Kitabı oku: «Shana», sayfa 3
Kapitel 3
Shana saß mit ihren Eltern und ihrem Bruder beim Abendessen. Der Videorahmen brachte gerade die Nachrichten, die soeben mit dem Wetterbericht endeten. Eigentlich interessierte der nur diejenigen, die morgen in eines der Erholungsgebiete gehen wollten. Das war auch Außenwelt, aber eine völlig regulierte, künstliche. Das einzige, was Shana daran liebte, war der Sonnenschein, denn der war echt. Von der Familie am Tisch lauschte nur Shana der Vorhersage für den nächsten Tag, die ruhiges und sonniges Frühherbstwetter ankündigte.
Shana wollte zurück in die unerwünschte Zone. Schon morgen. Aber diesmal wollte sie jemanden mitnehmen.
„Wer war das?“ Shanas Mutter wies auf eine Spur kleiner Sandhäufchen, die sich von der Küchentür bis zum Tisch hinzog.
„Was ist das für ein Dreck?“
Schuldbewusst zog Shana ihre Füße zurück, aber es war zu spät.
„Und was sind das für Schuhe?“ Ihre Mutter bückte sich, was bei ihrer Leibesfülle recht schwierig war, und runzelte die Stirn.
„Da klebt ja jede Menge Dreck dran! Warst du in der unerwünschten Zone?“
Verdammt, sie hatte vergessen, die Schuhe von der Multiwand reinigen zu lassen! Den halben Wald hatte sie in dem tiefen Profil ihrer Sohlen mit nach Hause geschleppt! Ihr Vater hörte auf zu kauen und legte die Stirn in Falten.
Shana versuchte, cool zu bleiben und sich nichts anmerken zu lassen. Wenn jetzt herauskam, dass sie draußen gewesen war, würde sie auf lange Zeit zu Hause vergammeln.
„Ich hab mir echt authentische Outdoorschuhe von der Multiwand machen lassen. Ich hab gesagt, die sollen so richtig nach draußen aussehen. Muss die Wand wohl mit Dreck produziert haben. Tut mir leid, Mama.“
Ihr Vater schüttelte den Kopf, und ihre Mutter machte den Mund auf, um ihrer Tochter etwas zu entgegnen, überlegte es sich dann aber anders. Stattdessen sprach sie mit der Multiwand.
„Multiwand! Reinigungsprogramm! Fußboden säubern!“
Während die Wand einen kleinen Reinigungsroboter entließ, der sich sofort daran machte, die bröcklige Erde aufzusammeln, überlegte Shana fieberhaft, wie sie die Situation entschärfen konnte. Doch Marten, ihr unnützer Bruder, machte ihr erst einmal einen Strich durch die Rechnung.
„Die war gar nicht zu Hause. Ich hab keinen Mucks aus ihrem Zimmer gehört.“
„Ich hab mit Kopfhörern gelernt, weil du immer diese dämliche Musik hörst!“
Mann, so oft hatte sie noch nie geschwindelt! Hoffentlich brachte sie sich nicht selbst in Teufels Küche.
„Da hat sie allerdings recht“, antwortete ihr Vater, ehe Marten zurückschießen konnte. „Das hat mich vorhin auch genervt. Wie oft habe ich dir das schon gesagt! Wenn du noch einmal lauter als Stärke 6 einstellst, überlege ich mir eine schöne Strafe für dich. Du lebst nicht allein in dieser Wohnung!“
„War doch 6“, sagte Marten kleinlaut.
„Lüg nicht auch noch!“, brauste sein Vater auf.
„Papa“, lenkte Shana schnell ab, „kann ich morgen zu Krissa? Wir müssen nach den Ferien eine Präsentation machen und wollen uns ein bisschen vorbereiten.“
„Natürlich, macht nur. Nimm dir ein Beispiel an deiner Schwester, Marten!“
„Die schwindelt doch!“, brauste ihr Bruder auf.
„Marten!“ Shanas Mutter haute auf den Tisch. „Es reicht! Geh in dein Zimmer! Sofort! Und zwar zu Fuß“
Wutschnaubend und mit einem funkelnden Blick auf seine Schwester erhob sich Marten schwerfällig und watschelte zur Tür hinaus. Beinahe wäre er über den Reinigungsroboter gestolpert, der eben dabei war, in die Wand zurückzukehren.
Shana hatte ein ziemlich schlechtes Gewissen. Bis auf die Sache mit der Präsentation hatte sie gelogen, dass sich die Balken bogen, und Marten kriegte für die Wahrheit die Strafe. Sie beschloss, in Zukunft alle Lügen zu meiden. Na ja, nach Möglichkeit. Aber das, was in der Außenwelt auf sie wartete, war zu schön, als dass sie darauf hätte verzichten wollen.
Morgen nehme ich Krissa mit!, dachte sie aufgeregt, gab ihrer Mutter einen Kuss und hüpfte dann fröhlich in ihr Zimmer.
Als ihre Mutter ihr liebevoll hinterher blickte, entdeckte sie eine Spur aus kleinen Erdhäufchen.
*
Das Frühstück am nächsten Morgen ließ sich Shana von der Multiwand machen, denn ihre Eltern mussten beide früh arbeiten. Zwar arbeiteten sie wie beinahe jeder von zu Hause aus, aber dafür hatten sie zwei separate Zimmer, die die Kinder nicht betreten durften. Shana wusste nicht genau, was ihre Eltern in diesen Zimmern wirklich taten, aber sie wusste, dass sie für die IRA arbeiteten, die Internationale Raumerkundungsagentur, deren Aufgabe die Vorbereitung und Durchführung von Forschungsflügen ins Weltall und die Entwicklung von Raumstationen war. Eine ziemlich wichtige Arbeit, vermutete Shana, aber ihre Eltern sprachen kaum darüber.
Einen Vorteil brachte diese Arbeit jedenfalls mit sich. Die Kinder konnten in den Ferien tagsüber völlig unbeaufsichtigt machen, was sie wollten. Na ja, bestimmte Sachen durften sie nicht, das war ja klar. Aber man durfte sich eben nicht erwischen lassen. So wie Shana heute bei ihrem erneuten Ausflug in die unerwünschte Zone.
Während sie hastig die Sachen vom Vortag wieder anzog, biss sie immer wieder ein Stück von dem Brötchen ab, das der Essenscomputer produziert hatte. Sie konnte es gar nicht abwarten, loszuziehen, aber vor neun Uhr konnte sie nicht bei Krissa anrufen. Ihre Freundin wurde wild, wenn sie nicht ausschlafen konnte. Noch schlimmer, wenn sie nicht ausgeschlafen war, konnte man den ganzen Tag lang nichts mit ihr anfangen. Shana stopfte den Rest des Brötchens in den Mund und schlüpfte in die Outdoorschuhe, aus deren Sohlen mittlerweile auch der letzte Rest des Außenweltdrecks rausgerieselt war. Dann warf sie einen Blick auf die Digitaluhr, die rechts oben in die Multiwand integriert war. Punkt neun.
„Multiwand! Beamer einschalten! Und Kommunikator einschalten! Mit Visulator! Dann mit Krissa verbinden!“
„Beamer wird hochgefahren. Anschluss Krissa antwortet mit Mailbox: „Lieber Anrufer, die Familie Andy, Latoya und Krissa Beaufort ist heute in der Außenwelt im Zoologischen Garten. Wenn Sie wollen, können Sie uns auf dem Portable erreichen. Bye, bye. Verbindung getrennt.“
Shana stampfte mit dem Fuß auf. „Mist, ausgerechnet heute!“
Sie überlegte, wen sie stattdessen mitnehmen könnte. Nora, Lasita und Biene gehörten zu ihrer engsten Mädchenclique. Aber besaß eine von ihnen genügend Mut, um mitzukommen?
„Hm“, machte Shana. „Nora ist zu ehrlich. Die erzählt sofort zu Hause, wo wir waren. Außerdem ist sie, glaube ich, ein bisschen zu ängstlich. Biene … nein, Biene ist zu jung.“
Biene ging zwar in dieselbe Klasse wie Shana, aber sie war eine dieser superintelligenten Kinder, die Klassen überspringen. Biene war gerade einmal elfeinhalb. Shana fand, das war eindeutig zu jung. Ganz zu schweigen, was passiert wäre, wenn rauskäme, dass sie Biene angestiftet hatte.
„Also Lasita“, grummelte Shana. „Multiwand! Mit Lasita verbinden!“
„Verbunden.“
Es dauerte ein Weilchen, ehe Lasita ranging.
„Hallo Shana!“
„Was ist denn los? Du klingst ja so komisch.“
„Mir ist schlecht. Ich kotze seit heute Nacht und lieg im Bett. Hab wohl zu viele Zitronenröllchen gegessen.“
„Das tut mir leid“, sagte Shana ehrlich. Gleichzeitig war sie enttäuscht, dass auch die letzte ihrer Freundinnen nicht mehr für den Ausflug in Betracht kam.
„Beeil dich mit gesund werden! Wenn’s dir besser geht, ruf mich sofort an, okay?“
„Ja, mach ich“, antwortete Lasita mit müder Stimme. „Sag mal, wolltest du was Bestimmtes?“
„Nein, nein, ich wollte nur mit dir quatschen.“
„Lass uns das auf morgen verschieben.“
„Machen wir, gute Besserung! Frag die Multiwand, ich nehme immer Magofix,, wenn’s mir dreckig geht.“
„Danke, hab schon zwei davon drin. Ich meld mich. Mach’s gut.“
„Tschüss, Lasita, gute Besserung!“
Aus dem Kommunikator kam nur ein Grunzen, dann endete die Verbindung. Shana stand enttäuscht vor die Multiwand. Sollte sie allein zurück in die verbotene Zone zurückgehen? Sie fürchtete sich nicht vor einer erneuten Begegnung mit Rufus, aber irgendetwas in ihrem Innern sagte ihr, dass es besser war, nicht allein zu gehen. Außerdem platzte sie beinahe, ihr Geheimnis mit jemandem teilen zu können.
Wer kam noch infrage? Einer von den Jungs? Shana schüttelte den Kopf. Wenn rausgekommen wäre, dass sie mit einem Jungen im Wald gewesen war, dann hätte sie ein hämisches Spießrutenlaufen in ihrer Klasse über sich ergehen lassen müssen.
Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Belly. Belly war ihr sympathisch, obwohl er reichlich fett war. Er hatte die Situation gestern nicht ausgenutzt, als er sie halb nackt durch den Visulator gesehen hatte. Nicht einmal gegrinst hatte er, als sie bei Krissa ankam. Ja, sie war sich sicher. Belly war der einzige von den Jungs, den sie mitnehmen konnte.
„Multiwand! Mit Belly verbinden!“
„Verbunden!“
Schon nach dem ersten Signalton ging Belly ran. Auch er hatte seinen Visulator eingeschaltet und materialisierte direkt vor Shana.
„Hi, Shana! Schön, dass du anrufst! Hab mich gerade gelangweilt. Meine Eltern sind heute zu irgendeiner Fortbildung im Bildungszentrum. Was ist los? Willst du noch mal Liebe zwischen den Welten sehen?“
Shana musste lachen. „Nein, danke! Aber wenn du mal Martial Fights hast … nein, ich wollte dich fragen, ob du Lust auf ein Abenteuer hast.“
Belly, der als Projektion direkt vor ihr stand, verzog fragend das Gesicht.
„Ein Abenteuer? Wo kann man denn bei uns Abenteuer erleben? Das gibt’s doch nur in den Anifilmen!“
Shana grinste. „Ich versprech dir, mit mir kannst du ein echtes Abenteuer erleben! Es ist ungefährlich, keine Sorge. Aber ein bisschen verboten schon.“
Bellys Interesse war geweckt. „Wer macht noch mit?“
„Niemand. Nur du und ich. Und … du musst schweigen können wie ein Grab. Ich weiß, dass du das kannst. Das war gestern nett von dir, dass du mich nicht verraten hast. Du weißt schon … als ich so wenig anhatte.“
„Ist schon okay“, murmelte Belly verlegen und wurde rot. Dann lenkte er von dem heiklen Thema sofort wieder ab. „Was hast du denn nun für ein Geheimnis?“
Shana legte einen Finger auf die Lippen. „Kannst du zu mir kommen? Mir wäre es lieber, unser Gespräch wird nicht aufgezeichnet.“
Jedes Gespräch wurde vom Kommunikator aufgezeichnet. Shana hatte sowieso schon zuviel gesagt. Normalerweise würde sich niemand die Aufzeichnungen anhören, aber wenn sie zu lange wegblieb und ihre Eltern sich wunderten, wo sie steckte, könnten sie schon auf die Idee kommen, die Verbindungen aufzurufen.
„Klar, warte.“
Bellys Projektion löste sich auf, aber die Verbindung blieb bestehen, und sie konnte hören, wie Belly sich in seinem Zimmer bewegte.
„Belly …“
„Ja?“
„Zieh feste Schuhe an! Am besten Outdoorschuhe mit Caterpillarsohlen!“
Belly sagte nichts, aber Shana konnte förmlich sehen, wie es in Belly arbeitete. Dann hörte sie, wie ihr Freund der Multiwand den entsprechenden Befehl gab und auf die Ausgabe der Schuhe wartete. Schließlich schienen sie fertig zu sein, denn sie hörte Bellys anerkennenden Pfiff.
„Hey, die sehen ja scharf aus! Achtung, Shana, ich komm jetzt! Multiwand! Beamer einschalten! Ziel: Shana!“
Shana ging einen Schritt zurück, um nicht mit Belly zusammenzustoßen, der eine Sekunde später durch den Rahmen ihres Beamers stieg. Unwillkürlich musste Shana schmunzeln. Belly war gekleidet wie einer der Helden aus den alten Filmen, die auf Expedition in den Dschungel gehen. Khakifarbene Shorts mit mindesten zehn Taschen, in denen alles Mögliche zu stecken schien, dazu ein helles Baumwollhemd und eine Weste aus Leder. Dann noch die Schuhe, die wie Klötze an seinen Füßen steckten! Shana musste gewaltsam ein Lachen unterdrücken. Mit seiner Körperfülle und diesen Klamotten sah Belly aus wie ein Pfannkuchen auf Forschungsreise!
„Wo hast du denn die Sachen her? Ich hab gar nicht gehört, wie du sie bestellt hast.“
Belly blickte an sich herab. „Die hab ich schon ein Weilchen. Ich hab einen ganzen Schrank voller Sachen, die ich mir für jede mögliche Gelegenheit hab machen lassen. Nur gab’s noch nie eine Gelegenheit. Und als du gesagt hast, zieh feste Schuhe an, da dachte ich, die Sachen hier wären das richtige. Und, wie seh ich aus?“
„Perfekt. Besser geht’s nicht. Wir werden …“ Gerade noch rechtzeitig fiel ihr ein, dass sie immer noch abgehört wurden. „Multiwand! Kommunikator aus!“
„Ist aus.“
„Gut. Also, Belly, ich sag dir, was ich vorhabe. Du kannst mitmachen oder nicht, dann ist es auch nicht schlimm. Aber wenn du mitmachst, musst du alles für dich behalten, was du heute siehst. Kannst du das?“
Belly kniff die Augen zusammen. „Du willst raus, stimmt’s? In die unerwünschte Zone.“
Shana nickte und warf einen Blick auf die Multiwand.
„Ja, ich will in die unerwünschte Zone. Ich war gestern dort und hab was entdeckt, das ich dir zeigen will.“
„Was ist es?“
Shana machte eine Geste zur Multiwand hinüber. „Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich fühl mich mit dem Ding nicht wohl. Wer weiß, ob man nicht ständig von der Wand überwacht wird. Jedenfalls … ich sag dir alles, was ich weiß. Aber erst, wenn wir draußen sind. Kommst du nun mit oder nicht?“
Belly betrachtete die Multiwand, als sähe er sie zum ersten Mal. „Meinst du wirklich, die belauscht uns Tag und Nacht? Ich hab mich schon oft gewundert, was meine Mutter so alles rausfindet.“
„Ich weiß es nicht. Aber sicher ist sicher. Was ist nun? Machst du mit?“
Belly grinste. „Wie ich schon sagte, es gab noch nie eine Gelegenheit. Jetzt hab ich eine, und die lass ich mir nicht entgehen! Wann gehen wir los?“
„Wie wär’s mit jetzt?“
„Okay, dann jetzt. Ach … wie lange willst du draußen bleiben?“
„Vielleicht zwei, drei Stunden.“
„Hauptsache, ich bin bis zum Dunkelwerden wieder zu Hause.“
„Kein Problem.“
„Na, dann los.“
Shana blickte sich noch einmal in ihrem Zimmer um. Schmerzhaft wurde ihr bewusst, dass sie nicht an diesem Raum hing. Eine Blockhütte fand sie weitaus gemütlicher. Rufus Blockhütte. Obwohl … sie hatte ja noch nicht einmal einen Blick hinein geworfen.
„Multiwand! Beamerziel: Planquadrat C4!“
„Planquadrat C4 liegt in der unerwünschten Zone. Bitte neues Ziel eingeben.“
Shana seufzte ungeduldig. „Das hatten wir doch gestern schon! Multiwand! Ich bestehe auf Planquadrat C4!“
„Planquadrat C4 akzeptiert und eingestellt.“
„Na also. Energie für zwei Personen! Nach Durchtritt auf Standbymodus bleiben!“
„Verstanden.“
Shana grinste Belly an und machte eine einladende Handbewegung.
„Bitte nach Ihnen, Sir!“
Belly grinste zurück und winkte ab. „Nein, vielen Dank! Frauen und Kinder zuerst!“
Beide lachten lauthals. Dann lenkte Shana ein. Sie konnte verstehen, dass Belly lieber nicht vorging. Sie fand es schon toll, dass er sich überhaupt darauf einließ.
„Okay, ich geh dann mal. Aber warte nicht zu lange, bis du nachkommst. Sonst schaltet der Beamer automatisch ab.“
„Hm.“
„Also, bis gleich.“
Shana zögerte nicht, sondern fixierte den flimmernden Rahmen und marschierte los. Kaum hatte der Nebel sie verschluckt, folgte ihr Belly ohne eine Sekunde zu verlieren. Augenblicke später schaltete die Multiwand den Beamer auf Standby. Er würde so lange auf Empfang bleiben, bis sie zurückkehrten.
Wenn sie zurückkehrten.
*
Sprachlos stand Belly da. Mit großen Augen versuchte er das Bild in sich aufzunehmen, das sich ihm darbot. Die riesigen ineinander gewachsenen Bäume, die schräg einfallenden Lichtbahnen, in denen Insekten umherschwirrten, das Eichhörnchen, das in ebendem Moment in einem großen Satz weit über ihm von einem Wipfel auf den anderen sprang, und die unglaubliche Farbenvielfalt, die die Spätsommersonne in den Wald zauberte. Dazu die Geräuschkulisse aus dem Zirpen und Zwitschern der Vögel, dem Knacken von Geäst, dem Rauschen des Windes in den Bäumen und das Surren von Fliegen, Hummeln und sonstigen geflügelten Kleintieren.
„Das ist dein Geheimnis?“, entfuhr es ihm.
„Sag bloß, du warst noch nie in einem richtigen Wald?“, staunte Shana.
„Meine Eltern waren mit mir nur in dem Botanischen Garten und im Zoo. Da gibt es auch Bäume, aber nicht so viele. Und es riecht nicht so, und in dem Garten gibt es keine Tiere.“
Shana nickte. „Das ist langweilig. Alles künstlich angelegt, und die Tiere sind in Käfigen oder kleinen Gehegen. Die Erwachsenen finden das toll, aber die Tiere bestimmt nicht, und ich auch nicht. Außerdem fährt man mit diesen Wagen durch den Park, da kannst du nicht das Geringste erleben.“
„Ist es gefährlich hier?“, fragte Belly nervös.
„Nein, überhaupt nicht. Vielleicht gibt es Wildschweine, aber ich hab noch nie eins gesehen.“
„Und das wolltest du mir zeigen?“
„Nein, das wollte ich dir nicht zeigen. Ich möchte dir jemanden vorstellen, aber dazu müssen wir ein Stück laufen.“
„Jemanden vorstellen? Aber hier darf doch niemand leben!“
Shana runzelte die Stirn. „Man darf hier nicht leben? Das hat mir niemand gesagt. Man will nicht, dass wir Kinder hier spielen, weil wir verloren gehen könnten.“
„Mein Vater hat mir gesagt, dass niemand hier leben darf“, beharrte Belly. „Und wenn er rauskriegt, dass ich draußen war …“
„Dann sag ich, dass ich dran schuld war!“, lachte Shana. „Ich war schon oft hier, und es ist nicht gefährlich, sondern schön. Los, komm, wir müssen den Pfad hier lang gehen.“
Belly war anzusehen, dass er sich nicht sonderlich wohl in dieser Umgebung fühlte, vielleicht war es aber auch deshalb, weil er etwas Verbotenes tat. Aber die Neugier war größer, und als sich Shana entschlossen in Bewegung setzte, zögerte er nicht und folgte ihr auf dem Fuß.
Während er Shana hinterherstapfte, schaute er staunend nach rechts und links, nach oben und nach unten. Und mit jedem Schritt, den er in den Wald hinein tat, fühlte er sich ein Stück weit mutiger und größer. Das ist ein Abenteuer, dachte er, ein richtiges Abenteuer. Wozu habe ich mir die ganzen Sachen für eine Expedition machen lassen, wenn ich sie nicht wirklich gebrauchen kann? Die Schuhe drückten ein wenig, aber das ignorierte Belly für den Moment.
Nach zehn Minuten wurde das Abenteuer jedoch bereits anstrengend. Shana hörte Belly hinter sich schnaufen wie eine Lokomotive. Sie verlangsamte ihren Schritt, schließlich war Belly übergewichtig und überhaupt nicht gewohnt, mehr als zehn Schritte am Stück zu laufen.
„Wie lange noch?“, krächzte ihr Freund.
„Nicht mehr lange. Schau, da hinten wird es heller, da ist eine Lichtung, und da wollen wir hin.“
Belly grunzte, aber er wollte durchhalten. Seine Spannung stieg, als er hinter Shana die Lichtung betrat. Shana blinzelte in das grelle Sonnenlicht und hielt sich die Hand schützend vor die Augen. Das Haus war noch da. Auf der Veranda stand die Staffelei … nein, Shana korrigierte sich, da standen zwei Staffeleien und zwei Schemel! Hatte Rufus schon jemanden zu Besuch oder hatte er etwa geahnt, dass sie schon so bald wiederkommen würde? Von Rufus jedenfalls war keine Spur zu entdecken. Vielleicht war er im Haus. Shana gab Belly ein Zeichen.
„Komm mit!“
„Aber … wir können doch nicht einfach so …“
„Ich war gestern schon hier. Rufus ist total nett, und er kann malen … da fällt dir nichts mehr ein!“
Mit gemischten Gefühlen folgte Belly seiner Freundin, die schon die Veranda erreicht hatte und leichtfüßig auf die Holzplanken sprang. Als Belly sie erreicht hatte, gab sie ihm die Hand und half ihm hoch.
„Meine Schuhe drücken“, murmelte Belly, der nervös zu der einzigen Tür im Blockhaus schielte, die halb offen stand. „Lange kann ich damit nicht mehr laufen.“
„Vielleicht hat Rufus Verbandsspray“, meinte Shana. „Rufus! Bist du zu Hause?“
Keine Antwort.
Noch zweimal rief Shana nach dem Mann, aber es blieb still. Belly war schon wieder am Rand der Veranda und dabei, herunterzuspringen, was nicht unbedingt gut gegangen wäre.
„Warte!“, rief Shana. „Er hat mir erlaubt, hierherzukommen. Ich darf sogar etwas malen, wenn ich will! Das hat er extra gesagt! Du brauchst echt keine Angst zu haben, vielleicht ist er im Wald, Beeren sammeln.“
„Ich weiß nicht“, druckste Belly. „Würdest du es gut finden, wenn sich jemand einfach so in dein Zimmer beamt?“
„Wir haben uns doch gar nicht gebeamt“, erwiderte Shana trotzig. „Und außerdem hat er’s mir erlaubt! Ich geh mal ins Haus und seh nach.“
Mit gemischten Gefühlen blieb Belly zurück auf der Veranda. Seine Blicke huschten zum Waldrand, ob sich dort vielleicht jemand blicken lassen würde, aber es tat sich nichts.
Shana hatte mittlerweile die schwere Holztür weiter aufgestoßen und tastete sich vorsichtig in die Blockhütte hinein. Nach dem grellen Licht auf der Lichtung mussten sich ihre Augen erst einmal an die schummrige Umgebung gewöhnen. Nach ein paar Sekunden konnte sie Umrisse unterscheiden. Die Hütte war größer als es von außen erschien. Sie stand in einer Art Wohnzimmer, in das eine Küchenzeile integriert war. Staunend bemerkte sie einen uralten riesigen Kühlschrank, daneben eine Spüle, in der man wie früher altmodisch Geschirr abwaschen konnte, und daran anschließend einen Herd, der offensichtlich mit Holz befeuert werden musste, denn ein metallenes Rohr führte von ihm nach oben und verschwand in der Außenwand. Regale waren an den Wänden angebracht, und auf ihnen standen die verschiedensten Gefäße mit eingemachten Lebensmitteln. Neugierig wagte sich Shana weiter hinein. Rufus war nicht zu sehen. Sie war sich jetzt auch sicher, dass er nicht im Haus war. Der Wohnbereich war mit Ziegenfellen ausgelegt, zwei Sessel flankierten einen kleinen Tisch aus roh gezimmertem Holz, und an den Wänden hingen allerlei Gerätschaften. Auch hier gab es Regale, die Bücher und Geschirr trugen. Überall entdeckte Shana dicke Kerzen, die meisten von ihnen bereits ziemlich heruntergebrannt.
Als sie sich langsam einmal um die eigene Achse drehte und sich ihre Augen endgültig an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, bemerkte Shana eine Tür, die sich auf der gegenüberliegenden Seite befand. Mit zwei, drei Schritten war sie bei ihr und drückte die einfache Klinke behutsam runter. Dann zog und drückte sie an der Tür, aber sie ging nicht auf.
„Rufus?“, fragte sie noch einmal laut. „Bist du da drin?“
„Immer noch keine Antwort. Achselzuckend begab sich Shana wieder zu Belly auf die Veranda. Der stand immer noch am Rand und wartete auf sie.
„Können wir jetzt wieder gehen?“
„Du willst einfach wieder gehen?“ Shana schaute prüfend in die Runde. „Schade, dass er nicht da ist. Du hättest ihn bestimmt nett gefunden. Und wenn du gesehen hättest, wie er malen kann …“ Shana verdrehte die Augen. „Die Bilder erscheinen einfach so wie aus dem Nichts. Er denkt an etwas, und der Pinsel malt es, als würde er nur von seinen Gedanken geführt.“
„Quatsch!“, sagte Belly. „Du willst nur, dass ich noch länger hier bleibe!“
Shana reckte die rechte Hand hoch und streckte zwei Finger in die Höhe. „Ich schwöre! Es war wirklich so! Komm, da steht seine Staffelei, ich zeig dir das Bild, das er gestern gemalt hat!“
Mit ein, zwei Sätzen war sie bei den beiden Staffeleien, aber als Belly hinter sie trat und ebenfalls einen Blick werfen wollte, atmete sie hörbar enttäuscht aus. Die Staffeleien waren zwar mit je einer großen Leinwand bespannt, aber die waren weiß, und nicht der geringste Farbklecks befand sich auf ihnen.
„Hm“, machte Shana. „Bestimmt hat er das Bild gestern noch fertig gemalt und über Nacht reingebracht, damit es nicht feucht wird. Da waren spanische Galeeren drauf, die beladen wurden und gleich in See stechen wollten. Ich sag dir, da wär ich am liebsten mitgefahren! Ich hab noch nie das Meer gesehen.“
„Das Meer gibt’s gar nicht“, meinte Belly. „Ich träum immer davon, aber ich glaub nicht, dass es das Meer gibt.“
„Doch!“, rief Shana wütend. „Ich weiß, dass es das gibt!“
„Warst du schon mal da?“ Belly wollte eine der Leinwände berühren, ließ es aber dann doch sein.
„Nein, aber …“
„Dann gibt’s dein Meer genauso wie deinen Rufus?“, fragte Belly stichelnd.
„Du bist gemein!“ Shana stampfte mit dem Fuß auf. „Ich hab gedacht, ich nehm dich mit, weil du nett bist, aber ich hätte doch auf Krissa warten sollen!“
„Hey“, beschwichtigte Belly sie. „War nicht so gemeint. Ich glaub dir ja, dass hier jemand wohnt. Aber vielleicht hat man ihn erwischt und ins Gefängnis gesteckt.“
Shana erschrak. Wenn man nun wirklich nicht in der Außenwelt leben durfte und jemand Rufus tatsächlich erwischt hatte? Nein. Sie schüttelte den Gedanken gleich wieder ab. Irgendwie hatte sie das Gefühl, Rufus würde sich nicht erwischen lassen.
„Komm mit rein“, sagte sie zu Belly. „Vielleicht können wir ihm eine Nachricht schreiben und morgen wiederkommen.“
Belly ließ ihr den Vortritt. Während er sich noch nervös umblickte und die Einrichtung verblüfft betrachtete, suchte Shana nach irgendetwas, worauf sie Rufus eine Nachricht hinterlassen konnte. Aber sie suchte den Raum vergebens ab. Enttäuscht zuckte sie die Schultern.
„Schade. Hier gibt’s nichts zum Schreiben.“
„Versteh ich nicht“, meinte Belly. „Wenn er Maler ist, muss er doch jede Menge Pinsel und Farben haben.“
„Du hast recht!“, entfuhr es Shana. „Aber wo?“
Belly zeigte auf die hintere Tür. „Warst du schon in dem anderen Zimmer?“
„Ist abgeschlossen. Kannst ja probieren.“
Belly überlegte einen Moment, aber dann ging er hinüber, drückte die Klinke herunter und … die Tür öffnete sich mit einem durchdringenden Knarren!
„Das gibt’s doch nicht!“, flüsterte Shana. „Ich hab vorhin gezogen und gedrückt, die war ganz fest zu!“
„Na, jetzt nicht mehr!“, grinste Belly. Er öffnete die Tür bis zum Anschlag und starrte hinein. „Oh Mann!“, entfuhr es ihm. „Schau dir das an!“
Aufgeregt stellte sich Shana neben Belly in den Türrahmen und warf einen Blick in den angrenzenden Raum. Überrascht weiteten sich ihre Augen. Der Raum war riesig, viel größer als ihr Wohnzimmer zu Hause. Er war mit dunklen Dielen ausgelegt, besaß aber drei große Fenster an den drei Außenseiten, die ihn mit warmem Sonnenlicht durchfluteten. In der Mitte führten zwei kleine Stufen auf ein Podest, auf dem eine große Staffelei und ein weiterer Schemel standen. Das Podest war vielleicht zweimal zwei Meter groß und überragte den Rest des Raumes um vielleicht vierzig Zentimeter. Genug, um alles überblicken zu können, wenn man dort oben saß und malte. Denn nur dafür schien dieses Podest geschaffen worden zu sein. Und dass jemand dort malte, war unübersehbar. Denn der Rest des Raumes war übersät mit den erschaffenen Bildern. Sie hingen an den Wänden, standen auf weiteren Staffeleien und gerahmt oder ungerahmt an den Wänden, blickten einem entgegen oder versteckten ihre Motive scheinbar verschämt vor ungebetenen Besuchern.
„Wie kann man nur so viele Bilder malen?“, flüsterte Belly.
„Rufus lebt bestimmt schon sehr lange hier“, antwortete Shana ebenso leise.
„Aber wovon lebt er denn?“ Belly war fassungslos. „Er muss doch Essen und Trinken kaufen! Und er hat keine Multiwand, die alles macht!“
„Du hast recht“, nickte Shana langsam. „Vielleicht verkauft er ab und zu welche, wenn er in die Stadt kommt.“
„Hat er denn noch eine zweite Wohnung?“
„Weiß ich nicht. Wir können ihn ja fragen, wenn er wiederkommt.“
Shana machte ein, zwei Schritte in den Raum hinein und öffnete den Kühlschrank. Die Tür quietschte leicht, als sie sie öffnete. Shana kramte ein wenig in seinem Innern herum und schloss ihn wieder. Dann betrachtete sie suchend die Wände und öffnete schließlich den kleinen Schrank, der sich unter der Spüle befand. Sie warf einen Blick hinein und machte ihn unverrichteter Dinge wieder zu. Schließlich stand sie auf und lief langsamen Schrittes das Zimmer ab. Hier und da bückte sie sich, kam aber jedes Mal kopfschüttelnd wieder hoch. Schließlich war sie fertig und stemmte die Arme in die Seiten.
„Was hast du gesucht?“, fragte Belly mit unsicherer Stimme.
„Steckdosen“, erwiderte Shana. „Wenn es Strom gibt, muss es auch Steckdosen geben. Es gibt aber keine.“
„Der Kühlschrank läuft aber“, gab Belly zu bedenken.
„Hm. Das Haus ist magisch, ich sag’s dir! Komm, wir schauen uns die Bilder an!“
„Ich …“
„Nun komm schon! Hast du etwa Angst vor Bildern?“
„Nein, aber …“
„Belly, Rufus ist in Ordnung. Glaub mir. Ich schau mir jetzt jedenfalls die Bilder an. Du kannst ja hier warten.“
Das wollte Belly nun auch wieder nicht, denn die Aussicht, dass Shana in diesem Bilderzimmer verschwand und er dann hier allein warten müsste, gefiel ihm noch weniger, als mitzugehen. Seufzend folgte er ihr.
Langsam durchquerten sie das Zimmer, das beinahe schon ein kleiner Saal war, und betrachteten neugierig die Bilder, die in ihm ausgestellt waren. Sie vermieden es, eines davon zu berühren.
„Schau mal, hier“, meinte Belly. „Hier ist eine Burg! So eine wie in meinem Anifilm Die letzte Zugbrücke. Sieht ganz schön gruselig aus.“
„Das hier nicht“, meinte Shana und deutete auf ein farbenprächtiges Gemälde, das einen langen, palmengesäumten Sandstrand und türkisfarbenes Meer zeigte.
„Ist das schön!“, entfuhr es Belly, der seine Burg im Stich ließ und zu Shana herüberkam. Sprachlos stand er vor dem großen Bild und ging mit dem Gesicht ganz nahe heran. Tropische Hitze und der Geruch nach Salz und Tang schlugen ihm entgegen. Belly fuhr erschrocken zurück. Das Bild der Burg war ihm schon unglaublich real erschienen, aber das hier …
„Ich hab’s ja gesagt“, sagte Shana zufrieden. „Niemand kann so malen. Und er hat dafür nur einen kleinen Tiegel benutzt.“
Belly hörte gar nicht richtig zu. Es hatte ihn gepackt. Aufgeregt lief er von Bild zu Bild. Jedes war aufregender als das andere.
„Hier!“, rief er Shana über die Schulter hinweg zu. „Ein Zirkus! Und sieh mal, das hier! Ein Wagenrennen! Und da! Eisbären! Mann, die Bilder sind der Hammer! Hey, Shana, komm her und schau dir das an! Das ist völlig verrückt! So seltsame Tiere hast du noch nie gesehen! Richtige kleine Monster und süße Wesen, alles durcheinander! Und die Landschaft erst! Rote Berge, gelbe Straßen und eine grüne Sonne! Das musst du dir ansehen!“