Kitabı oku: «Shana», sayfa 2
Kapitel 2
Am nächsten Morgen begannen die Ferien. Das bedeutete jedoch nicht, dass Kinder nichts zu tun hatten. Es bedeutete lediglich, dass sie nicht sechs Stunden hintereinander in der Videokonferenz gemeinsam lernten, sondern dass sie ihre vielen Ferienhausaufgaben machen konnten, wann sie wollten. Hauptsache, sie waren fertig, wenn die Schule wieder losging.
Shana war eine gute Schülerin. Sie wusste, dass sie die Aufgaben, die ihr gestellt worden waren, locker in der letzten Ferienwoche bewältigen konnte. Wenn das auch hieß, dass sie dann einige Stunden pro Tag am Stück opfern musste. Aber jetzt wollte sie nicht daran denken, sondern einfach tun und lassen, was sie wollte. Und sie wusste ganz genau, was sie wollte. Aber das mussten ihre Eltern nicht unbedingt mitbekommen.
Im Moment saß sie gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Bruder Marten in der Küche und wählte am Automaten ihr Frühstück aus.
„Hallo Automat! Frühstück für Shana bitte. Orangensaft, zwei weich gekochte Eier, eine Scheibe Toast, mittlere Stufe gebräunt, und einen Apfel der Marke Braeburn.“
Der Automat antwortete mit knisternder Stimme, wobei er ein paar Silben verschluckte.
„Shana registriert … kkrrzzz … zw … eich gekochte Eier … ei ... Sch … Toast … ei … Apfel Mark … Brrr .. brrnnn.“
„Wie oft habe ich Vati schon gesagt, dass er das Ding reparieren lassen soll!“, mokierte sich Shanas Mutter.
„Soll ich der Multiwand Bescheid sagen?“, fragte Shana fröhlich und wartete auf ihr Essen, das jeden Moment im Ausgabebereich auftauchen musste.
„Nein, kommt gar nicht infrage!“, sagte ihre Mutter entschieden. „Das ist Vatis Aufgabe. Irgendetwas kann er ja wohl auch zum Haushalt beitragen.“
Shana lächelte. Ihr Großvater hatte ihr erzählt, dass er als Kind noch beim Abtrocknen hatte helfen müssen. Das konnte sie sich gar nicht vorstellen. Aber dennoch fand Shana, dass ihr Vater noch fauler war als alle anderen Erwachsenen oder auch Kinder, die sie kannte. Er begründete das damit, dass er einen anstrengenden Job habe, der ihn voll und ganz beanspruchte. Shana wusste, dass er ein Regierungsbeamter war und sehr viele Berichte verfassen musste. Das war aber alles Kopfarbeit, und ihren Vater laufen zu sehen, grenzte schon an eine Sensation.
„Kind, damit kannst du doch den Tag nicht überstehen“, sagte ihre Mutter besorgt. „Du musst mehr essen!“
„Mama, ich habe gestern ein Maxi-Menü bei McBeam verdrückt!“, lachte Shana. „Das reicht bei mir für eine Woche. Und außerdem willst du doch immer, dass wir uns gesund ernähren, oder nicht? Du könntest übrigens auch mal wieder ein bisschen abnehmen.“
„Ich esse doch gar nicht so viel“, verteidigte sich ihre Mutter.
„Nein“, sagte Shana ungerührt. „Aber das falsche. Und du bewegst dich so gut wie gar nicht. Mach endlich das Sportprogramm der Multiwand mit.“
„Dann fall ich tot um.“
„Fang halt langsam an. Das Programm fragt dich ganz genau ab. Außerdem untersucht es dich, wie viel dein Körper aushält. Du kannst gar nicht tot umfallen.“
„Dein Essen“, sagte ihre Mutter und versuchte, vom Thema abzulenken. Die Bestellung war im Ausgabebereich erschienen, und Shana zog das kleine Tablett vorsichtig heraus. Dann setzte sie sich damit an den funktionalen Esstisch und ließ es sich schmecken.
„Wo bleibt eigentlich Vati?“
In diesem Moment summte es, der Küchenbeamer aktivierte sich, und Shanas Vater trat durch den flimmernden Rahmen. Jedes Mal, wenn ihr Vater auf diese Weise erschien oder wieder verschwand, wollte Shana mit sich selbst wetten, ob der Beamer dieser Masse an Molekülen standhalten würde. Ihr Vater wog an die einhundertundfünfzig Kilo. Und er hatte nicht die geringste Absicht, daran etwas ändern zu wollen. Er fand das ganz in Ordnung so.
„Papa!“ Shana verzog das Gesicht. „Musst du denn selbst zum Frühstück noch den Beamer benutzen? Das Badezimmer ist nur drei Meter entfernt!“
Ihr Vater stampfte die zwei Schritte auf den Esstisch zu und ließ sich schwerfällig an ihm nieder.
„Wozu haben wir denn das Ding“, fragte er grinsend. „Ich bezahle doch nicht für etwas, das ich nicht benutze. Hallo Automat! Frühstück für Vati! Sechs Spiegeleier, zehn Scheiben Speck, vier Scheiben gebutterten Toast, drei Pfannkuchen mit Sirup und fünf kleine Würstchen!“
„Und einen Orangensaft!“, rief Shana.
„Letzten Befehl streichen!“, befahl ihr Vater. „Ich hab schon meine Vitaminpillen genommen.“
„Papa, das ist künstliches chemisches Zeugs! Das kann nie so gut sein wie echter Saft!“
„Glaubst du wirklich, dass es noch echte Orangen gibt?“, fragte ihr Vater erstaunt. „Die werden genauso künstlich hergestellt wie die Pillen.“
„Nein“, sagte Shana energisch und stampfte mit dem Fuß auf. „Das stimmt nicht!“
„Woher willst du das denn wissen?“
Shana wurde heiß. Beinahe hätte sie sich verraten. Klar, sie hatte noch keine echten Orangen gesehen, aber echte Äpfel schon. In der unerwünschten Zone … aber sie hielt gerade noch rechtzeitig den Mund. Wenn ihr Vater erfahren hätte, dass sie in dieser Zone herumstromerte, hätte er ganz bestimmt ihre Multiwand angewiesen, dieses Ziel für Shana zu sperren.
Da Shana nicht antwortete, interpretierte ihr Vater das als Eingeständnis und nickte zufrieden.
„Ich weiß, dass du es gut mit mir meinst, aber du sollst nicht schwindeln. Wenn du eine echte Orange findest, dann bring sie mir. Eher glaub ich dir nicht.“
Marten hatte noch gar nichts gesagt. Jetzt stand er auf, ging zur Essensausgabe, holte die Speisen für seinen Vater hervor und stellte sie vor ihm ab.
„Danke, mein Sohn.“ Er betrachtete Marten wohlwollend und begann, einen Toast in die Spiegeleier zu tunken und genüsslich in den Mund zu schieben.
„Kann ich mit den Jungs zu McBeam, Vati?“
„Er hat doch gerade erst gefrühstückt!“, entfuhr es Shana.
„Lass den Jungen! Er kann es brauchen.“
Kopfschüttelnd sah Shana zu, wie ihr beleibter Bruder der Multiwand das Ziel bekanntgab und gleich darauf vom wabernden Nebel des Rahmens verschluckt wurde.
„Und was machst du heute?“, fragte ihre Mutter, die sich mittlerweile zu ihnen gesetzt hatte.
„Ich … ich weiß noch nicht. Ich werde ein bisschen lernen und dann zu Krissa, Mädchenzeug quatschen, du weißt schon.“
Ihre Mutter nickte. „Gut, mach das. Aber sei um sieben zurück. Du weißt, wir essen pünktlich.“
Shana schluckte eine Bemerkung herunter. Wie konnten ihre Eltern immer nur ans Essen denken!
„Ja, ja“, erwiderte sie widerwillig. Während sie ihren Orangensaft austrank, prüfte sie misstrauisch, ob er künstlich schmeckte. Sie fand, das tat er nicht, aber ihr Vater hatte ihr Misstrauen geweckt.
„Um sieben bin ich wieder da, versprochen!“
Fröhlich sprang sie auf und verschwand hopsend durch die offen stehende Tür durch den Flur in ihr Zimmer.
Ihre Mutter blickte nachdenklich hinter ihr her. Dann schaute sie Shanas Vater an und berührte ihn am Arm.
„Willst du nicht auch mal wieder so rumhopsen?“
„Muss nicht sein“, erwiderte er ungerührt.
*
Shana schloss die Zimmertür leise hinter sich und presste für einige Sekunden ein Ohr dagegen. Sie glaubte zwar nicht, dass ihre Mutter unangemeldet hereinplatzen würde, aber man konnte ja nie wissen. Wie erwartet tat sich nichts. Es hatte auch Vorteile, wenn jemand keine sonderliche Lust hatte, sich zu bewegen.
Shana atmete erleichtert aus. Für die nächsten paar Stunden konnte sie tun und lassen, was sie wollte. Mit zwei Hopsern war sie an der Stelle, wo die Fixierpunkte im Boden markiert waren.
„Multiwand! Modeprogramm einschalten!“
„Welchen Stil wünschen Sie?“
„Hm … ich brauche wetterfeste Kleidung. Keinen Stil. Mach mir eine Jeans, ein rotes T-Shirt, ein weißes Sweatshirt mit einem Delfin drauf und eine dünne Regenjacke, die man zusammenfalten kann! Ach ja, und mach mir einen kleinen schwarzen Rucksack!“
„Produktion der Gegenstände läuft. Ausgabe in fünfzehn Sekunden.“
Während sie auf die Ausgabe der Sachen wartete, entledigte sich Shana ihrer anderen Klamotten und legte sie säuberlich gefaltet auf ihr Bett.
„Multiwand, ich hab was vergessen!“, rief sie fröhlich. „Mach mir noch ein paar wasserdichte Outdoorschuhe in hellbraun! Aber keinen Billigkram“
„Befehl verstanden. Ausgabe in zwei Minuten.“
„Warum dauert das so lange?“
„Billigkram dauert zehn Sekunden. Echte Sohlen aus Caterpillar-Traktorreifen dauern zwei Minuten.“
Shana lachte. „Okay. Ach ja, und Multiwand! Beamer einschalten!“
Shana achtete nicht darauf, wie sich der schimmernde Rahmen aufbaute, sondern zog sich hastig an. Nach exakt zwei Minuten erschienen die Schuhe im Ausgabebereich. Shana holte sie mit einem anerkennenden Pfiff heraus und schlüpfte hinein. Sie überlegte kurz, ob sie der Multiwand befehlen sollte, den Spiegel zu aktivieren, aber dazu hätte der Beamer abgeschaltet werden müssen, also verzichtete sie darauf. Sie blickte an sich herab und beschloss, dass sie gut aussah.
„Mich sieht sowieso keiner“, murmelte sie. Als letztes packte sie die dünne Regenjacke zu einem kleinen Knäuel zusammen, steckte sie in den Rucksack und streifte ihn über.
„Fertig!“ Langsam wurde sie nervös. Sie ging nicht oft hinaus, höchstens einmal im Monat, aber es war jedes Mal höllisch aufregend. Hibbelig trat sie von einem Bein aufs andere.
„Multiwand! Beamerziel: Planquadrat C4!“
„Planquadrat C4 liegt in der unerwünschten Zone. Bitte neues Ziel angeben.“
„Multiwand! Ich bestehe auf Planquadrat C4!“
Es war jedes Mal das gleiche. Die Multiwand konnte ihr kein Ziel verweigern, es sei denn, es war ein militärisches oder aber ihre Eltern hätten bestimmte Ziele gesperrt. Das hatten sie aber nicht. Die Rückfrage war im Sicherheitsprogramm der Multiwand einprogrammiert, damit sich nicht jemand versehentlich nach draußen beamte.
„Planquadrat C4 akzeptiert und eingestellt.“
„Na also, warum nicht gleich so!“, brummte Shana zufrieden. Sie vergewisserte sich, dass sie ihr Portable System am Handgelenk trug, ohne das sie nicht mehr nach Hause gekommen wäre. Dann gab sie der Wand einen letzten Befehl.
„Multiwand! Alle Nachrichten auf mein Portable weiterleiten!“
„Aktiviert.“
„Na, dann geh ich jetzt mal …“
Ohne ihrem Zimmer noch einen Blick zu gönnen, ging sie mit festen Schritten auf den Beamer zu und verschwand in dem flirrenden Rahmen.
*
Mit geschlossenen Augen stand sie da. Ihre Sinne waren bis zum Äußersten angespannt. Unter ihren neuen Schuhen spürte sie einen weichen Untergrund, und es knisterte leicht, als sie ihr Gewicht verlagerte. Vorsichtig atmete sie ein. Der Duft, der in ihre Nase strömte, war unvergleichlich. Überall, wo sie sich sonst aufhielt, herrschten das gleiche Klima und beinahe immer die gleichen Gerüche. Die Computer sorgten für eine konstante Temperatur von 21° Celsius, und die Klimaanlagen gaben weder Essensgeruch noch sonstigen Ausdünstungen eine Chance.
Wo Shana jetzt stand, gab es keine Klimaanlagen. Ein sanfter Wind umspielte ihr Gesicht, während sie versuchte, die Gerüche einzuordnen. Der Duft von Tannennadeln und Laub mischte sich mit dem von Pilzen, vermoderndem Holz, Erde und Harz. Shana meinte, auch die Spur eines Wildgeruchs zu bemerken, und ihre Nackenhaare sträubten sich. Wildschweine? Ein Fuchs?
Sie öffnete die Augen. Sie stand auf einem Pfad, der mitten durch einen Mischwald führte. Die Sonne sandte Ableger ihres Lichts durch die wenigen Lücken in den Wipfeln der Bäume herab und schuf eine geheimnisvolle Atmosphäre. Unzählige Spinnennetze hingen zwischen den Büschen im Unterholz. Millionen von Tautropfen verrieten ihre Anwesenheit. Shana musste lächeln. Die Spinnen mussten sauer sein, dass man ihre filigranen Fallen so gut sehen konnte. Sie drehte sich einmal um ihre eigene Achse. Der Pfad schlängelte sich durch die Bäume und verlor sich hinter einer Biegung.
„Hm, war es links oder rechts lang?“, überlegte sie laut. Eigentlich war es egal, wo lang sie ging, denn sie glaubte nicht, dass sie jemals weit genug kommen würde, um aus dem riesigen Wald herauszugelangen. Ihr Portable würde sie rechtzeitig warnen, wenn sie den Radius der optimalen Sendeleistung für den Beamer verlassen würde. Auf der anderen Seite hatte sie keine Ahnung, wie weit dieser Radius reichte, denn für gewöhnlich war man immer in Reichweite irgendeiner Empfangs- und Sendestation. Sie warf einen Blick auf ihr Handgelenk. Acht von zehn Balken. Das war mehr als genug. Sie holte Luft und wandte sich nach links.
Der Pfad war schmal, es passten kaum zwei Füße nebeneinander. Vermutlich hatten Rehe ihn ausgetreten. Shana wusste sehr viel über die Tiere und Pflanzen des Waldes. Es gab einen gigantischen Zoo und einen Botanischen Garten, in die man sich beamen lassen konnte und für viel Geld mit einem Elektrowagen durchgekarrt wurde. Das waren die üblichen Ausflüge, die man machte, wenn Oma und Opa zu Besuch kamen.
Zum großen Missfallen der Kinder hielt sich niemand ein Haustier, denn wer würde auch mit einem Hund Gassi gehen wollen und wo? Nein, den meisten Erwachsenen war es zu lästig, so etwas zu organisieren, also gab es mit der Zeit niemanden mehr, der ein Tier zu Hause hatte.
Shana setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Trockenes Laub knisterte unter ihren Füßen. Hier und da raschelte es im Unterholz, und einmal flitzte eine Maus über den Pfad. Shanas Herz klopfte heftig. Sie verspürte keine Angst, allein hier draußen zu sein, sie war einfach nur aufgeregt. Beim ersten Mal war das anders gewesen, da hatte sie sich nach fünf Minuten wieder zurückgebeamt. Aber kaum war sie in ihrem Zimmer materialisiert, wurde das Verlangen, wieder hierher zu kommen, unerträglich. Die Außenwelt war so vollkommen anders. Sie roch anders, sie war zu fühlen, zu schmecken, zu hören und zu sehen. Und sie war unglaublich schön. Seit sie das erste Mal in diesem Wald gewesen war, kam ihr ihre eigene sterile Welt hässlich vor. Das einzige, was sie schade fand, war, dass sie dies hier mit niemandem teilen konnte. Es war schon heikel genug, dass sie allein hier rausging, aber wenn sie jemanden eingeweiht hätte, hätte sich das Risiko verdoppelt. Alles durfte passieren, nur nicht, dass man ihr Geheimnis entdeckt hätte. Denn dann würden ihre Eltern ihr die Außenwelt sperren.
„Mist!“, murmelte sie vor sich hin. „Irgendwann sag ich Krissa Bescheid, und wenn es doch rauskommt, dann kann mir vielleicht Carl mit einem Entsperrungscode helfen.“
Ein Windstoß rauschte durch die Wipfel der Bäume. Morsche Äste knackten, und ein Stück weit neben ihr fiel etwas aus großer Höhe herab. Eine Gänsehaut strich über Shanas Rücken. Sie musste zugeben, dass es zwar zu Hause langweiliger, aber garantiert auch sicherer war. Langsamen Schrittes ging sie weiter. Beim Gehen betrachtete sie versonnen ihre Schuhe, die mit jedem Schritt ein wenig Staub aufwirbelten. Ihre Gedanken machten sich selbstständig. Warum konnte man nicht hier draußen wohnen? Nein, dann müsste man ja Bäume fällen, und bei so vielen Menschen wäre es bald um den Wald geschehen, wenn die alle hier wohnen wollten. Dann vielleicht Baumhäuser? Da könnten die Bäume stehen bleiben. Shana musste lächeln. Wenn man in einem Baumhaus wohnte, durfte man nur nicht nachts aufs Klo müssen und die falsche Tür aufmachen! Vor ihrem geistigen Auge erschienen in den Wipfeln der Bäume unzählige Baumhäuser. Aber was, wenn Sturm aufkäme? Shana seufzte. Sie hatte sich das so schön vorgestellt, aber so einfach war es eben nicht. Es blieb wohl ein Traum. Ihr Vater hätte gelacht und gesagt: Wozu brauche ich ein Baumhaus? Wir haben doch hier alles!
Mit einem Mal wurde es heller und Shana schrak aus ihren Gedanken. Eine Lichtung! Sie beschleunigte ihre Schritte. Beim letzten Mal hatte sie sich genau bis hierher vorgewagt, ehe sie umkehrte. Auf dieser Lichtung standen drei uralte Apfelbäume, die Äpfel trugen, deren Geschmack unvergleichlich war. Voller Vorfreude streifte sie den Rucksack von der Schulter, den sie extra mitgenommen hatte, um genügend Äpfel mit nach Hause nehmen zu können.
Als sie den Schutz der Bäume verließ und gleißendes Sonnenlicht sie empfing, erwartete sie eine Überraschung. Der Schreck fuhr ihr in alle Glieder, und sie stolperte, weil sie so schnell nicht abbremsen konnte. Als sie ihr Gleichgewicht wiedererlangt hatte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Mit zusammengekniffenen Augen starrte sie auf die Lichtung, auf der die drei Bäume nach wie vor ihre krüppeligen Äste in die Luft streckten. Doch die Äpfel waren es nicht, die Shana erschreckten. Es war das Haus, das mitten auf der Lichtung stand. Ein Blockhaus, gezimmert aus dicken, dunkel gebeizten Stämmen. Das Haus besaß eine Veranda, auf der sich drei Dinge befanden. Ein unbequem aussehender Holzschemel, eine Staffelei und ein Mann, der auf ebenjenem Schemel saß und an einem Bild arbeitete. Der Mann schaute überrascht auf, als Shana aus dem Wald stolperte, und ließ die Hand mit dem Pinsel langsam sinken.
Shanas Gedanken überschlugen sich. Woher kam dieses Haus? Woher kam dieser Mann? Wer war dieser Mann? Niemand ging freiwillig in die unerwünschte Zone. Oder gab es noch mehr, die hier draußen sein wollten, so wie Shana? Aber wie kam das Haus so schnell hierher? Shanas letzter Besuch auf der Lichtung war noch gar nicht so lange her. Mit einemmal meldete sich ein unangenehmes Gefühl in ihrem Bauch. Irgendetwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu. Sie blickte sich gehetzt um. Zurück in den Wald? Nach Hause beamen? Nein, der Mann war schneller bei ihr, als sich der Beamer aufbauen konnte. Ins Unterholz flüchten und verstecken? Nein, das trockene Buschwerk machte einen Heidenlärm, das würde niemals klappen. Shanas Magen wurde zu einem Klumpen. Wohin? Was tun?
„Hallo! Komm ruhig näher! Ich beiße nicht!“
Der Impuls, wegzulaufen, war unglaublich groß, doch die Stimme des Mannes auf der Veranda klang tief und Vertrauen erweckend. Shana konnte ihren Vater hören, der ihr immer wieder eingebläut hatte: Gehe niemals zu einem Fremden, egal, wie nett er auch immer erscheint. Aber das war irgendwie Blödsinn, denn wo sollte man in ihrer Welt schon einen Fremden antreffen? Der Beamer war im Prinzip idiotensicher, das meiste machte man von zu Hause aus, und selbst in den Einkaufszentren wurde der Bewegungsradius durch das eigene System überwacht. Na ja, man konnte da schon ein wenig dran rumspielen, wenn man Carl kannte. Aber auf diesen Moment im Wald in der unerwünschten Zone war Shana nicht vorbereitet. Hier konnte sie sich nur auf ihr Gefühl verlassen.
„Ich bin harmlos!“, rief der Mann mit einem sympathischen Lachen. „Und ich freu mich, wenn mich jemand besucht. Das ist schon viele Jahre nicht mehr passiert.“
Shana kniff die Augen zusammen. Der sah nett aus. Seine Stimme klang auch nett. Sie beschloss, dass sie es wagen konnte. Aber nicht zu nah.
„Hallo“, sagte sie leise. „ich bin Shana. Ich beiße auch nicht.“
Der Mann brach in schallendes Gelächter aus und winkte sie zu sich.
„Okay, dann sind wir beide harmlos! Komm, schau dir an, was ich gemalt habe.“
Zögernd ging Shana näher. Ein paar Schritte vor der Veranda blieb sie stehen und verdrehte den Hals. Der Fremde drehte die Staffelei in ihre Richtung und lehnte sich zurück.
„Wie findest du’s?“
Das Bild, das Shana betrachtete, war auf grobe Leinwand gemalt. Es war etwa zur Hälfte fertig und zeigte eine Szene aus einem Hafen des Mittelalters. Es schien ihr, als handelte es sich um spanische Galeeren, die kurz vor der Abfahrt zu einer langen Reise standen, denn viele Männer waren dabei, die verschiedensten Waren an Bord zu schleppen. Ein tiefblauer Himmel stand im Kontrast zum dunklen Schwarzbraun der Schiffsrümpfe, und am Kai herrschte reges Treiben. Shana war sofort fasziniert von diesem Bild. Es fehlten noch viele Details, einige Stellen waren noch weiß, doch bereits jetzt wirkte es so naturgetreu, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte. Es schien so … echt.
„Es ist toll!“, entfuhr es ihr. „Ich könnte niemals so malen.“
„Es ist ganz einfach“, entgegnete der Mann. „Man muss es nur wollen. Die Bilder entstehen im Kopf. Du musst dir vorstellen, was du sehen möchtest und dabei den Pinsel führen.“
„Schön wär’s“, murmelte Shana.
Der Fremde lächelte und betrachtete sie neugierig. „Du bist nicht das erste Mal hier draußen, stimmt’s?“
Shana wand sich unbehaglich. Sie wusste nicht, wie viel sie dem Mann sagen durfte.
„Ich werd dir sagen, warum ich das glaube. Dein Name ist Shana. Das klingt geheimnisvoll, nach Mut und Tatendrang. Du wirst anders sein als die meisten deiner Freunde, und wenige werden deinen Gedanken folgen können. Du gehst gern deine eigenen Wege, möchtest aber gleichzeitig, dass andere dir folgen. Du warst schon einmal hier und hast einen Rucksack mitgenommen, um dir ein paar Äpfel mit nach Hause zu nehmen. Und du hast das Problem, das niemand auf dich hört.“
Shana fiel vor Verblüffung der Kiefer runter.
„Woher weißt … woher wissen Sie das?“
„Du kannst mich ruhig duzen. Ich heiße Rufus.“
Er kam vom Schemel hoch, stellte sich an den Rand der Veranda, bückte sich zu Shana hinunter und reichte ihr die Hand. Verdattert tat Shana die wenigen Schritte hinüber und schlug ein.
„Shana, aber das weißt du ja schon.“
Wieder lachte der Fremde, und jetzt nahm sich Shana die Zeit, ihn ein wenig näher zu begutachten. Er erschien ihr ungefähr so alt wie ihr Vater, aber ansonsten war er das genaue Gegenteil. Seine Figur war schlank, ja beinahe drahtig, seine Haare wie auch seinen wenige Tage alten Bart durchzogen silberne Fäden, und seine blaugrauen Augen strahlten Gutmütigkeit aus. Wenn der Fremde lächelte, erschienen an jedem Mundwinkel drei kleine Fältchen, die seine freundliche Ausstrahlung noch verstärkten. Shana entschied für sich, dass dieser Mann keine Gefahr für sie darstellte.
Rufus ließ ihre Hand wieder los und verschwand in seiner Blockhütte.
„Bin gleich wieder da!“, rief er über die Schulter zurück. Wenige Minuten später kehrte er zurück, in der einen Hand einen Kaffee, in der anderen eine Tasse mit dampfendem Kakao. Vorsichtig stellte er beides vor der Staffelei auf den Boden und ging noch einmal zurück ins Haus. Als er wieder auftauchte, hatte er einen zweiten Schemel dabei, den er neben den ersten stellte.
„Setz dich“, meinte er gutmütig, „und lass es dir schmecken.“
Shanas Misstrauen war komplett verflogen. Ohne zu zögern nahm sie auf dem zweiten Schemel Platz und die Tasse Kakao mit beiden Händen vom Boden auf. Vorsichtig kleine Schlucke nehmend vertiefte sie sich erneut in das Bild.
„Verkaufst du die Bilder?“
„Nein“, schmunzelte Rufus. „Niemand soll sie kaufen, niemand kann sie kaufen, und niemand darf sie kaufen. Sie sind nur für mich.“
„Warum darf sie niemand kaufen?“, fragte Shana naiv.
„Ich … ich möchte sie nicht verkaufen. Für mich sind sie etwas ganz Besonderes. Es sind Traumbilder. Ich brauche sie auch gar nicht verkaufen. Ich habe alles, was ich zum Leben brauche. Und wenn mir was fehlt, mal ich es mir halt.“
Shana schaute Rufus erstaunt an. „Du malst dir, was dir fehlt? Das geht doch gar nicht! Oder hast du eine Art Multiwand, die dir alles besorgt?“
Rufus runzelte die Brauen. „Multiwand? Was ist das denn? Ein Computer?“
Shana nickte.
„Nein, einen Computer habe ich nicht. Aber wenn ich will, habe ich einen Laden, in dem es alles gibt. Du brauchst dir keine Sorgen um mich machen, ich verhungere schon nicht.“
Einige Sekunden vergingen. Rufus nahm einen kleinen Tiegel mit einer undefinierbaren Farbe und den Pinsel von der Ablage der Staffelei, lehnte sich zurück und blickte einige Sekunden lang zum Waldrand. Dann begann er mit federleichten Bewegungen zu malen. Ein Lagerschuppen entstand wie aus dem Nichts. Sekunden später Mohnblumen, die an seinen Seiten wuchsen und eine Möwe, die vom First des Daches die Szenerie beobachtete. Shana hielt den Atem an. Das, was sie sah, war tatsächlich atemberaubend. Niemand konnte so malen. Das war unmöglich. Staunend sah sie zu, wie Rufus das Bild vollendete. Er benutzte dazu nur diesen einen Tiegel, in dem sich die verschiedensten Farben wie von selbst zu mischen schienen. Das leichte Unbehagen, das sie vorhin schon abgeschüttelt zu haben schien, war wieder da. War dieser Rufus ein bisschen verrückt? Oder spielten ihr ihre Augen einfach nur einen Streich?
„Rufus?“
„Hmm …?“
„Wie lange wohnst du schon hier?“
„Ich bin nur hier, wenn ich ein Bild malen will. Hier kann ich am besten träumen, und nur dann gelingen die Traumbilder.“
„Wo warst du denn dann vor …“ Sie überlegte einen Moment lang, wann sie das letzte Mal hier gewesen war. „… vor zehn Tagen?“
„Vor zehn Tagen? Hm … da war ich in der Karibik. Ich kann dir ein Bild von der Insel zeigen, wo ich war. Aber nach einer Woche hatte ich genug von der Hitze und bin wieder hierher gekommen. Ich hatte Lust, dieses Bild von Tarragona zu malen. Vielleicht steche ich morgen mit den Spaniern in See.“
Shana war sich plötzlich ganz und gar nicht mehr sicher, ob Rufus vollkommen normal und ungefährlich war. Eine Frage lag ihr noch auf der Zunge.
„Du hast das Haus hier in zehn Tagen gebaut?“
Rufus hielt beim Malen inne und lächelte. „Nein, für so ein Haus brauche ich höchstens zehn Minuten. Es muss nur genügend Farbe und Leinwand da sein.“
Shana überlegte fieberhaft, wie sie hier wegkommen sollte, ohne unhöflich zu sein. Dieser Rufus war zwar ganz nett, aber der hatte zweifellos eine Schraube locker. Sie hielt sich ihren Portable theatralisch vor die Augen, und als Rufus aufschaute, tippte sie auf das Schutzglas.
„Ich muss nach Hause. Meine Eltern werden sich schon Sorgen machen.“
„Na klar, das verstehe ich. Schade, dass du schon gehen musst. Es ist schon lange niemand mehr zu mir gekommen. Aber ich male mir meine alten Freunde, wenn ich sie sehen will.“
Shana stand auf und reichte dem Fremden die Hand. „Tja, ich muss jetzt wirklich gehen. War nett, sie kennen zu lernen.“
„Ganz meinerseits.“ Rufus erhob sich ebenfalls und verabschiedete sich von Shana. „Du kannst mich jederzeit besuchen. Ich lasse das Haus hier stehen. Kann sein, dass ich nicht da bin, aber du kannst dich hier wie zu Hause fühlen. Der Kühlschrank ist voll. Und wenn du malen willst, dann mal einfach.“
„Danke“, sagte Shana artig. „Das ist sehr nett von Ihnen. Auf Wiedersehen.“
Als sie von der Veranda heruntersprang und sich dem Saum des Waldes zuwandte, überkam sie ein seltsames Gefühl. Irgendetwas schien sie hier behalten zu wollen, obwohl sie doch schleunigst von hier verschwinden wollte. Der Mann war verrückt, schoss es ihr durch den Kopf. Und dennoch war er ihr sympathisch.
Sie hatte gerade den halben Weg zum Beginn des Pfades zurückgelegt, da hallte Rufus Stimme über die Lichtung. Shana erstarrte.
„Shana!“
„Ähhm … ja?“
„Wenn du malst, male nur bei Tageslicht, versprichst du mir das?“
„Ja, natürlich.“
„Und noch etwas, Shana.“
„Ja?“
„Du darfst niemals eines der Bilder nach Sonnenuntergang berühren, verstehst du, niemals!“
„Mach ich nicht, ich versprech’s!“
„Okay, ich verlasse mich auf dich! Komm gut nach Hause! Wir sehen uns sicher bald wieder!“
Shana drehte sich um und sah, wie Rufus seine Staffelei hoch hob und in sein Blockhaus trug. Jetzt war sie sich ganz sicher. Der Mann war nett, aber vollkommen durchgedreht. Wahrscheinlich hatte er zu lange allein gelebt. Achselzuckend machte sie sich auf den Rückweg und verschwand im Wald. Sie wollte weit genug weg sein, bevor sie den Beamer über das Portable aktivierte. Sie war sich irgendwie sicher, dass Rufus solch ein Gerät noch nie in seinem Leben gesehen hatte.