Kitabı oku: «Das Buch der Gaben», sayfa 7

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Abgründe

Jever flitzte wieder voraus, aber Tommy achtete darauf, dass er in Sichtweite blieb. Und dann fanden wir etwas, womit wir hier nun gar nicht gerechnet hatten.

„Ein Apfelbaum!“, rief Janine fassungslos und zeigte auf einen Baum direkt vor uns am Wegesrand, der sich völlig von den anderen in diesem Urwald abhob. Sein Stamm wuchs halb aus dem Pfad, halb verschwand er im Dickicht zu unserer Rechten. Zuerst glaubten wir Janine nicht so recht, doch als wir näher kamen sahen wir, dass es tatsächlich Äpfel waren, die an seinen Ästen hingen. Dicke runde, grünrote und verdammt lecker aussehende Äpfel.

Neugierig und auch ziemlich hungrig betrachteten wir die Früchte, die so zahlreich in großen Trauben an den Ästen hingen, dass sie diese hinunterdrückten.

„Was meint ihr“, sagte Tommy, „ob die auch so zäh sind wie die anderen Pflanzen?“

„Probieren geht über studieren“, dozierte ich und zog die Machete hervor. „Ich hab richtig doll Hunger, vielleicht hat der Baum Mitleid.“

Mit der Hand kam ich nicht an die Früchte heran, aber in Reichweite der Machete hingen genügend Äpfel. Die anderen gingen ein Stück zurück, weil ich gewaltig ausholte. Ich dachte, ich probier’s gleich mit Gewalt, schließlich war mir der Versuch von vorhin, die Spinne zu umgehen, noch in guter Erinnerung. Da hatte Tommys Machete gar nichts genutzt. Mit Schwung schlug ich zu, und zu meiner größten Überraschung durchdrang die Machete den von mir ausgesuchten Ast wie ein Stück Butter, und etwa zwei Dutzend Äpfel purzelten von oben herab und mir auf den Kopf.

Meine Freunde schüttelten sich vor Lachen, während ich mir den schmerzenden Schädel rieb und verblüfft den glatten Schnitt betrachtete, den die Machete im Baum hinterlassen hatte. Jever rannte zu einem der davon kullernden Äpfel, schnappte ihn sich und machte sich darüber her. So faul mein Hund auch sonst war, die Gelegenheit ließ er sich nicht entgehen. Den schönsten Apfel zwischen den Zähnen watschelte er zum Wegesrand und machte es sich bequem.

„Hey, die sind lecker!“, rief Sanne. Schon hatte sie einen Apfel aufgehoben und biss herzhaft hinein. Wir hatten alle gewaltigen Hunger und auch Durst, schließlich war unsere erste Pause am See, als wir die Chipstüten und die beiden Mineralwasserflaschen geleert hatten, schon eine ganze Weile her.

„Meinst du wirklich, dass die nicht giftig sind?“, fragte Janine ängstlich.

Tommy nickte kauend. „Verlass dich drauf. Jever schmeckt’s, und außerdem glaube ich, dass der Baum hier nicht ganz aus Zufall steht. Vielleicht ... “, meinte er augenzwinkernd, „ ... möchte jemand, dass wir uns stärken.“

Ich drehte mich einmal um die eigene Achse. „Wo ist denn dann der Kühlschrank? Ich hätte gern ´ne Cola!“

„So weit kommt’s noch!“, grinste Tommy. „Wenn, dann bitte ein schönes kühles Wasser.“

Jeder von uns verdrückte zwei von den knackigen Äpfeln, die nebenbei auch den ärgsten Durst löschten. Dann packte Tommy noch mal zwei für jeden in seinen Rucksack.

„Für unterwegs“, sagte er stöhnend, als er den Sack aufhob und merkte, wie schwer er jetzt wieder war. Ich bot mich an, das Teil für eine Weile zu übernehmen, aber er winkte ab.

„Lass nur, wenn’s mir zu schwer wird, sage ich euch Bescheid, und wir essen den Inhalt einfach auf.“

Mit neuer Energie ging es weiter. Ich fühlte mich merkwürdig sicher. Der Wald machte mir keine Angst mehr, und die Gedanken an zu Hause hatte ich erfolgreich verdrängt. Ich übernahm die Spitze unserer kleinen Bande und ging entschlossen voran.

Etwa hundert Meter vor uns machte der Pfad einen scharfen Knick. Als wir an diese Stelle kamen und uns nach rechts wandten, erblickten wir eine unglaublich schöne Savannenlandschaft. Wenige Meter vor uns endete der Urwald und gab den Blick frei auf eine gelbgrüne Grasebene. Bis zum Horizont war es flach, und die Luft flimmerte in der Ferne über dem Boden. Unzählige Termitenhügel in den merkwürdigsten Formen wuchsen aus dem Boden. Hier und da fanden sich große, uralt scheinende Bäume, die ihre blattlosen, knochigen Äste wie Finger in den Himmel reckten. Ein leichter, warmer Wind kam uns entgegen. Schweigend standen wir da und versuchten, diesen Eindruck auf uns einwirken zu lassen.

Sanne brach als erste den Bann.

„Affenbrotbäume!“

„Richtig“, sagte Tommy anerkennend. „Die wachsen in Afrika. Es ist schon komisch, da kommen wir geradewegs aus Costa Rica und laufen direkt nach Afrika.“

„Und wo sollen wir jetzt langgehen?“, fragte Janine.

„Einen Weg, der uns zeigt, wo es weitergeht, scheint es hier ja nicht zu geben“, meinte Tommy. „Oder sieht wieder jemand was, was ich nicht sehe?“

Angestrengt suchten wir die Gegend ab, aber es gab nichts, was sich vielleicht nur für einen von uns erschlossen hätte. Auf einmal hatte ich eine Eingebung.

„Sag mal, Tommy, bei so einem weiten Gelände könnte uns doch vielleicht dein Kompass helfen, die Richtung zu halten.“

„Hey, nicht schlecht, Herr Seefeld!“, rief er. Doch dann grübelte er über die Idee nach. „Obwohl wir hier drin das Magnetfeld der Erde wahrscheinlich gar nicht messen können. Aber egal, einen Versuch ist es wert.“

Leise vor sich hin schimpfend räumte er wieder mal den Rucksack aus. Doch wir halfen ihm ein wenig und vertilgten jeder noch einen Apfel. Plötzlich schlug sich Tommy die Hand an die Stirn.

„Mann! Den hatte ich ja hier vorne rein gesteckt!“

Er öffnete die kleine aufgesetzte Tasche an der Vorderseite des Rucksacks, und schon hielt er den Kompass in der Hand.

„Ich werde alt“, murmelte er vor sich hin, während wir ihm lachend zusahen. „Das war das letzte Mal, dass ich diesen blöden Sack ausgeräumt habe. Halt mal ... “, sagte er und hielt mir den Kompass hin.

Ich dachte, es wäre irgend so ein billiges Ding aus dem Kaufhaus, aber der Kompass wog richtig schwer in der Hand. Ich drehte ihn um und sah, dass sogar ein Herstellername auf dem Boden eingraviert war.

„Er ist aus Messing und hat bruchfestes Glas“, sagte Tommy. „Er hat meinem Vater gehört. Meine Mutter hat ihn in seinen Sachen gefunden und mir geschenkt. Das sollte eigentlich ein richtig guter sein. Wenn der nicht geht, dann geht keiner.“

Ich nahm den Kompass zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt ihn vor mich.

„Muss ich irgendwas beachten?“, fragte ich Tommy. „Irgendeine Feststellschraube lösen oder so, wie bei einer Stoppuhr?“

„Nein“, antwortete Tommy, der inzwischen seinen Rucksack wieder auf den Rücken verfrachtet hatte. „Da gibt's nichts zum Einstellen. Einfach schauen, wo Norden ist.“

Ich dachte, Norden ist auf der Karte immer oben oder hier draußen eben vorne, also hielt ich das Gerät so vor mich, dass das große „N“ geradeaus zeigte. Aber bevor mir Tommy über die Schulter sehen und mich korrigieren konnte, fiel mir ein, dass die Idee ziemlich dumm von mir war. Schließlich zeigt die Nadel eines Kompasses immer nach Norden, egal, wo sich das „N“ auch gerade befindet. Ich versuchte, möglichst ruhig dazustehen und das Ding gerade zu halten. Und dann bescherte mir die Nadel eine Überraschung. Sie begann, sich langsam im Uhrzeigersinn zu drehen.

„Tommy!“, rief ich. „Sieh dir das an!“

Natürlich waren auch Janine und Sanne neugierig, was sich da tat und schauten mir ebenfalls über die Schulter. Erst war es eine langsame und zittrige Bewegung. Doch dann begann sich die an ihrem einen Ende zu einem Pfeil geformte Nadel immer schneller zu drehen. Sprachlos starrten wir auf den Kompass. Die Geschwindigkeit nahm zu, und nach wenigen Sekunden raste das Ding wie ein Propeller, dass ich schon dachte, es würde gleich seinen Geist aufgeben.

Dann, im Bruchteil einer Sekunde, blieb der Zeiger stehen und verharrte regungslos. Seine Spitze zeigte Richtung Nord-West, zumindest, wenn man davon ausging, dass Norden in der Richtung lag, in die ich den Kompass ausgerichtet hatte. Wie auch immer, die Pfeilspitze wies in die Richtung schräg links von uns und rührte sich nicht um einen Millimeter.

„Netter Hinweis“, murmelte Janine.

„Hm?“, machte ich.

„Also, wenn ihr mich fragt, dann heißt das nichts anderes, als dass uns jemand mitteilt: Da geht's lang!“

„Würde mich in dieser Welt absolut nicht mehr wundern“, stimmte Tommy zu. Sanne schaute in die uns anscheinend vorgegebene Richtung und zuckte die Schultern.

„Ist doch eh egal, wo wir lang gehen. Sieht doch überall gleich aus.“

Da hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Hinter uns lagen der Wald und der Pfad. Und der, da war ich mir ziemlich sicher, würde in nicht allzu langer Zeit hinter uns zugewachsen sein. Und voraus gab es nichts als Ebene ohne irgendeinen erkennbaren Trampelpfad oder Hinweis, wohin wir uns zu wenden hatten.

„Siehst du“, grinste Tommy mich an. „Ich wusste doch, warum ich ihn mitnehmen sollte.“

Da ich nun schon mal den Kompass in der Hand hatte, fiel mir auch die Aufgabe zu, die Vorhut zu machen. Wir diskutierten gar nicht mehr, ob wir nun diese Richtung einschlagen sollten oder nicht. Wir gingen los.

Die Luft roch nach trockenem Gras, und dann und wann mischte sich auch eine Art Wildgeruch darunter. Zumindest meinte ich das, aber ich sprach es nicht aus, denn ich wollte die anderen nicht beunruhigen. Wir gingen einfach querbeet, richteten uns nur nach der sturen Anzeige unseres Kompasses. Bei einem besonders schönen Exemplar von Termitenhügel blieben wir stehen und betasteten den grandiosen Bau der kleinen Insekten. Etwa vier Meter wuchs der Hügel aus der Savanne, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass solch kleine Tiere ein derartiges Bauwerk zustande brachten. Doch so sehr wir auch suchten und an der Außenseite klopften, eine Termite zeigte sich nicht. Diese Welt schien unbewohnt. Na, mit Ausnahme unserer kleinen Spinne!

Die Veränderung kam unmerklich. Das Gras wurde kürzer und die Termitenhügel spärlicher. Der leichte Wind frischte etwas auf, was uns nicht ungelegen kam, trocknete er doch den feinen Schweißfilm, der sich auf unserer Haut vom Wandern gebildet hatte. Nach weiteren fünf Minuten ließen wir auch den letzten Affenbrotbaum hinter uns, und das Gras verschwand bis auf wenige Büschel ganz und wurde ersetzt durch trockenen, harten Sandboden. Angestrengt suchten wir mit den Augen den Horizont nach Anzeichen ab, die uns einen Hinweis auf unser mögliches Schicksal geben konnten. Sanne entdeckte es als erste.

„Was ist das?“, rief sie und deutete voraus.

„Was meinst du?“, fragten wir beinahe gleichzeitig.

„Die dunkle Linie da vorn!“

Ich ließ die Hand mit dem Kompass sinken und schaute angestrengt zum Horizont. Sanne hatte Recht. Am Rand unseres Blickfeldes schien eine Linie gezogen. Die sandfarbene Ebene erstreckte sich bis zu diesem dunklen Rand ohne besondere Erhebungen.

„Nun denn“, meinte Tommy. „Sehen wir nach.“

Beinahe ungestüm setzten wir einen Fuß vor den anderen. Da es nicht mehr viel Abwechslung in der Landschaft gab, hielt ich den Blick auf meine Schuhe gerichtet. Der Boden wurde immer sandiger, und bei jedem Schritt stob eine kleine Staubwolke auf. Rings um uns war es wieder still, und ich hörte nichts außer den Schlurfgeräuschen meiner Freunde und das Hecheln unserer Hunde. Doch nach wenigen Minuten mischte sich ein fremdes Geräusch unter die mir vertrauten. Es war wie ein ständiges leises Rauschen in den Ohren. Eine Weile begleitete mich das Geräusch, ohne dass ich ihm besondere Beachtung schenkte. Ich musste mich förmlich zwingen, den Blick von den Füßen zu wenden, die so schön gleichmäßig vor sich hin tappten.

„Hört ihr das auch?“, fragte ich eine Spur zu laut.

„Und ob ich das höre!“, sagte Tommy. „Und nicht nur das. Seht mal da ... “

Wir trauten unseren Augen nicht. Das, was wir vorhin noch als Linie wahrgenommen hatten, war auf einmal förmlich auf uns zugesprungen und entpuppte sich als regelrechter Bruch in der Ebene. Dort hinten tat sich ein Spalt auf, der die Landschaft vor uns teilte. Jetzt war es auch keine gerade Linie mehr, sondern ein Graben zog sich wie willkürlich abgebrochen im Zick-Zackkurs von links nach rechts. Und zwar so weit der Horizont reichte.

Unwillkürlich verlangsamten wir unsere Schritte. Tommy rief Jever an seine Seite. Um Lazy brauchte ich mir dagegen keine Sorgen zu machen, denn der tappte etliche Meter hinter uns her. Schritt für Schritt kamen wir dem Einschnitt näher. Und je näher wir kamen, desto deutlicher wurde, dass es sich nicht um einen Graben handelte, sondern um einen Abgrund.

Das Geräusch, das sich bislang nur als leises, störendes Rauschen in unseren Ohren bemerkbar gemacht hatte, verstärkte sich. Mit jedem Meter, den wir der Schlucht näher kamen, und jetzt war ich mir ganz sicher, dass es sich um eine Schlucht handelte, nahm die Intensität des Rauschens zu. Was erwartete uns dort?

Dann bekamen wir Gewissheit. Ein Abgrund tat sich vor uns auf! Die sanft und friedlich scheinende Ebene wurde unterbrochen von einem etwa dreißig Meter breiten Riss im Erdboden. Jetzt, nur wenige Meter vom Rand entfernt, erschreckte uns der Anblick des zerrissenen Bodens gewaltig. Als wir nahe genug heran waren, sahen wir die schroffen Felswände auf der gegenüberliegenden Seite des Bruchs. Und mit jedem Schritt, den wir uns an den diesseitigen Rand vortasteten, erfassten wir mehr von der gähnenden Tiefe der Schlucht.

Ich folgte Tommy vorsichtig, der sich schon bis zum Rand herangewagt hatte. Jever und Lazy blieben bei den Mädchen, was Lazy sichtlich freute, Jever dagegen absolut nicht behagte. Aber bei ihm konnte man ja nie wissen, ob er nicht wieder einen seiner berühmten Hopser ansetzen würde.

Zwei Meter vor dem möglichen Schritt ins Nichts blieb ich neben Tommy stehen und starrte atemlos in die Tiefe. Augenblicklich erfasste mich ein Schwindelgefühl, obwohl ich weit genug vom Rand entfernt stand. Es war gigantisch. Es fiel mir schwer, die Tiefe zu schätzen, aber hundert Meter ging es bestimmt steil nach unten. Und dann entdeckte ich auch die Ursache für das laute Rauschen, das hier vorn beinahe wie ein Donnern an unsere Ohren drang. Am Boden dieser Schlucht schoss ein Fluss in wilden Stromschnellen dahin. Selbst aus dieser Entfernung konnte ich sehen, dass das Wasser große Felsbrocken umtoste, die vermutlich aus der Wand gefallen waren, als sich dieser Riss in der Landschaft gebildet hatte. Was auch immer hier passiert sein mochte, es mussten unglaubliche Kräfte am Werk gewesen sein.

Ich blickte wieder auf und nach links. Soweit das Auge reichte schlängelte sich die Schlucht und verlor sich dann am Horizont. Als hätten sich zwei Riesen um einen gewaltigen Keks gestritten und diesen dann in der Mitte zerbrochen. Tommy stieß mich an und ich erschrak.

„Sieh mal da!“, rief er mir durch das Rauschen zu.

Ich schaute nach rechts, und im selben Augenblick fühlte ich ein flaues Gefühl im Bauch. Vielleicht zwanzig Meter weiter rechts befanden sich drei, vier in den Fels gehauene Stufen auf unserer Seite. Sie führten an der Felswand hinunter zu einem kleinen Vorsprung, und von dort aus spannte sich eine Hängebrücke über den Canyon!

„Mann!“, rief ich, und gleichzeitig schoss mir das Adrenalin von den Waden aufwärts bis in meine Arme und Hände. Schon die Vorstellung, da rüber zu müssen, löste in meinem Körper eine Abwehrreaktion aus.

„Na, was denn!“, rief Tommy zurück. „Wo ein Weg ist, ist auch ein Wille!“

„Schönen Dank“, grinste ich und zeigte zurück Richtung Sanne und Janine. „Und wer bringt das den beiden da bei?“

Wir mussten unsere Stimmen ziemlich heben, da das Tosen des Stromes von unten laut zu uns nach oben drang. Tommy machte eine abwartende Geste mit der Hand und gab mir zu verstehen, dass er etwas ausprobieren wollte.

„Ich geh’ mal runter und seh mir das Ding an. Warte hier auf mich.“

Das wollte ich natürlich nicht, aber dann wurde mir klar, dass uns die Mädchen nicht sehen konnten, wenn wir beide die Stufen zur Brücke runtersteigen würden. Also entschied ich mich notgedrungen, oben zu warten. Ich beobachtete Tommy mit gemischten Gefühlen, wie er vorsichtig den Abstieg begann und winkte den Mädchen beruhigend zu, dass sie sich keine Sorgen machten, wenn Tommy auf einmal verschwand.

Wider Erwarten schien es Tommy nicht schwer zu fallen, die gefährlich aussehenden Felsstufen hinabzusteigen. Ohne Probleme erreichte er die Plattform und begutachtete die Aufhängung der Brücke. Er riss und schüttelte an den Seilen. Dann nahm er die beiden Führungsseile in die Hände und mir blieb das Herz stehen. Ich wollte „Hör auf!“ schreien, aber ich bekam es nicht heraus.

Und dann vertraute ich Tommys Instinkt. Wenn er keine Angst hatte, dann war es nicht wirklich gefährlich. Mit den Händen an den Seilen machte er erste vorsichtige Schritte auf die Hängebrücke hinaus. Soweit ich es von meinem Standpunkt aus sehen konnte, bestand der Boden der Brücke aus Holzbohlen. Ganz so, wie man es immer in den Abenteuerfilmen sehen konnte. Um den Seiten Halt zu geben, waren dicke Lianen zu einer Art Geländer geflochten, und den Abschluss machten die beiden Führungsseile, an denen man sich festhalten konnte. Die Brücke überspannte die Schlucht leicht nach unten gebogen. Sie schwankte etwas im Wind, der hier Gott sei Dank nur mäßig wehte. Tommy wagte sich etwa zehn Meter weit vor, löste dann eine Hand vom Seil und winkte mir zu. Also alles soweit in Ordnung. Ich schaute nach unten. Wieder ereilte mich das Gefühl, ins Bodenlose zu fallen. Die Brücke hielt Tommy aus. Aber würde sie auch alle auf einmal tragen?

Tommy kam zurück.

„Wie sieht’s aus?“, fragte ich ihn gespannt.

„Die trägt eine ganze Fußballmannschaft“, sagte er, während er einen Blick zurück warf. „Nur runtergucken sollte man nicht. Da ist selbst mir schwindlig geworden.“

„Wie tröstlich“, meinte ich grinsend. „Da ist selbst dir schwindlig geworden! Und du machst sonst Bungee-Jumping!“

Tommy lachte.

„Hab ich dir schon gesagt, dass wir beide uns nur mit einer Hand festhalten können, wenn wir da rübergehen?“

Ich guckte ihn verblüfft an.

„Warum das denn?“

„Na, kannst du dir vorstellen, dass Jever und Lazy da sicher rüberkommen? Ein Fehltritt und sie fallen runter. Wir werden sie auf den Arm nehmen müssen.“

Mir wurde ganz anders.

„Mach nicht so ein ängstliches Gesicht!“, lachte Tommy. „Sonst musst du Sanne und Janine auch noch auf den Arm nehmen!“

Tommy hatte gut reden. Mach nicht so ein ängstliches Gesicht! Hundert Meter Nichts unter mir, nur eine Hand zum Festhalten, einen trägen Hund unter dem Arm und womöglich auf eine verfaulte Bohle tretend, da sollte ich kein ängstliches Gesicht machen? Ich folgte Tommy kopfschüttelnd zu den Mädchen.

„Es gibt einen Weg über die Schlucht“, eröffnete Tommy den beiden, die uns erwartungsvoll anblickten.

„Was für einen Weg?“ Janine horchte auf.

„Es gibt eine Hängebrücke, ein Stück unterhalb des Randes.“

„Oh Gott!“, rutschte es Sanne heraus. „Da kriegst du mich nie rüber! Mir wird schon schwindlig, wenn ich bei uns zu Hause aus dem Fenster sehe! Und das ist nur im dritten Stock!“

„Eine Hängebrücke, so stark und fest, dass dreißig Elefanten drüberrennen könnten.“ Tommy blieb unerschütterlich, nickte aber verständnisvoll.

„Meinst du, du hättest weniger Angst, wenn du nichts sehen könntest?“

Sanne überlegte zweifelnd, doch Tommy hakte sofort nach.

„Was ist, wenn du die Augen zumachst?“

„Ich weiß nicht“, druckste Sanne.

Auf Tommys Gesicht erschien ein Leuchten. Er hatte eine Idee.

„Hey, denk einfach daran, dass es vorhin bei Joe auch geklappt hat!“

„Wie meinst du das?“

„Na, am See! Joe hat die Augen zugemacht, und durch war er!“

Sanne sah nicht sehr begeistert aus.

„Aber dann hat er sie wieder aufgemacht! Ich schaffe das bestimmt nicht, meine Augen die ganze Zeit zusammenzukneifen.“

Tommy grinste.

„Kein Problem. Dann binden wir dir halt die Augen zu!“

Er nahm eines der Handtücher aus dem Rucksack und band es Sanne um den Kopf. Das sah zwar urkomisch aus, aber es erfüllte seinen Zweck. Durch das Ding konnte sie nun weiß Gott nichts mehr erkennen.

„Siehst du was?“

„Nein.“

„Gut. Dann nimm mal meine Hand, und wir gehen los.“

„Halt!“, rief ich. Mir war ein Gedanke gekommen.

„Wir könnten uns alle aneinander binden. An den Seiten der Brücke hängen genug lose Seile herum. Außerdem müssen Tommy und ich Jever und Lazy auf den Arm nehmen, da ist es sowieso besser, wir sichern uns ab.“

„Gute Idee“, meinte Tommy. „Was meinst du, Sanne? Ich gehe vor, und du kommst gleich hinter mir. Unsere Jeans können wir an den Gürtelschlaufen mit den Seilen zusammenbinden. Wie ein Bergsteigerteam. Dann kann ich auch den Rucksack auf den Rücken und Jever auf den Arm nehmen.“

Sanne zuckte hilflos mit den Schultern. „Macht, was ihr wollt. Hauptsache, ich sehe nichts!“

Die Entscheidung war gefallen. Tommy ging noch einmal vor zur Hängebrücke und entfernte mit der Machete ein paar überflüssige Seile, die bei der Verknüpfung der Seitenteile über geblieben waren. Als er zurück war, verbanden wir uns mit Hilfe der Seile an den Schlaufen unserer Jeans, dass zum Vordermann ein Abstand von ungefähr einem Meter blieb. Dann prüften wir die provisorischen Verbindungen noch einmal durch kräftiges Zerren.

Das sah schon komisch aus: Wir Vier aufgereiht an einer Schnur, zwischen uns ein Mädchen mit einem dicken Handtuch um den Kopf, und dann noch zwei Hunde auf den Armen, von denen der eine genüsslich faul seinen Kopf auf meine Schulter legte und der andere erbost kläffte, weil er nicht rumhopsen konnte!

„Seid ihr soweit?“, fragte Tommy.

„Wir sind soweit“, antwortete Sanne mit fester Stimme.

„Gut. Wir sollten aufpassen, dass wir gleichmäßig laufen mit den Seilen am Körper. Stolpern sollten wir nun nicht gerade.“

Vorsichtig setzten wir uns in Bewegung. Tommy ging voraus, Jever unter seinen linken Arm geklemmt. Der Kleine guckte etwas verwirrt und schien nicht zu verstehen, warum er denn nicht laufen durfte. Hinter Tommy kam Sanne, dann folgte Janine. Ich machte das Schlusslicht, und auch ich klemmte mir meinen Hund unter den linken Arm. Ich dachte, mein rechter ist stärker zum Festhalten. Aber ein Basset ist gar nicht so leicht wie man denkt, und ich wusste schon jetzt, dass mein Arm lahm werden würde, bevor wir drüben waren.

Sanne schien sich ganz in ihr Schicksal ergeben zu haben. Sie hatte Tommy die Hand auf die Schulter gelegt und ließ sich führen. Als wir die Stufen erreichten, erklärte ihr Tommy, dass sie kurz loslassen müsste, denn alle zugleich konnten wir nicht hinunter mit dem Seil um die Hüften. Tommy ging zuerst und reichte dann Sanne die Hand. Vorsichtig, um die anderen nicht mit hinunterzuziehen, überwanden wir die wenigen Stufen bis zur Plattform.

„Seid ihr immer noch bereit?“

Kopfnicken. Sanne legte beide Hände auf Tommys Schultern.

„Das geht so nicht, Sanne“, sagte er. „Es ist besser, du hältst dich rechts und links mit beiden Händen am Geländer fest. Das ist viel weniger wacklig. Glaubst du, du schaffst das?“

Sanne bekam kein Wort heraus, aber ihr Kopf hob und senkte sich hastig.

„Gut. Wir sind richtig stolz auf dich. Dann wollen wir mal. Ich war vorhin schon mal etwas weiter auf der Brücke. Sie schwankt nur wenig, und die Bohlen sind sicher. Und noch ein Tipp an alle ohne Handtuch vor den Augen: Seht nur geradeaus, genau auf das andere Ende der Brücke. Runtergucken können wir immer noch von drüben.“

Und dann gingen wir los. Ich war der Letzte, der die Brücke betrat. Ich hatte verdammte Angst, dass Sanne irgendwo mitten über der Schlucht einen Panikanfall kriegen würde. Ich versuchte zwar, Tommys Ratschlag zu beachten, auf jeden Fall nur die andere Seite zu fixieren, aber immer wieder starrte ich auf Sanne, ob sie vielleicht verkrampfen würde. Oder losschreien. Aber nach unten schaute ich nicht ein einziges Mal.

Meter um Meter schoben wir uns voran. Das Seil, das als Geländer diente, ließen wir bei jedem Schritt durch die Hand gleiten, um dann wieder fest zuzugreifen. Bloß nicht loslassen! Janine und Sanne konnten sich mit beiden Händen festhalten, doch für Tommy und mich war die Sache weit schwerer, hatten wir doch unsere Hunde. Wie ich befürchtet hatte, wurde Lazy mit jedem Schritt schwerer und schwerer. Ich bekam das Gefühl, dass der Kerl inzwischen so viel wog wie ein Sandsack. Und das Beste war, dass Lazy seine Schnauze auf meine linke Schulter gebettet hatte und vor sich hin sabberte.

Das Rauschen des Stromes drang donnernd zu uns herauf. Wider Erwarten schwankte die Brücke kaum. Sie war tatsächlich sehr stabil. Sanne setzte wie in Trance einen Fuß vor den anderen. Ich wollte nicht wissen, wie es in ihr aussah. Es reichte mir zu wissen, wie es in mir aussah.

Schließlich hatten wir die Mitte erreicht, und langsam ging es wieder leicht aufwärts. Ich spürte meinen Arm nicht mehr, und alles, woran ich denken konnte, drehte sich um Lazy. Ich durfte ihn nicht fallen lassen. Ich durfte ihn einfach nicht fallen lassen. Ich sagte mir innerlich vor, nur noch diesen Schritt und jetzt noch diesen Schritt, nur noch diesen einen Schritt ...

Und dann waren wir drüben.

Ich armer Kerl war der Letzte, der die andere Seite erreichte, und um ein Haar wäre mir mein Hund aus dem Arm gerutscht. Als meine Beine wieder festen Boden unter sich hatten, konnte ich das Seil endlich loslassen und im letzten Moment mit der rechten Hand zufassen und Lazy am Hals packen.

„Nicht stehen bleiben!“, rief Tommy. „Lasst uns erst noch ein paar Meter weitergehen!“

Auch auf dieser Seite gab es eine Plattform und ganz ähnliche Stufen wie auf der, von der wir kamen. Mit zittrigen Beinen stiegen wir die Treppe hoch und gingen dann noch einige Dutzend Meter tief in die diesseitige Ebene hinein. Schließlich sagte Tommy: „Okay, das reicht!“, und wir hielten erschöpft, aber überglücklich an.

Ungeduldig setzten wir die Hunde ab, knüpften die Seile auf und schüttelten die verkrampften Arme aus. Dann klopften wir Sanne auf die Schulter, die immer noch das Handtuch um den Kopf hatte und einfach nur dastand.

„Hey, Sanne! Du hast es geschafft! Wir haben es geschafft! Schau dich um, wir sind drüben!“

Tommy löste vorsichtig das Handtuch und warf es sich über die Schulter. Sanne stand da und hielt die Augen immer noch geschlossen.

Ich hielt es nicht mehr aus und berührte sie am Arm.

„Hey“, sagte ich leise. „Du bist drüben. Du stehst auf festem Boden. Mach die Augen auf!“

Das endlich löste ihre Spannung. Sie machte die Augen auf und lächelte mich an. Dann schaute sie sich um, drehte sich einmal um ihre Achse, sprang in die Luft, fing an zu lachen und schrie: „Jaaha! Geschafft!“

Wir konnten nicht anders, wir stimmten in ihr Lachen ein, und die Erleichterung löste all unsere Anspannung. Jever und Lazy spürten unsere Freude und sprangen an uns hoch. Eine volle Minute lang schlugen wir uns gegenseitig auf die Schultern und freuten uns für Sanne.

„Nur nicht übermütig werden“, lachte Tommy. „Na, was ist, Sanne? Willst du noch mal über die Brücke, weil’s so schön war oder gehen wir weiter?“

„Nein danke! Eine Schlucht reicht mir. Noch mehr Abgründe wird’s hier ja wohl nicht geben.“

Auf einmal wurde sie ernst.

„Tommy, kommen wir hier wieder raus?“

Tommy überlegte nicht eine Sekunde. „Sicher. Und ich habe das Gefühl, dass es nicht mehr allzu lange dauern wird. Viel mehr kann uns eigentlich nicht erwarten. Vielleicht noch so eine Art Abschlusstest.“

„Und dann?“, fragte ich. „Was dann? Wenn wir hier heil durchgekommen sind, wo kommen wir dann wieder raus? Und wozu das alles?“

„Vielleicht ist der Weg das Ziel“, grummelte Tommy. „Frag mich nicht. Ich weiß genauso wenig wie du. Außer eins und das ist, dass wir jetzt einfach wieder losgehen.“

Und das taten wir. Vier Äpfel hatten wir noch, und die vertilgten wir jetzt, während wir uns wieder auf den Weg machten. Jeder von uns schnitt mit Hilfe von Tommys Taschenmesser ein Viertel aus seinem Apfel und gab es den Hunden. Lazy schaute mich mit seinen traurigen Basset-Augen an, ob ich vielleicht auf die Idee kommen würde, ihn noch mal zu tragen, aber den Gefallen tat ich ihm nicht.

Nach ein paar Dutzend Metern kam ich auf den Gedanken, mal auf den Kompass zu sehen. Und das war eine gute Idee. Der Pfeil zeigte jetzt direkt nach Norden, genau weg von der Schlucht. Ich sagte den anderen nichts davon, denn dies war genau die Richtung, in die wir sowieso schon gingen. Ich beschloss einfach, alle paar Minuten draufzugucken, ob sich irgendetwas veränderte.

Wir marschierten etwa eine Viertelstunde, ehe sich die trockene und auch recht staubige Ebene wieder spürbar veränderte.

„Es wird felsiger“, sagte Sanne, die mit ihrem frisch gestärkten Selbstbewusstsein vorausging. Sie hatte Recht, der Sandboden wurde jetzt immer häufiger von kleinen Felsbuckeln unterbrochen. Und noch einmal hundert Meter weiter bestand der Boden schließlich ganz aus Stein. Graues, mit feinen silbrigen Adern durchzogenes Felsgestein.

Auf einmal drang wieder ein Geräusch an unsere Ohren. Wieder war es ein Rauschen. Doch diesmal klang es nicht stetig, sondern wiederholte sich in rhythmischen Abständen. Verwundert blieben wir stehen und horchten.

„Was ist denn das jetzt wieder?“, fragte Sanne.

Tommys Gesicht verzog sich vor Anstrengung, das Geräusch zu deuten.

„Es hört sich an wie das Meer“, sagte er schließlich.

Konnte es das Meer sein? Jetzt, wo Tommy diesen Hinweis gegeben hatte, war auch ich mir ziemlich sicher, dass das an- und abschwellende Rauschen von Wellen verursacht wurde. Wenn das stimmte, dann hatten wir aber wirklich alles durchgemacht. Einen See, einen Urwald, eine afrikanische Savanne, einen kleinen Grand Canyon und nun noch der Ozean.

„Wenn es das Meer ist, sind wir am Ende“, sagte Janine, und wir starrten sie an. „Weil wir da nie weiterkommen. Oder wollt ihr auch noch im Meer rumschwimmen?“

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