Kitabı oku: «Schlachtfest», sayfa 3
„Wirklich!“ bestätigte sie. Aber es half nichts, Enna musste aus dieser Lage herauskommen und Klarheit schaffen. Mit größter Anstrengung schaffte sie es, sich zu erheben, und dieses auch nur, weil Anne nun mit den Beamten beschäftigt war, und ihnen eine Standpauke wegen ihrer fehlenden Anwesenheit bei diesem Event hielt.
Nachdem sie sich aufgerichtet hatte, wurde ihr wieder schwindelig. Sie glaubte sich fast schon wieder am Boden als sie den kräftigen Arm des Zivilbeamten aus Holland um sich spürte.
„Hoppla! Wo wollen wir denn hin?“, fragte er und sie blickte ihm in das bartstoppelige Gesicht, das sie von oben anlächelte. Er musste um die Vierzig sein und seine graugrünen Augen wirkten freundlich.
„Es geht schon. Sie können mich wieder loslassen, danke!“ Warum musste ihr das gerade jetzt passieren? Trotz ihrer eher zierlichen Figur war sie für gewöhnlich hart im Nehmen. Aber der Schlag hatte ihr mehr zugesetzt, als sie zunächst geglaubt hatte.
„Sie sollten ins Krankenhaus gehen!“, sagte er und ließ sie vorsichtig wieder auf ihren eigenen Beinen stehen.
„Das habe ich ihr auch geraten“, mischte Anne sich ein.
„Ich glaube, ich höre den Krankenwagen schon“, bemerkte der Polizist in Uniform.
„Schon ist gut!“, sagte Anne besorgt. „Das hat eine Ewigkeit gedauert. Sie hätte tot sein können!“ Wenn Anne einmal in Fahrt war, konnte sie nichts bremsen. „Und wenn Sie sich etwas schneller herbewegt hätten, hätten diese Spaßverderber hier nicht so ein Gemetzel anrichten können!“, fügte sie wütend hinzu.
„Bitte, beruhigen Sie sich!“, forderte der uniformierte Polizist, ein junger Mann mit kurzgeschnittenem, weißblondem Haar sie auf. Anne öffnete den Mund, um zu erneuten Beschuldigungen anzusetzen.
„Anne, lass gut sein!“, versuchte Enna zu vermitteln. „Es geht mir gut!“ Das laute Sprechen verursachte ihr einen erneuten Kopfschmerzanfall.
„Das ist gelogen und das weißt du! Dir hätte Gott weiß was passieren können! Die hätten uns alle massakrieren können und keiner wäre gekommen! Wo leben wir denn?“
„Wenn die Damen sich einig sind, wie es Ihnen geht, dürfte ich dann noch Ihre Personalien aufnehmen?“, fragte der Niederländer Enna freundlich. „Vorausgesetzt Sie fühlen sich dazu schon in der Lage.“ Enna wollte gerade zustimmen, als zwei Rettungssanitäter mit einer Trage erschienen, die sich den Weg zu ihnen gebahnt hatten. Es standen immer noch Menschen um sie herum, die das Geschehen beobachteten.
„Ich komme am Montag zu Ihnen auf das Revier“, antwortete sie ihrem zukünftigen Kollegen. Sie hatte nicht die Kraft, ihre persönliche Situation hier und jetzt aufzuklären. Am Montag würde sie sich in aller Form im Revier vorstellen. Am liebsten hätte sie sich auf die Trage der Sanitäter gelegt und sich aus dem Gemenge heraustragen lassen, aber das war ihr vor den neuen Kollegen zu peinlich. Es war wie eine Schwäche, sich vor ihnen so angeschlagen zu präsentieren. Sie musste Stärke demonstrieren, in der Position, die sie zukünftig innehaben würde. Außerdem hatte sie das Gefühl, die Beamten würden ihr Trunkenheit unterstellen.
Der Beamte schaute verdutzt drein, als sie mit Anne den Schauplatz des Gemetzels verlassen wollte.
„Sagen Sie mir bitte wenigstens Ihren Namen und Ihre Adresse?“, bat er. „Ich muss Sie das fragen…“
„Haben Sie ja jetzt getan.“
Damit ging sie davon. Sie hatte sich dafür gerächt, beim Notruf so nicht ernst genommen worden zu sein. Was Disziplin betraf, verstand sie keinen Spaß. Das war schon immer so gewesen. Vielleicht lag es daran, dass sie sich oft in ihrem Leben selbst hatte disziplinieren müssen. Nach Leonards Tod. Oder auf ihrer Afrika-Mission während der Ebola-Epidemie.
Sie war gespannt auf die Gesichter der Kollegen, wenn sie in zwei Tagen als neue Chefin vor ihnen stehen würde.
„Du solltest wirklich zu einem Arzt gehen“, meinte Anne, als sie auf ein Taxi warteten. „Warum bist du nicht mit ins Krankenhaus gefahren? Ganz schön leichtsinnig!“
„Ich möchte jetzt einfach nur nach Hause!“ Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als in ihrem eigenen Bett zu schlafen, in welchem häuslichen Chaos auch immer es sich befinden mochte. „Ich kann ja immer noch zum Arzt gehen, wenn es nicht besser werden sollte.“
„Ja, aber morgen ist Sonntag.“
„Na und? Dann gehe ich zum Notdienst.“
„Kann es sein, dass es dir peinlich war, dich vor dem attraktiven Holländer auf die Trage zu legen?“ Anne grinste verschmitzt.
„Du spinnst doch! Außerdem, wo war der denn attraktiv? Der typische Holländer. Lang und dünn.“
„Und eben die fandest du doch immer sooo gutaussehend!“
„Ach wirklich? Daran kann ich mich gar nicht erinnern. Sooo schlimm kann es also gar nicht gewesen sein. Und ich bin jetzt wirklich nicht in der Stimmung, mir darüber Gedanken zu machen, sonst platzt mir der Kopf.“
„Natürlich nicht“, sagte Anne breit grinsend.
Sie wollte jetzt nicht darüber nachdenken, wie diese Antwort gemeint gewesen sein könnte. Eine bleierne Müdigkeit überfiel sie, als endlich ein Taxi vor Ihnen anhielt. Enna setzte sich auf den Rücksitz.
„Kotzt mir aber nicht den Wagen voll!“, rief der Taxifahrer barsch. Anne sah ihn verständnislos an. Enna fühlte tatsächlich eine Übelkeit. Oder war es nur der Gedanke daran, sich übergeben zu müssen? Sobald sie in den weichen Polstern saß, fiel sie in einen tiefen Schlaf. Sie wachte erst wieder auf, als das Taxi vor ihrem Haus stand und Anne sie wachrüttelte.
„Komm jetzt Enna! Wir sind da!“ Anne versuchte sie aus dem Auto zu zerren. Widerwillig ließ Enna es sich gefallen. Sie war unsagbar müde und die Kopfschmerzen hatten nur wenig nachgelassen.
„Warten Sie hier“, rief Anne dem Taxifahrer zu, „ich muss noch weiter.“
„Bevor Sie bezahlt haben, fahre ich bestimmt nicht weg!“, meinte der Mann und grummelte vor sich hin.
Anne brachte sie bis in ihr Schlafzimmer und zog ihr die Schuhe und die Lederjacke aus.
„Du bist ein Schatz, …!“, sagte Enna als sie sich verabschiedeten. „Das Taxigeld, das … machen wir später“, stammelte sie noch. Heute war sie zu nichts mehr in der Lage.
„Klar doch. Mach dir keine Gedanken. Jetzt schlaf erst mal und kurier dich aus! Und wenn es dir morgen nicht besser geht, gehst du zum Arzt. Oder ruf mich an und ich fahre dich!“ Enna fragte sich, wie das gehen sollte. Hatte Anne nicht ihre Mutter zu Besuch? Oder war es die Schwiegermutter?
Sie hörte, wie die Haustür hinter ihrer Freundin ins Schloss fiel. Als sie die Augen schloss, sah sie das grinsende Gesicht des Holländers vor sich. Dann fiel sie in einen unruhigen Schlaf.
Sonntag
Joris Sollewijn hatte sich früh auf den Weg gemacht an diesem verregneten Sonntagmorgen. Als Oberkommissar bei der Maarsumer Polizei hatte er jedes zweite Wochenende dienstfrei. Eigentlich. Das nutzte er, um seine Familie in Utrecht zu besuchen. Gestern hatte er außer der Reihe einen Dienst übernehmen müssen und konnte erst heute fahren. Es ärgerte ihn, dass sie ständig unterbesetzt waren. Auch wenn er noch heute wieder zurück musste, er würde es sich nicht nehmen lassen, die drei zu besuchen. Die Sehnsucht wäre unerträglich.
Seine Tochter Anouk war acht Jahre alt, sein kleiner Sohn Tim sechs. Er liebte sie über alles. Er liebte auch seine Frau, auch wenn er in letzter Zeit das Gefühl hatte, es würde immer schwerer, Esther von seiner Liebe zu überzeugen. Sie mussten reden, heute. Dringend.
Familie bedeutete ihm alles. Aber er war so wie er war. Und Esther akzeptierte das. Das hatten sie sich bei ihrer Hochzeit versprochen, sich anzunehmen, so wie sie waren. In guten wie in schlechten Zeiten. Sie hatten sich auch versprochen, treu zu sein.
Sein Hochzeitsversprechen bedeutet ihm etwas, es waren keine leeren Worte. Damals vor zehn Jahren im Kasteel de Haar bei Utrecht, und auch heute nicht. Keine Worte, die dahingesagt wurden, weil es so schön feierlich klang und so romantisch, wie der Park der Burganlage, in dem sie gefeiert hatten. Als er sie ausgesprochen hatte, war er sich ihrer tiefen und verbindlichen Bedeutung bewusst gewesen. Er hatte sich auch noch selbst versprochen, alles für diese Ehe zu tun, was in seiner Macht stand. Er hatte es sich geschworen. Joris war glücklich mit Esther und er wollte, dass diese Ehe funktionierte. Um jeden Preis. Dafür wollte er alles tun. Das hatte er immer getan. Er hatte sich nichts vorzuwerfen.
„Godverdomme!“, fluchte er plötzlich laut. Er war bereits auf der A28 Richtung Amersfoort unterwegs, als ein weißer Lieferwagen dicht vor ihm einscherte und ihn zum Bremsen zwang. „Nur Bekloppte unterwegs hier!“ Bekloppte. Seine Gedanken schweiften zum gestrigen Einsatz auf dem Maarsumer Schlachtfest.
Er hatte die Schlachtfest-Gäste nach den Randalierern gefragt und wie üblich waren die Maarsumer sehr hilfsbereit und auskunftsfreudig gewesen. Er war nun 42 Jahre alt, seit 20 Jahren bei der Polizei, die meiste Zeit davon in den Niederlanden, und er hatte eines gelernt: Wer eine Frage stellt, bekommt meistens auch eine Antwort. Es war so einfach, wie wahr. Er war immer wieder erstaunt, was die Leute bereit waren zu erzählen, einfach nur weil man sie fragte. Je freundlicher man fragte, umso mehr konnte man in Erfahrung bringen. Die meisten Menschen kamen sich bedeutsam vor, vermutete er, wenn sie von der Polizei um ihre Beobachtungen und ihre Meinung gebeten wurden. Einige waren einfach nur froh, helfen zu können. Nur wenige waren gegen die Polizei eingestellt und noch weniger Menschen im Emsland hatten etwas gegen einen Niederländer in einer deutschen Polizeiuniform. Er fühlte sich wohl in Maarsum. Aber Utrecht war sein Zuhause. In weniger als zwei Stunden würde er dort sein. Und er freute sich so sehr, seine Familie wiederzusehen.
Dennoch gab es an diesem Morgen Dinge, die seine Vorfreude minderten. Esther weigerte sich immer noch, mit den Kindern zu ihm nach Maarsum zu ziehen. Sie hatten wieder einmal deswegen gestritten, als sie gestern per Videochat miteinander gesprochen hatten. Er war nun schon zwei Jahre ohne sie dort. Seine Stelle war gesichert und unbefristet und es sprach nichts dagegen, dass sie endlich zu ihm kamen. Anouk und Tim könnten in ländlicher Umgebung aufwachsen, wie er es sich als Kind für sich selbst gewünscht hätte. Utrecht war gefährlich für kleine Kinder, zumindest dort, wo sie wohnten, mitten im Zentrum in der Nähe der Oudegracht. Sie mussten unbedingt heute noch einmal darüber sprechen.
Es wurmte ihn außerdem, dass er die freigewordene Stelle als Hauptkommissar, für die er sich beworben hatte, nicht bekommen hatte.
„Enna Kolder!“, rief er wütend aus, während er den grauen Golf über den Knotenpunkt Hattemerbroek bei Zwolle lenkte. „Was ist das überhaupt für ein Name?“ Man hatte ihm vor drei Wochen mitgeteilt, dass seine Bewerbung sehr großen Eindruck gemacht habe und man sicher wäre, dass er diesen Posten ebenfalls bestens ausfüllen könne, man jedoch einer Kollegin aus Münster den Vorzug gegeben habe. Harald Fehrmann, sein Vorgesetzter aus Papenburg, hatte noch etwas von Frauenquote, Aufstockung des Personals und ein wenig längerer Berufserfahrung gemurmelt, aber da hatte er schon abgeschaltet. Er war enttäuschter, als er sich eingestehen wollte. Morgen würde er der Quotenfrau begegnen.
„Frauenquote! Dass ich nicht lache!“ Wieder sprach er es laut aus. Der Regen prasselte heftiger auf seine Windschutzscheibe und er stellte den Scheibenwischer eine Stufe schneller.
Der Posten hätte ihm zugestanden. Er leitete das Revier praktisch jetzt schon. Außer ihm kam niemand seiner Kollegen für die Stelle in Frage. Paul-Peter war zu jung, Bernd zu alt. Und Frauke war nun überwiegend in der Hauptstelle in Papenburg tätig. Und drei Jahre jünger als er. Den Personalmangel hätte man auch mit jüngeren Kollegen beheben können. Es gab keinen wirklichen Grund, jemanden von außerhalb zu holen. Das sagte ihm nur eines: Man wollte keinen Holländer in einer leitenden Position. Da nahm man lieber eine deutsche Frau. Mehr Berufserfahrung. Welche alte Schachtel man ihm wohl vorsetzen würde.
Sein Berufsalltag würde sich von nun an ändern und das gefiel ihm überhaupt nicht. Vielleicht sollte er doch kündigen. Zurück nach Utrecht zu seiner Familie. Das war eigentlich keine Option. Er war nicht der Typ, der gerne wechselte, zumindest nicht, wenn ihm die Arbeit und die Stadt gefiel. Aber vielleicht sollte er dennoch darüber nachdenken. Er hatte noch eine Stunde Zeit, dann wäre er am Ziel. Es wollte nicht aufhören zu regnen.
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Es war das zweite Mal heute, dass Enna sich ein Glas Wasser einschenkte, um eine Kopfschmerztablette zu nehmen. Übelkeit und Schwindel waren weitgehend verschwunden und so sah sie keinen Grund für einen Arztbesuch. Zumal sie nicht sicher war, ob der Schlag auf den Kopf die Ursache war, oder ein simpler Kater. Sie sah auch keinen Grund für das Einräumen und Einrichten ihrer Wohnung. Eine bessere Ausrede als Kopfschmerzen, um Lästiges zu verschieben, gab es nicht. Und dafür, sich eine Tasse Kaffee nach der anderen einzuflößen, während man es sich auf dem Sofa gemütlich machte.
Sie war mitten in der Nacht aufgewacht und hatte festgestellt, dass sie noch angezogen war. Ihre Kehle war ausgetrocknet und sie war aufgestanden, um zu trinken und sich auszuziehen. Bis sie gegen neun Uhr morgens durch den stechenden Schmerz am Hinterkopf aufgewacht war, hatte sie wieder fest geschlafen. Danach konnte sie, trotz anhaltender Müdigkeit, keinen Schlaf mehr finden. Es gewitterte den ganzen Morgen und sie hatte den Eindruck, dass es im Haus immer schwüler wurde.
Anne hatte bereits mehrfach versucht, sie anzurufen und Enna schickte eine kurze Textnachricht. Sie würde sie zurückrufen, wenn die Kopfschmerzen verschwunden waren. Eine aufgedrehte Anne, wie sie sie gestern erlebt hatte, konnte sie in diesem Zustand nicht ertragen. Sie schloss die Augen und ließ die Ereignisse des gestrigen Tages Revue passieren. Ein seltsamer Einstieg in ihre neue Karriere. Ein zukünftiger Mitarbeiter findet sie angetrunken, von einem Terrassenheizer niedergestreckt auf dem Boden liegend bei einem Stadtfest. Solche Dinge durften nicht zu Gewohnheit werden.
Sie blickte sich im Zimmer um. Es würde noch eine Menge Arbeit sein, bis sie sich hier wohlfühlte. Der Gedanke an Arbeit ließ das Hämmern in ihrem Kopf wieder einsetzen. Frische Luft würde guttun. Sie öffnete die Schiebetür zur Terrasse und trat mit ihrer Kaffeetasse unter die Terrassenabdeckung. Der Regen hatte aufgehört. Sie sog die frische, noch kühle Sommerluft ein.
Das Grundstück ihres kleinen Einfamilienhauses grenzte hinten an ein Waldstück. Sie blickte nach rechts und nach links. Keiner ihrer Nachbarn war zwischen den hohen Büschen und Lebensbäumen zu sehen. Nur perfekt geschnittener, hellgrüner Rasen blitzte hier und dort hindurch. Ihr eigener Rasen sah weniger gepflegt aus. Das Haus aus den Sechzigern hatte einem alten Herrn gehört, der ins Betreute Wohnen umgezogen war. Er hatte den Garten und das an das Haus angebaute Gewächshaus aus gesundheitlichen Gründen vernachlässigen müssen, hatte er ihr erzählt. Von allen Immobilien, die ihr angeboten worden waren, hatte ihr dieses Haus dennoch am besten gefallen. Auch wenn sie kein ausgemachter Gartenfan war, hatte sie sich sofort in das rote Backsteingemäuer auf dem 800-Quadratmeter-Grundstück verliebt. Es hatte sie an das Haus ihrer verstorbenen Großmutter erinnert.
Häuser wie dieses gab es viele in der Gegend. Aber nicht jedes hatte eine so günstige Lage. Es befand sich in einem Abstand zur Innenstadt, der leicht mit dem Fahrrad zu bewältigen war, und gleichzeitig mitten in der Natur durch den Mischwald, der sich an ihr Grundstück anschloss mit dem daran angrenzenden Teufelsmoor. Sie hatte vor, den Garten pflegeleicht umgestalten zu lassen und das Gewächshaus abzureißen. An dessen Stelle könnte sie ein Gartenhaus setzen, groß genug, um eine Party darin zu feiern. Mit all den vielen Freunden, die sie hier noch nicht hatte.
In Münster hatte sie einen bescheidenen Freundeskreis, der in erster Linie aus Leuten bestand, die sie auf der Polizeischule kennengelernt hatte. Die könnte sie dann hierher einladen. Ganz sicher würde sie ihre Münsteraner Clique bald vermissen.
„Moin!“ tönte es von der Seite. Es war Helmut Brackmann, ihr Nachbar zur Rechten. Mit Helmut hatte sie schon kurz gesprochen. Er war Rentner und lebte allein. Als sie ihm das erste Mal begegnet war, hatte sie geglaubt, den Prototypen des emsländischen Spießbürgers vor sich zu haben. Nachdem sie sich unterhalten hatten, stellte sie fest, dass der erste Eindruck nicht getäuscht hatte. Sie winkte hinüber. „Moin!“ Dann blickte sie an sich hinunter. Sie trug noch ihre geblümte Pyjamahose, darüber ein altes graues Tanktop, und Schlappen. Sie blickte wieder auf. Helmut war noch da.
„Na? Verschlafen?“ fragte er neugierig.
„Ist doch Sonntag!“ Enna versuchte zu lächeln. Helmut winkte und zog sich dann diskret zurück. Vermutlich war er jemand, der sich auch sonntags den Wecker stellte, um pünktlich in der Frühmesse zu sein. Es war gerade einmal elf Uhr. Da man sie von seinem Haus aus hier nicht sehen konnte, vermutete sie, dass er einen morgendlichen Rundgang durch seinen Garten gemacht hatte, um zu sehen, ob noch alle Blumen und Pflanzen an ihrem Platz waren. Und um dabei zufällig etwas von der neuen Nachbarin zu erspähen. Sie fragte sich, ob sie ungerecht gegenüber Helmut war. Vermutlich war sie das, entschuldigte dies aber mit ihren Kopfschmerzen. Sie nahm einen Schluck Kaffee. Er war kalt. Enna verzog angewidert das Gesicht, entleerte die Tasse ins Blumenbeet und ging wieder hinein.
Ihr Telefon klingelte, als sie es sich gerade wieder auf dem Sofa bequem gemacht hatte. Sie fragte sich, wer sie auf dem Festnetz anrufen würde, die Nummer hatte sie außer Anne und ihrer neuen Dienststelle noch niemandem gegeben. Eine unbekannte Papenburger Nummer im Display.
„Kolder.“
„Guten Morgen Frau Kolder, Harald Fehrmann hier.“ Harald Fehrmann war Polizeipräsident in Papenburg und ihr Chef. Die Tatsache, dass er sie persönlich am Sonntagmorgen anrief, verursachte sofort eine neue Kopfschmerzattacke.
„Guten Morgen Herr Fehrmann. Was kann ich…?“
„Frau Kolder, ich weiß, Sie haben heute noch dienstfrei,“ unterbrach er sie, „und ich störe nur ungern, aber es ist etwas passiert, das ihre Anwesenheit in der Dienststelle Maarsum, bzw. an einem Tatort, schon heute dringend erforderlich macht.“ Harald Fehrmann war ein Mann, den Sie schon beim ersten Kennenlernen während ihres Vorstellungsgesprächs als unsympathisch abgestempelt hatte. Seine Stimme war übernormal laut. Alles was er sagte, gab er mit der Präzision eines Pistolenschusses von sich, machte nie überflüssige Worte oder verwendete Floskeln. Smalltalk schien er ebenso wenig zu kennen. Ein harter Hund. Und ein verdienter Polizist, zweifelsohne. Umso mehr wunderte sie sich nun über sein angebliches Bedauern, sie am Sonntag zu stören.
„Was ist passiert?“, fragte sie nur, denn sie wusste, dass er von den Menschen in seiner Umgebung ebenfalls erwartete, präzise und ohne Umschweife zu sein.
„Leichenfund nahe des Duisterwald bei Maarsum. Weiblich, etwa 30 Jahre alt, mit Würgemalen am Hals und einer Kopfwunde. Vermutlich Mord. Die weiteren Details erfahren Sie von Kriminalhauptmeister Bernhard Kötter-Stroth, den ich bereits beauftragt habe, Sie von zu Hause abzuholen. Kriminaloberkommissar Sollewijn ist leider verreist, daher werden Sie das zunächst allein übernehmen müssen.“ Der Polizeipräsident sprach emotionslos. Enna erstarrte. Nicht dass sie sich nicht einen spannenden Fall zum Einstieg gewünscht hätte, aber gleich einen Mord! Sie konnte sich nicht erinnern, dass es in Maarsum oder Umgebung jemals einen Mord gegeben hatte.
„Selbstverständlich. Ich stehe zur Verfügung“, antwortete sie. Wenn auch nicht sofort, dachte sie, mit Blick auf ihr lässiges Outfit.
„Danke. Und viel Glück bei Ihrem ersten Fall.“ Damit legte er auf und ließ sie mit dem Mordfall allein. Sie marschierte so schnell es ihr Kopf erlaubte ins Schlafzimmer, wo sie die Umzugskisten nach geeigneter Kleidung für eine Mordermittlung bei Regenwetter durchwühlte. Es klingelte an der Haustür. Sie blickte aus dem Fenster auf die Straße. Es war der Streifenwagen. Ein Polizist in Uniform stand vor ihrer Tür. Enna zog sich eine Jeans über, sprang ins Bad, um sich die Haare zu bürsten und lief dann die Treppe hinab. Es klingelte wieder. Das würde heute nichts werden, mit dem gemütlichen Regentag zuhause. Eine Frau war getötet worden. Sie musste sofort los.
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Aus der Ferne war Donnergrollen zu hören, als Enna mit Polizeiobermeister Bernd Kötter-Stroth zur Ems hinunterstiefelte. Es hatte wieder angefangen zu regnen. Der Fundort, eine malerische Emswiese mit einer Böschung zur Ems hinunter, war nahe einem Waldstück gelegen und hatte etwas romantisches. Ein Ort, an dem man sich ein gemütliches Picknick vorstellen konnte, läge nicht eine tote Frau darin. Enna sog den Duft der nassen Erde ein, der sie an ihre Kindheit erinnerte. An ihre Streifzüge durch die feuchten Wiesen hinter ihrem Elternhaus, auf der Suche nach geheimnisvollen Orten, an denen sie sich phantastische Geschichten ausdachte.
Unermüdlich zog der Fluss vorbei. Regentropfen prasselten auf die nackte weiße Haut der Toten, die mit dem Gesicht nach unten unter einer Anhäufung aus Birkenreisig lag. Nur der Kopf und ein Bein schauten unter dem Gestrüpp hervor, wie unter einer Bettdecke aus Zweigen, die man nicht sorgfältig genug auf sie gelegt hatte.
Ungefähr zehn Personen hielten sich in der Nähe des Fundorts auf und starrten die neue Chefin der Maarsumer Polizei an, während sie mit ungewaschenen Haaren im Trenchcoat über die mit Wasser vollgesogene Wiese stapfte. Es blitzte ununterbrochen, entweder durch das Gewitter, das gerade durchzog oder durch den Polizeifotografen, der um die Leichenfundstelle herumlief wie ein Hütehund um eine Schafherde. Enna kam sich vor wie ein Filmstar im Blitzlichtgewitter, nur dass sich statt des roten Teppichs eine Fläche aus schwarzem Matsch zu ihren Füßen ausbreitete und ihre Füße nicht in eleganten Pumps, sondern in ehemals weißen Sneakern steckten.
„Was machen all die Leute hier?“, fragte sie sofort.
„Das sind hauptsächlich Spaziergänger“, meinte Kötter-Stroth. „Und ein paar Tierschützer, die drüben im Duisterwald kampieren.“
„Hat man die Leute schon befragt?“
„Nur die Spaziergänger, die Tierschützer sind gerade erst dazugekommen.“
„Passen Sie bitte auf, dass niemand in die Nähe der Toten kommt!“, bat sie ihn. „Und dass niemand hier irgendwelche Handyfotos schießt! Sperren Sie den Bereich ab!“ Sie glaubte nicht daran, dass all diese Leute hier zufällig spazieren gingen. Nicht in dieser Anzahl, nicht bei diesem Wetter. Sie hasste Gaffer. Im Zeitalter des Handys war eine Neuigkeit wie ein Mordfall so schnell verbreitet, als hätte sie jemand von einem Maarsumer Kirchturm ausgerufen, vermutlich schneller. Den Tierschützern würde sie später einen Besuch abstatten. Personen, die sich nachts hier im Wald aufgehalten haben, könnten wichtige Zeugen sein.
Enna sah sich den Kopf der Toten an. Das Gesicht war kaum zu erkennen, da der starke Regen die Erde hochgespritzt hatte und lange nasse Strähnen ihres blonden Haares es verdeckten. Der schwarze Dreck wirkte wie zerlaufenes Mascara in ihrem Gesicht. Ihr Kopf lag auf der Seite, als ob sie mit geöffneten Augen schliefe. Man konnte noch erkennen, dass sie Lippenstift trug, knallrot, vermutlich wasserfest. Kleidung war unter dem Gestrüpp nicht zu sehen, ihr Körper schimmerte schneeweiß durch die schwarzen Zweige hindurch. Enna vermutete, dass sie schon mindestens 24 Stunden tot war. Fliegen hatten bereits angefangen Eier auf ihr zu legen, wie das Vorhandensein einiger Maden zeigte. Bei warmem Wetter wie gestern, konnte das sehr schnell gehen. Sie schaute sich in der Nähe um. Nichts deutete darauf hin, dass der Mord hier passiert sein könnte.
Die Ems führte zu dieser Jahreszeit wenig Wasser und strömte gemächlich dahin. Die Männer der Spurensicherung und uniformierte Beamte waren damit beschäftigt die Umgebung abzusuchen. Sie wollte warten, bis der Fotograf fertig war, bevor sie die Zweige weiter entfernte. Und sie würde dafür sorgen, dass die Menschen hier verschwanden. Sie hatte noch nicht oft mit Mord zu tun gehabt. Aber in den Fällen, die sie in Münster bearbeitet hatte, hatte sie große Empathie für die Opfer empfunden und eine tiefe Trauer. Gefühle, die sie nicht abschalten konnte, obwohl das für die Lösung des Falles besser gewesen wäre. Ein tiefes Gefühl des Unrechts und der Unzufriedenheit hatte sie gequält, wenn ein Fall nicht gelöst werden konnte. Aber das gehörte zu ihrem Beruf. Es hatte gut getan, mit Rüdiger über solche Dinge zu reden. Er hatte sie verstanden. Er kannte sich damit aus. Sie vermisste ihn.
Was ist dir nur passiert, fragte sie, als sie die Leiche betrachtete und schwor ihr, es herauszufinden.
„Es ist doch hier nichts am Fundort verändert worden?“ fragte sie ihren Kollegen Kötter-Stroth.
„Soweit ich weiß, nicht.“
„Was heißt, soweit Sie wissen?“
„Da müssen Sie wohl den Herrn fragen, der die Tote gefunden hat. Wir haben hier natürlich nichts verändert.“ Er schien ein wenig beleidigt wegen der Frage, aber genau konnte sie das nicht feststellen. Kötter-Stroths Augen waren hinter der Brille kaum zu erkennen. Seine Brillengläser waren mit Wassertropfen gesprenkelt.
„Und wer ist der Herr?“ Enna hasste es, wenn sie jemandem jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen musste. Das war schon vorhin im Streifenwagen so, als sie sich mit Kötter-Stroth bekannt gemacht hatte. Der 60-jährige Polizist hatte sie freundlich willkommen geheißen, aber Details zum Fall hatte sie nur auf Nachfrage erhalten. Immerhin war sie nun seine Chefin und sie erwartete, dass jeder spurte. Sie hatte sich vorgenommen, eine freundschaftliche, aber auch strenge Chefin zu sein. Das hatte sie von Rüdiger gelernt.
„Der Herr Haverland hat sie gefunden. Er steht dort hinten beim Streifenwagen.“ Sie sah in der Ferne einen Mann in Reitstiefeln auf und ab gehen. Sein Pferd graste in einiger Entfernung und ein mittelgroßer, brauner Hund lief um ihn herum. „Er hat schon danach gefragt, gehen zu dürfen. Hat wohl noch dringendes in seinem Betrieb zu erledigen.“
„Am Sonntag? Gut, ich spreche gleich mal mit ihm!“ Gab es denn hier niemanden, der am Sonntag ausspannen wollte?
„Die Forensik ist übrigens schon unterwegs.“
„Gut“, sagte Enna nur. Daran hatte sie noch nicht gedacht. Die Spurensicherung war längst vor Ort, ein Rechtsmediziner erschien jedoch nicht immer am Tatort. Normalerweise reichte eine Untersuchung in der Pathologie aus. Aber manche Rechtsmediziner fanden es hilfreich, das Opfer in der Umgebung des Fundorts zu untersuchen. Das gibt ihnen manchmal weitere Aufschlüsse. Enna betrachtete das als großes Engagement für den Fall und war dankbar. Und das an einem Sonntag. Diese Person hatte auf jeden Fall jetzt schon Pluspunkte bei ihr.
„Bei dem Regen werden wohl nicht viele Spuren an ihr hängenbleiben“, meinte Kötter-Stroth dann. Enna nickte.
„Wenn sie vergewaltigt worden ist, könnten wir Glück haben.“
„Sieht ja ganz danach aus. Wer macht sowas?“ Kötter-Stroth schüttelte fassungslos den Kopf. Manchmal ließ ein Mörder aber auch die Kleidung verschwinden, um keine Spuren zu hinterlassen. Sie fragte sich allerdings auch, warum die Tote nicht einfach in die Ems geworfen wurde. Es hätte sicher länger gedauert, bis man sie gefunden hätte. Vielleicht wäre sie auch für immer in den Fluten versunken.
Ein junger Mann mit langem Vollbart kam auf sie zu. Kötter-Stroth stellte ihn vor.
„Frau Kolder, das ist der Kommissar-Anwärter Paul-Peter Schellenberg von der SpuSi.“ Der Mann war in Zivil und kaum 30 Jahre alt.
„Sie sind der Leiter der SpuSi?“, fragte sie ihn ungläubig. In der Ferne hörte man wieder Donnergrollen.
„Nein, das ist der Herr Ollenschläger. Der ist aber leider längerfristig erkrankt, ich vertrete ihn.“
„So, aha. Sehr schön. Könnten Sie dann hier bitte einen Sichtschutz aufstellen? Am besten ein Zelt, wenn ich mir das Wetter so ansehe.“ Enna hätte wirklich freundlicher zu ihm sein können. Sie merkte, dass sie nervös war. Ihr erster Mordfall als leitende Ermittlerin machte sie nervös. Und trieb ihre Kopfschmerzen auf die Spitze.
„Wie es aussieht, ist die Frau unbekleidet, nicht wahr?“, fragte sie ihn dann.
„Es sieht so aus“, antwortete Schellenberg freundlich.
„Das heißt vermutlich werden wir auch keine Papiere bei ihr finden“ Noch während sie diese Schlussfolgerung aussprach, merkte sie wie absurd diese war.
„Oh, wir wissen wer sie ist“, meinte der junge Mann. „Der Entdecker der Toten kennt… äh, kannte sie.“ Enna sah ihn mit großen Augen an. Sie hatte vergessen, dass in einer Kleinstadt wie Maarsum, beinahe jeder jeden kennt. „Die Tote ist Susanna Schnieders-Kösters, die Frau von Jens Schnieders, eines Wurstfabrikanten aus Maarsum.“
„Und das haben Sie vom Herrn, wie war der Name, Haverland?“, fragte Enna erstaunt. Schellenberg nickte. „Es hat aber vermutlich noch niemand den Ehemann benachrichtigt, nehme ich an?“ Ihr war klar, dass das ihre Aufgabe war, die sie so schnell wie möglich erledigen musste. Bevor die Betroffenen es von jemand anderem erfuhren. Sie war sicher, dass sich die Nachricht von einem vermeidlichen Mord wie ein Lauffeuer in Maarsum verbreiten würde.
„Nein, noch nicht!“ Schellenberg schüttelte den Kopf. Er würde nun das gleiche denken wie sie, da war sie sicher. Es war ihre Aufgabe.
„Wann wird die KTU denn voraussichtlich eintreffen?“ Enna hätte noch gerne ein paar Worte mit dem Mediziner gesprochen, bevor sie die undankbare Aufgabe der Benachrichtigung der Angehörigen übernahm. Schellenberg wandte sich zu seinem Kollegen um.
„Bernd? Weißt du wann Jo hier eintreffen wollte?“ Bernd Kötter-Stroth zuckte mit den Schultern.