er stehend die Waffe anschlug und zu zielen begann. Sogleich trat er hinter den Gewehrrechen, beugte sich gespannt über den Warnerknaben und sah im Büchlein, daß Christian eine Meisterschaftsserie begonnen und in sechs Schüssen drei Nummern geschossen hatte. «Erst drei Nummern!» dachte er enttäuscht und bedauernd. «Das genügt ja nicht, er muß doch stehend mindestens sechs bis sieben Nummern haben.» In dieser Serie, die man dreimal schießen durfte, wurden je zehn Schüsse stehend, kniend und liegend verlangt. Wem in diesen dreißig Schüssen fünfundzwanzig Treffer in ein Rund von 37 Zentimeter Durchmesser gelangen, fünfundzwanzig Nummern eben, dem wurde der Meistertitel verliehen. Dies hatte Fred von seinem Vetter erfahren, aber erst jetzt trat ihm das Schwierige, ja scheinbar Hoffnungslose des Unternehmens vor Augen. Das Nummernfeld war ja nicht größer als ein Strohhut, und wer wollte denn auf 300 Meter Entfernung unter solchen Bedingungen fünfundzwanzigmal einen Strohhut treffen!
Er trat etwas zur Seite und beobachtete mit herzlicher Anteilnahme, wie nun auch Christian, Atem holend, das Zielen unterbrach, aber gleich darauf das Gewehr wieder anschlug, indem er es leicht emporwarf, als ob er in die Luft schießen wollte, wie er den Kolben fest an die Schulter zog und den linken Ellbogen auf die Hüfte stützte, wie er mit den Füßen suchend noch einmal den sichersten Halt ermittelte und endlich zu zielen begann, mit einem so finster gespannten Ausdruck seines ohnehin mürrischen Gesichtes, wie Fred ihn noch nie an ihm wahrgenommen hatte. Der Schuß fiel und traf die Nummer, aber die letzten drei Schüsse fehlten sie wieder. Christian unterzeichnete das Resultat und trat mit seiner gewohnten gleichmütigen Miene, die durch keinen Zug den Mißerfolg verriet, zu seinem neugierig wartenden Vetter. «Willst du nicht auch schießen?» fragte er. «Du kannst beim Büchser ein Gewehr mieten.»
«Ja, ich habe daran gedacht», antwortete Fred, als ob weiter nichts dabei wäre; als aber Christian sich sogleich anschickte, ihm bei den erforderlichen Schritten zu helfen, überkam ihn schon eine leichte Erregung. Er mietete ein Ordonnanzgewehr, kaufte Patronen und bestellte ein Schießbüchlein mit Marken für die «Kunst», das «Glück» und die Übungsscheibe «Kehr». Etwas verwundert stellte er fest, daß ihn dieser bescheidene Anfang rund zwanzig Franken kostete, und daß bei diesem patriotischen Wettkampf also wohl nicht nur die Ehre, sondern auch der für manchen Schützen beträchtliche Einsatz erregend im Spiel stehen müsse. Er stellte das Gewehr dort, wo er schießen wollte, in den Rechen.
Er mußte eine Viertelstunde warten, um an die Reihe zu kommen, und während dieser Viertelstunde nahm seine Erregung langsam zu. «Was für ein Blödsinn!» sagte er sich. «So werde ich nichts treffen, das ist doch klar. Warum rege ich mich eigentlich auf? Die ganze Geschichte ist ja nicht der Rede wert.» Dies suchte er sich einzureden, aber der dunkle Antrieb seines scheinbar harmlosen Unternehmens verlor den Stachel nicht. Im Grunde beherrschte ihn doch der merkwürdige Ehrgeiz, im Hinblick auf die Tüchtigkeit der Sinne und die Herrschaft über sich selber es wenigstens in bescheidenem Maße diesen einfachen Männern gleichzutun und ein Probestück zu wagen, das in intellektuellen Kreisen mißachtet, vom Volk aber naiverweise geschätzt wurde.
Endlich konnte er antreten. Mit gespielter Gelassenheit warf er das Büchlein dem Warnerknaben aufs Pult, verlangte «Kehr» und legte sich auf die Matratze. Er machte das Gewehr zum Schuß fertig, schlug es an und schmunzelte bei allem Ernst nun doch über die wunderlich erregende Lage, in die er sich da begeben hatte. Sorgfältig suchte er, durch den Visiereinschnitt äugend, das schwankende Korn unter dem runden Schwarz der Scheibe festzuhalten, aber eben das erwies sich als besonders schwierig, das Korn wollte nicht stillstehen, und schließlich drückte er aufs Geratewohl ab. Es geriet nicht wohl, der Schuß saß nicht einmal im Schwarzen, geschweige denn in der Nummer. Er nahm sich ernstlich zusammen, zielte genauer und drückte den zweiten Schuß im richtigen Augenblick ab, aber beim Abdrücken zog er die Waffe unmerklich ein wenig nach unten, er «verzog» den Schuß und fehlte das Schwarze abermals. Beharrlich versuchte er es von neuem, doch erst der fünfte Schuß gelang ihm ruhig und genau; er traf das Schwarze, aber noch nicht die Nummer, während der nächste Schuß, der ihm mißlungen schien, zu seiner Erheiterung mitten in der Nummer saß. Die folgenden zwei Schüsse ergaben Treffer am linken Rand des Schwarzen, worauf er den Zielpunkt etwas nach rechts verlegte und endlich eine verdiente Nummer schoß. Auf denselben Zielpunkt löste er den letzten Schuß, mit dem er zu seiner Verwunderung das Schwarze wieder fehlte; er hatte scheinbar genau gezielt und ruhig abgedrückt, aber das Auge mußte einer der dutzend optischen Täuschungen erlegen sein, die durch den Wechsel des Lichtes bewirkt werden, und so hatte er denn, einen bekannten Fehler begehend, den Schuß «versehen».