Kitabı oku: «Shana», sayfa 4
Shana lächelte. Belly bewegte sich plötzlich gar nicht mehr schwerfällig, sondern eilte von einem Motiv zum nächsten, bückte sich und kam behände wieder hoch. Seine drückenden Schuhe schien er gar nicht mehr zu bemerken. Nachdenklich ließ Shana ihren Blick durch den Raum schweifen, bis er an dem Podest hängen blieb. Shana fixierte die dort stehende Staffelei. Von ihrem Standort aus konnte sie das Motiv nicht sehen, denn die Leinwand zeigte in die andere Richtung. Sie fasste einen Entschluss. Langsamen Schrittes ging sie in die Mitte des Raumes, bestieg das Podest und ging um die Staffelei herum. Als sie das Bild von vorne sah, klappte ihr der Kiefer runter.
„Belly!“
Ihr Freund zuckte zusammen und löste seinen Blick von einem Bild, das einen Rummelplatz mit lauter Buden, Karussells und einem Riesenrad zeigte.
„Was hast du?“
Stumm winkte Shana ihn zu sich heran. Als Belly neben ihr stand und einen Blick auf die Leinwand warf, weiteten sich seine Augen. Auf der Leinwand befand sich kein Bild. Sondern eine Nachricht.
Liebe Shana!
Ich hab mir schon gedacht, dass du wiederkommst!
Wen hast du mitgebracht?
Ihr könnt malen, wenn ihr wollt.
Nehmt die Leinwände auf der Veranda.
Ich weiß nicht, wann ich wiederkomme.
Essen und Trinken ist im Kühlschrank.
Aber geht bitte, bevor es dunkel wird.
Und berührt keines der Bilder!
NICHT BERÜHREN!
Viel Spaß beim Malen!
Liebe Grüße
Rufus
Belly und Shana wandten gleichzeitig den Blick von der Leinwand und schauten sich an. Shana zuckte die Schultern.
„Ich hab ihm nicht gesagt, dass ich dich mitnehme. Ich hab keine Ahnung, wieso er weiß, dass ich nicht allein zurückkomme. Eigentlich bin ich sogar abgehauen, weil ich dachte, er ist nicht ganz dicht.“
„Du hast gedacht, er ist nicht ganz dicht und hast mich trotzdem mitgenommen?“, fragte Belly wütend.
„Er ist harmlos“, beschwichtigte ihn Shana. „Ich glaube, dass er zu lange allein gelebt hat und ein bisschen … na ja, plemplem ist. Aber das sind Künstler doch alle, oder? Du siehst doch, wie er malt. Ein normaler Mensch kann das nicht. Und nett ist er doch, oder? Wir dürfen essen und trinken und … malen! Dass er uns malen lässt, finde ich toll! Ich will unbedingt wissen, ob ich ein Bild hinkriege. Meine Mutter hat gesagt, zu ihrer Zeit gab es noch Kunstunterricht, aber ich hab noch nie ein Bild gemalt. Du etwa?“
„Nein. Noch nie.“
„Was meinst du, wollen wir?“
Belly schaute auf die vielen Bilder rings um ihn herum. Sein mulmiges Gefühl, dass etwas an diesem Ort ganz und gar nicht stimmte, stritt mit dem unbändigen Verlangen, etwas aus Farbe zu erschaffen. Und wenn es nur Krikel-Krakel war.
„Okay“, meinte er schließlich. „Aber nicht so lange.“
„Kein Problem!“, rief Shana fröhlich und sprang vom Podest runter. „Bevor es dunkel wird, muss ich auch zu Hause sein. Los, komm!“
Shana war schon auf der Veranda, als Bellys Blick auf den großen Kühlschrank fiel. Er konnte nicht widerstehen. Als er die Tür öffnete, sprangen ihm die köstlichsten Dinge ins Auge.
„Okay“, murmelte er. „Erst essen, dann malen!“
In aller Seelenruhe bereitete er sich ein riesiges Sandwich mit Schinken, Käse, Thunfisch, Salat, Gurke und Mayonnaise zu. Von draußen drang Shanas ungeduldige Stimme zu ihm. Suchend öffnete er die Schubladen in der Küche, fand schließlich ein scharfes Messer und schnitt das Sandwich in zwei gleich große Teile. Fröhlich summend begab er sich damit nach draußen.
„Mann, wo bleibst du denn?“, fragte Shana und trat von einem Bein aufs andere. „Warst du auf’m Klo?“
„Nein, da drin gibt’s gar kein Klo. Müssen wir wohl in den Wald machen“, sagte Belly lachend und hielt ihr die eine Hälfte des Sandwichs hin. „Hier, schau! Ich hab uns was zum Essen gemacht!“
Shana wollte schon ablehnen, sie verspürte absolut keinen Hunger. Aber als sie Bellys leuchtende Augen sah, nahm sie ihm das Sandwich ab. Er hatte es schließlich nur gut gemeint.
„Danke. Ich ess es, wenn ich mit meinem Bild fertig bin, okay? Sieh mal, für jeden von uns ist ein Tiegel mit Farbe da! Ich möchte bloß wissen, warum er gewusst hat, dass ich dich mitbringe …“
„Er wusste, dass du neugierig bist“, sagte Belly und biss herzhaft von seinem Sandwich ab. „Aber er wusste auch, dass du Bammel hattest, allein wieder herzukommen.“
„Ich hatte keinen Bammel!“, fuhr Shana auf.
„Und warum bin ich dann mit?“
„Ich … ich konnte es nicht mehr aushalten. Allein so was zu entdecken ist doof.“
„Auch ´ne Erklärung!“, grinste Belly und genoss sein Brot. Shana legte ihr Sandwich vorsichtig auf den Holzbohlen der Veranda ab und nahm den Tiegel, der auf ihrem Schemel stand, in die Hand. Behutsam drehte sie den Deckel ab und schaute hinein. Verblüfft hielt sie ihn Belly hin.
„Sieh mal! Wie Farbe sieht das nicht aus, oder?“
Belly biss ein letztes Mal ab und warf einen Blick in den Tiegel. Was er erblickte, erinnerte wahrlich nicht an gewöhnliche Farbe. Es war eine Masse undefinierbarer Konsistenz und unscheinbarem Aussehen. Grau und zähflüssig wie Gel. Und dennoch schien es Belly, als würde diese Masse für einen winzigen Augenblick schillern wie ein Regenbogen.
„Mehr hat dieser Rufus nicht?“, fragte er enttäuscht. „Keinen Tuschkasten oder eine Palette?“
„Nein“, bekräftigte Shana. „Mehr hat er nicht benutzt. Das Bild mit den Galeeren entstand aus genau so einem Tiegel wie dem hier. Probieren wir es aus?“
Belly stopfte sich den letzten Bissen seines Sandwichs in den Mund und nickte. Dann nahm er sich den anderen, exakt gleich aussehenden Tiegel, der auf dem zweiten Schemel stand und drehte den Verschluss ab. Ein kurzer Blick hinein bestätigte ihm, dass es sich um den gleichen Inhalt handelte.
„Und womit malen wir?“, fragte er ratlos.
„Damit!“, sagte Shana und zeigte auf die Staffeleien, auf denen in kleinen Mulden je ein Pinsel lag. Belly nahm den seinen an sich und setzte sich umständlich auf den Schemel. Shana machte es ihm nach.
Wie auf Kommando sahen sie sich an.
„Was malst du?“, fragten beide gleichzeitig und lachten schallend.
„Ich weiß nicht“, sagte Belly, nachdem er sich beruhigt hatte. „Und du?“
Shana blickte nachdenklich zum Waldrand. „Ich weiß auch nicht … ich wollte immer ein Pferd haben. Ein wildes.“
„Ein wildes?“, fragte Belly erstaunt. „Aber das kannst du nicht reiten!“
„Ich will es auch gar nicht reiten. Wo soll ich denn reiten? Oder weißt du einen Ort, an dem ich das könnte? Wir dürfen doch nur in den Zoo oder den Botanischen Garten.“
„Du könntest hier reiten.“
Shana blickte ihn überrascht an. „Stimmt. Das könnte ich. Aber egal, ein Pferd krieg ich nie. Nein, dann mal ich ein wildes. Eine ganze Herde in einer weiten Landschaft. Und du?“
Belly überlegte nicht lange. „Ich male ein Schiff. Ein Segelschiff. Ein altes mit drei Masten. Ich wollte immer auf dem Meer um die Welt fahren, aber das geht ja nur in den Anifilmen.“
„Okay“, machte Shana und tauchte ihren Pinsel in den Tiegel. „Dann lass uns anfangen. Auf drei?“
Belly nickte heftig. Er war aufgeregt. Seine Befürchtungen und das mulmige Gefühl waren in diesem Moment völlig verflogen.
„Auf drei!“
Gleichzeitig tauchten die beiden Kinder ihre Pinsel in die Tiegel. Als Shana ihren wieder herauszog, bemerkte sie verblüfft, dass sie keine Farbe abstreichen oder auf einen Tropfen aufpassen musste. Der Pinsel war gleichmäßig umhüllt von diesem Gel, und die Masse blieb, wie sie war, egal, wie Shana den Pinsel hielt.
„Komisch, oder?“, fragte Belly, dem es genauso erging.
„Hm, wie man damit malen soll, möchte ich mal wissen.“
Shana führte ihren Pinsel zur Leinwand, und je näher sie kam, desto mehr meinte sie, wie ein Magnet von dieser angezogen zu werden. Im ersten Impuls wollte sie ihre Hand zurückziehen, aber dann ließ sie es geschehen. Mit einem leisen ffsssssttt saugte sich der Pinsel förmlich an der Leinwand fest. Fasziniert sah Shana, wie sich unzählige feinste Härchen in dem Gel in Bewegung setzten, in Wellenbewegungen unruhig hin und her wogten und den Pinsel zum Vibrieren brachten. Doch obwohl Pinsel und Leinwand miteinander verschmolzen schienen, erschien nicht der geringste Farbklecks. Shana versuchte, eine Linie zu ziehen, aber der Pinsel ließ sich von ihr nicht bewegen. Verblüfft versuchte sie es mit mehr Kraftaufwand, aber das änderte nichts. Der Pinsel blieb, wo er war, bewegte aber weiter seine hauchfeinen Borsten.
„Er will nicht!“, rief Belly herüber.
„Meiner auch nicht!“, antwortete Shana.
„Und was jetzt?“
„Weiß nicht. Vielleicht sind wir nicht auserwählt.“
Belly versuchte immer noch, seinen Pinsel zu irgendeinem Strich zu bewegen, aber vergeblich. Shana lehnte sich auf ihrem Schemel ein Stück zurück und überlegte. Dann kam ihr eine Idee und sie ließ den Pinsel los. Keine Sekunde später löste er sich von der Leinwand und fiel auf die Holzbohlen der Veranda.
„Hey!“, rief Shana überrascht. „Allein hält er nicht!“
Belly probierte das gleiche mit seinem Pinsel, und auch er fiel zu Boden.
„Hm“, machte Belly. „Die wollen schon, dass wir malen.“
„Und warum malen sie dann nichts?“
„Wie hat denn dieser Rufus gemalt?“
„Na ja … es ging einfach so. Ich weiß nicht genau.“
Shana versuchte, sich das Gespräch mit Rufus wieder in Erinnerung zu rufen. Wovon hatte er gesprochen? Hatte er ihr verraten, wie er den Pinsel zum Malen kriegte? Nein, aber er hatte etwas von Träumen erzählt … Plötzlich fiel es ihr wieder ein.
„Es sind Traumbilder!“
Belly zuckte zusammen. „Es sind was?“
„Traumbilder! Er hat gesagt, dass es Traumbilder sind. Und wenn er was braucht, malt er es sich einfach.“
„Entweder er spinnt oder du“, meinte Belly trocken.
„Wir müssen von dem, was wir malen wollen, träumen!“, sagte Shana langsam. Sie hob ihren Pinsel auf und führte ihn behutsam wieder an die Leinwand heran. Sofort verschmolzen seine Borsten mit ihr und nahmen ihre Bewegungen erneut auf. Shana holte tief Luft und ließ sie langsam wieder aus ihren Lungen heraus. Dann schloss sie die Augen. Belly sagte etwas, aber sie brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Sie stellte sich ein Pferd vor. Ein tiefschwarzes, großes stolzes, das auf einem Hügel stand und mit den Hufen scharrte. Der Hengst schaute auf eine weite grasbewachsene Ebene hinab. Von der Abendsonne beleuchtete Wolkenfetzen trieben am Himmel dahin. Unten im satten Grün graste die Herde. Seine Herde. Der Leithengst schnaubte und blies kleine Atemwölkchen in die Luft. Dies war sein Reich, und wenn ein Pferd glücklich sein konnte, dann hier, in diesem weiten Land. Mit einem lauten Wiehern stellte er sich auf die Hinterbeine und wirbelte mit den Vorderhufen durch die Luft. Dann hielt es ihn nicht mehr dort oben, und in rasendem Galopp fegte er den Hügel hinunter. Sandwolken stoben auf und hinterließen eine Fahne aus Staub. Das Pferd strotzte vor Kraft und Freiheitsdrang, und die Landschaft bildete den Rahmen für sein Leben.
Shana sah all dies so deutlich vor ihrem inneren Auge, als wäre sie dabei. Wie gern wäre sie in diesem Moment auf dem Rücken des Hengstes mit ihm in die Ebene galoppiert …
Plötzlich verspürte sie einen warmen Strom in ihrem Arm. Ihre Finger begannen zu kribbeln. Shana dachte nur an das Pferd. Sie spürte, dass etwas mit ihr geschah, aber sie ließ es geschehen. Dann, wie auf einen unsichtbaren Befehl hin, begann sich ihr Arm zu bewegen. Er führte ihre Hand nach links und nach rechts, setzte den Pinsel ab und wieder neu an, fuhr sanft und wieder kräftig über die Leinwand, brachte Shanas Finger dazu, ihn mal flach, dann wieder spitz zu halten, zu tupfen, zu schaben oder zu wischen. Das alles dauerte vielleicht zwei oder drei Minuten, dann war es vorbei. Das warme Gefühl verschwand aus ihrem Arm, und die Spannung in ihren Muskeln ließ nach. Shana spürte, wie sich der Pinsel von der Leinwand löste und ließ ihre Hand langsam sinken. Das Bild vor ihrem geistigen Auge verblasste und verschwand schließlich ganz. Sekundenlang saß sie in atemloser Spannung da, die Augen immer noch fest zusammengekniffen. Neben sich hörte sie Holz knarren und wusste, dass Belly dabei war, von seinem Schemel aufzustehen.
„Oh Mann“, entfuhr es ihrem Freund. „Das glaubst du nicht! Das ist der Hammer! Das hast du gemalt?“
Shana riss die Augen auf. Ungläubig starrte sie auf das, was auf der Leinwand entstanden war. Sie hatte den schwarzen Hengst in genau dem Moment gemalt, als er die Flanke des Hügels hinabgaloppierte. Shana saß so dicht vor der Staffelei, dass sie das Muskelspiel des dahinwirbelnden Tieres sehen konnte. Die Abendsonne malte ein rot-violettes Licht auf die Landschaft und tauchte sie in beinahe unirdische Schönheit. Die Staubwolke, die hinter dem Hengst aufstieg, schien so real, dass Shana meinte, sie wehte davon.
Abrupt stand sie auf und stieß dabei den Schemel um. Sie machte zwei Schritte rückwärts und ging dann in die Hocke. Jetzt konnte sie das Bild im Ganzen betrachten. Ihre Augen konnten sich nicht sattsehen. Alles war so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Es war, als hätte jemand einen Film angehalten.
„Ich glaub’s nicht“, murmelte Belly. „Wie hast du das hingekriegt?“
Shana kam aus der Hocke wieder hoch und lächelte Belly an. „Mach die Augen zu und steig auf dein Schiff“, meinte sie. „Du musst genauso davon träumen, wie du es sonst immer machst und dir alles ausmalst. Vergiss die Umgebung und segle los!“
„Aber …“
„Mach schon! Versuch’s!“
Man konnte Belly ansehen, dass ihn noch immer Zweifel plagten, obwohl er das Ergebnis auf Shanas Leinwand sehen konnte. Er betrachtete versonnen den Pinsel in seiner Hand und seufzte. Dann gab er sich einen Ruck, ging zurück zu seinem Schemel und ließ sich wieder darauf nieder. Shana stellte sich hinter ihn und legte ihm die Hände auf die Schultern.
„Mach die Augen zu“, befahl Shana. „Und jetzt erzähl mir von deinem Schiff. Du hast gesagt, es soll alt sein und ein Dreimaster. Was noch? Ist es spanisch oder portugiesisch oder englisch? Wo fährt es hin? Ist gerade Sturm oder segelt es auf eine Insel zu?“
„Nein, nein“, erwiderte Belly. Er schloss die Augen, und Shana spürte, wie ihr Freund entspannte.
„Es liegt noch im Hafen. Ich will ja mitfahren und anheuern. Ich sitze auf einem dicken zusammengerollten Schiffstau auf der Kaimauer und schau es mir an. Es ist riesig, und eine Menge Matrosen sind dabei, es zu beladen. Sie schleppen schwere Kisten an Bord. Ich höre, wie die Masten knarren und rieche die Farbe, mit der schadhafte Stellen ausgebessert werden. Am Rumpf sind Muscheln festgewachsen, und am Bug ist eine Galionsfigur, eine Frau, deren lange Haare so echt aussehen, als würden sie im Fahrtwind wehen.“
Belly sprach immer weiter und steigerte sich in eine Begeisterung hinein, die Shana von ihm noch nicht kannte. Dann, wie auf ein geheimes Kommando, setzte sich sein rechter Arm in Bewegung. Atemlos sah Shana zu, wie Belly sein Traumbild schuf. Ihr Freund war von seiner Erzählung so gefangen genommen, dass er gar nicht zu bemerken schien, dass er mittlerweile zu malen begonnen hatte. Strich um Strich entstand. Shana blinzelte ungläubig. Der Pinsel schien die Farben in sich zu mischen. Wo immer Belly auch ansetzte, erschien die richtige Farbe, sei es das dunkle Braun des Schiffleibs, das schmutzige Grau des Hafenwassers, das Azurblau des Himmels oder die bunten Farben der Waren der Händler, die im Hafen ihre Stände aufgebaut hatten. Shana musste lächeln. Bellys Bild erinnerte entfernt an das von Rufus mit den Galeeren. Männer schienen die gleichen Träume zu haben.
Mit einemmal verstummte Bellys Redefluss. Sein Bild war fertig. Langsam löste sich der Pinsel von der Leinwand und Bellys Arm sank herab. Fasziniert betrachtete Shana das Ergebnis. Das Bild war atemberaubend. Beinahe meinte Shana, das Wasser leise an die Kaimauer schwappen zu hören.
„Kannst die Augen aufmachen!“, sagte sie lachend zu ihrem Freund und löste ihre Hände von seinen Schultern. „An dir ist ein zweiter Rembrandt verloren gegangen!“
Vorsichtig öffnete Belly die Augen. Als er den ersten Blick riskiert hatte, riss er sie weit auf.
„Juiiihh!“, entfuhr es ihm. „Das gibt’s nicht!“
Er hob seinen Po etwas an und ruckelte mit dem Schemel ein Stück weiter nach hinten, um besser sehen zu können.
„Mensch, sieh mal!“, rief er begeistert. „Da steht sogar der Name dran, den ich mir ausgedacht hab: Adventure! Und hier … sieh doch! Da sitze ich! Auf dem Tau!“
Belly konnte es nicht fassen. „Wie kann das sein?“, flüsterte er und betrachtete seinen Pinsel wie einen Gegenstand vom Mars. „Das alles nur mit einem bisschen von diesem Zeug in dem Topf da?“
„Du hast mir ja nicht geglaubt, dass Rufus ein Magier ist!“, sagte Shana triumphierend.
„Das ist nicht magisch, das ist unheimlich“, murmelte Belly und legte den Pinsel hastig auf der Staffelei ab.
„Ich finde es nur aufregend, nicht unheimlich“, meinte Shana, legte ihren Pinsel aber auch zurück. „Dagegen kannst du jeden Anifilm vergessen.“
„Die Farbe sieht gar nicht feucht aus.“ Belly beugte sich vor und betrachtete das Bild von Nahem. „Müsste doch eigentlich erst noch trocknen. Das ist wirklich eine merkwürdige Farbe. Findest du nicht, dass das Bild wie ein Foto aussieht?“
Shana schüttelte den Kopf. „Nein, ich finde, es sieht eher aus wie ein Blick durch ein Fenster. Als wenn es echt wäre.“
Belly hob die Hand und berührte die Leinwand vorsichtig. Gleich darauf zuckte er erschrocken zurück. Verblüfft hielt er Shana seinen Finger vor die Nase.
„Ein Wassertropfen!“
Shana fiel etwas ein. „Nicht berühren! Rufus hat gesagt, dass wir die Bilder auf keinen Fall berühren dürfen!“
Belly beäugte den Wassertropfen auf seiner Fingerspitze. „Aber das ist doch nur Wasser …“
„Ziemlich schmutzig“, bemerkte Shana. „Du solltest dich mal wieder waschen!“
„Hey!“, brauste Belly auf. „Ich hab heute morgen geduscht! Das war das Bild!“
„Das Bild ist furztrocken“, stellte Shana fest und warf einen Blick in den Himmel. „Komisch, nach Regen sieht es aber nicht aus. Wo kommt dann das Wasser her?“
„Egal“, meinte Belly und streifte sich den Tropfen an seiner Hose ab. „Aber die Sonne steht schon ziemlich tief. Ich glaube, wir sollten die Bilder reinstellen und nach Hause gehen.“
Shana warf einen erschrockenen Blick auf ihr Portable, um nachzuschauen, wie spät es war. Im selben Moment weiteten sich ihre Augen in panischem Schreck.
„Es ist weg! Mein Portable ist weg!“
Belly fuhr herum. „Hast du es zum Malen abgelegt?“
„Nein … ich … ich muss es zu Hause vergessen haben.“
„Du hast was?“ Belly wurde blass. „Ohne sein Portable darf man nirgendwo hingehen! Wie konntest du es vergessen?“
Shana stampfte mit dem Fuß auf. „Ich hab’s nun mal vergessen! Vielleicht war ich vorhin zu aufgeregt. Ich weiß sogar noch, wo ich es hingelegt habe. Es muss auf dem Bett liegen.“
„Na toll, dann gute Nacht!“, meinte Belly grimmig. „Da hast du uns ja schön reingeritten!“
„Mann, so schlimm ist es auch wieder nicht. Nehmen wir halt deins.“
Belly starrte Shana schweigend an. Dann hob er langsam seinen rechten Arm bis dicht vor Shanas Nase. Sie blickte auf sein Handgelenk. Es war leer. Eisiger Schrecken fuhr ihr durch alle Glieder.
„Du hast deins auch nicht mit?“, flüsterte sie. Belly schüttelte den Kopf. „Wozu sollte ich? Du wolltest, dass ich gleich mitkomme. Da hab ich nicht dran gedacht.“
„Das kann doch nicht wahr sein!“, stöhnte Shana. „Ja, ja, ohne sein Portable darf man nirgendwo hingehen! Toller Spruch, Belly!“
„Das nutzt uns jetzt auch nichts.“ Belly ließ seinen Arm wieder sinken und schaute zur Sonne, die bereits hinter den Bäumen verschwunden war und recht tief stehen musste. „In ein, zwei Stunden ist es dunkel. Wir müssen vorher zurück sein, sonst gibt’s gewaltigen Ärger.“
„Weißt du, wie weit es bis in die Stadt ist? Und wir wissen doch gar nicht, ob wir überhaupt in unsere Zone reinkommen, selbst wenn wir sie finden. Das macht alles der Beamer.“
Belly sackte sichtlich in sich zusammen. „Und was machen wir jetzt?“
„Wir warten auf Rufus.“
„Aber du weißt doch gar nicht, wann er zurückkommt!“
„Nein, aber im Wald wird er auch nicht schlafen.“
„Wo denn dann?“, fragte Belly schnippisch.“ Hast du in der Hütte vielleicht ein Bett gesehen?“
„Nein“, musste Shana verblüfft zugeben. Da standen die beiden Sessel und ansonsten nur Bilder, nichts als Bilder. Ein Schlafzimmer gab es nicht.
„Hast du eine bessere Idee?“, fragte sie verärgert. „Er kommt bestimmt wieder, sonst hätte er uns keine Nachricht hinterlassen.“
„Klar kommt er wieder“, entgegnete Belly schnippisch. „Fragt sich nur, wann. Wenn man eine Nachricht hinterlässt, bleibt man länger weg.“
„Toll. Vielen Dank auch!“ Shana packte ihre Staffelei mit beiden Händen und hob sie hoch. „Ich bring mein Bild jedenfalls jetzt rein in die Galerie und dann mach ich mir was zu essen.“
Belly schaute ihr hilflos hinterher. Ihm taten die Füße weh, und er fühlte sich überhaupt nicht wohl. Dann fiel ihm ein, was Shana zuletzt gesagt hatte. Ein bisschen was essen könnte eigentlich nicht schaden. Dann fühlte man sich bestimmt gleich besser. Außerdem hatte er sich schon ewig nicht so viel bewegt wie heute. Er war gespannt, was sich noch alles im Kühlschrank finden würde. Und dieser Rufus würde schon wieder auftauchen. Seufzend packte er seine Staffelei und folgte Shana in die Blockhütte.
Drinnen mussten sich seine Augen erst wieder an die dunklere Umgebung gewöhnen. Belly sah, dass die Tür zur Galerie, wie Shana sie genannt hatte, offen stand und schleppte sein Bild hinüber in den anderen Raum. Shana war gerade dabei, auf das Podest zu steigen und ihre Staffelei oben abzustellen.
„Da oben?“ Belly hob fragend die Brauen. „Meinst du, Rufus würde das gut finden, wenn wir unsere Bilder auf seinem Lieblingsplatz abstellen?“
„Er hat bestimmt nichts dagegen“, erwiderte Shana, rückte die Staffelei zurecht und blickte zufrieden auf ihr Werk. „Komm, stell deins daneben. Dann sieht er sie sofort. Ich finde, er sollte sehen, dass wir es geschafft haben, uns auch ein Bild zu erträumen.“
Belly erklomm schnaufend das Podest und platzierte sein Bild neben das von Shana. Dann warf er einen Blick auf die dritte Staffelei, die von Rufus, die ja auch immer noch hier oben stand.
„Hey!“, rief er verblüfft. „Sieh dir das an! Da steht was Neues!“
Shana glaubte, ihren Augen nicht zu trauen. Auf der Staffelei von Rufus schien jemand eine neue Leinwand eingespannt zu haben. Wieder stand dort eine Nachricht geschrieben, eindeutig in derselben Schrift wie die erste. Shana begann, laut vorzulesen:
Liebe Shana!
Wenn ihr hier übernachten müsst,
bedient euch aus dem Kühlschrank.
Zum Schlafen nehmt die Kissen aus den Sesseln,
das mach ich auch so.
Ich bin morgen zurück.
Liebe Grüße
Rufus
Ach ja: NICHT BERÜHREN!!
Belly blickte Shana mit großen Augen an. „Der muss hier gewesen sein, als wir gemalt haben! Warum hat er uns nichts gesagt?“
„Bestimmt wollte er uns nicht stören, als wir unsere Traumbilder gemalt haben“, meinte Shana nachdenklich. „Ich würde trotzdem zu gerne wissen, wo er jetzt steckt. Vielleicht hat er ja einen Beamer oder wenigstens eine Karte. Er weiß bestimmt, wie wir zur Stadt kommen.“
„Ich versteh das nicht“, meinte Belly. „Er muss doch wissen, dass wir Ärger kriegen und unsere Eltern sich Sorgen machen. Warum hilft er uns dann nicht?“
„Das wird schon seinen Grund haben.“ Shana löste ihren Blick von der Staffelei und sprang vom Podest herunter. „Komm, schauen wir mal, was er im Kühlschrank hat!“
Das lenkte Belly von seinem mulmigen Gefühl ab. Für einen Moment betrachtete er noch versonnen sein Traumbild. Der Dreimaster lag vertäut am Kai. Beinahe schien es, als würde er sich jeden Moment losreißen und auf eigene Faust davonsegeln. Plötzlich meinte Belly, eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Das Wasser im Hafen kräuselte sich leicht … Belly beugte sich vor und fixierte das Hafenwasser. Nein, er musste sich getäuscht haben. War ja auch Blödsinn.
„Belly, kommst du?“, hörte er Shanas Stimme aus dem anderen Zimmer. „Rufus muss eingekauft haben! Hier gibt’s einfach alles!“
Belly seufzte und löste sich von dem Anblick seines Bildes. Er hätte alles dafür gegeben, es mit nach Hause nehmen zu dürfen. Er beschloss, diesen Rufus zu fragen, wenn er wieder auftauchen sollte. Mit neuer Zuversicht trat er vom Podest herunter und ging zu Shana in die Küche. Auf dem Weg dahin schnüffelte er verblüfft. War das nicht der Geruch von Brackwasser, Fisch und Algen? Irgendwie spielten ihm seine Sinne dauernd Streiche. Erst dieser Tropfen, dann bewegte sich das Wasser auf dem Bild, und nun roch er auch noch seinen geliebten Hafen. Er riss sich zusammen. Das alles hier war mehr als merkwürdig, aber es gab bestimmt eine wissenschaftliche Erklärung für diese Farbe und die Traumbilder. Aber wie die auch immer aussah, Belly genoss es zu träumen, denn dann fuhr er mit seinem Schiff durch eine Außenwelt, die noch viel weiter weg war als die, in der sie sich jetzt befanden.
Er schüttelte alle Gedanken ab und stellte sich neben Shana, die dabei war, den Kühlschrank zu plündern und die Sachen auf der Arbeitsplatte auszubreiten.
„Sieh mal, alles da! Wurst, Käse, Schinken, Pfirsiche, Kirschen, Joghurt und Milch. Such du mal Brot, dann machen wir uns ein paar zurecht und futtern auf der Veranda!“
In einem der Unterschränke der Küchenzeile fand sich ein Laib knusprigen Brotes, so eines, das Shana nur aus Erzählungen ihres Großvaters her kannte. Belly und Shana schmierten sich einen ganzen Berg voller Brote, wuschen Obst ab und suchten sich zwei Pflaumenjoghurts aus. Dann luden sie alles auf ein Tablett, das in einer Nische gestanden hatte und verfrachteten das Ganze auf die Veranda, wo sie sich auf den Holzbohlen niederließen und ihr Abendbrot in den letzten Sonnenstrahlen des Tages verspeisten. Die Sonne schickte nur noch Ableger durch den Wald, und es war bereits merklich dunkler geworden. Aber Belly hatte recht gehabt. Die Gedanken an mögliche Gefahren verblassten merklich, wenn man etwas Gutes zum Essen hatte. Sie aßen langsam und genossen jeden Bissen. Doch als sie fertig waren, mussten sie sich ihrem Problem stellen. Es wurde dunkel.
„Mir ist kalt“, sagte Shana und fröstelte. An ihren Armen kribbelte die schönste Gänsehaut. „Oh Mann, und ich hab versprochen, um sieben zu Hause zu sein.“
„Meinst du, ich nicht?“, erwiderte Belly trocken. „Mir ist auch kalt. Lass uns reingehen. Glaubst du, Rufus kommt bald?“
„Hoffentlich“, seufzte Shana. „Ich hab keine Lust, hier zu schlafen.“
Sie räumten die Sachen ab und trugen sie ins Haus. Drinnen war es bereits so dunkel, dass es Shana schwer fiel, sich zu orientieren. Sie tastete nach einem Lichtschalter, fand aber keinen.
„Lass es!“, tönte Bellys Stimme durch den Raum. „Ich hab’s auch schon probiert.“
Sie hörte, wie Belly das Geschirr abstellte und dabei einen ziemlichen Lärm veranstaltete, weil er schlecht sehen konnte.
„Hast du’s akustisch probiert?“
„Er hat keine Multiwand!“
„Nein, aber vielleicht einen anderen Sensor.“
„Hast du die Kerzen gesehen? Kannst ja mal probieren zu sagen: Multiwand! Kerzen an!“
Shana war sauer, aber sie musste Belly Recht geben. Wer altmodische Kerzen in seiner Wohnung hatte, würde sie wohl kaum elektronisch anzünden. Sie wusste auch nicht, ob das überhaupt möglich war.
„Lass bitte die Tür offen!“, rief Belly. „Dann hab ich wenigstens ein bisschen mehr Licht. Ich such mal Streichhölzer.“
Eine Weile kramte er in den Schubladen herum, bis er fand, was er suchte.
„Wusste ich’s doch! Ich mach’s uns gemütlich.“
Belly ging durch den Raum und zündete jede Kerze an, die er finden konnte. Augenblicke später erfüllte ein warmes Licht das Wohnzimmer. Shana atmete auf. Jetzt konnte sie endlich die Tür schließen. Je dunkler es wurde, desto unheimlicher erschien ihr die gähnende Öffnung. Sie wollte abschließen, aber die Tür besaß nicht einmal ein Schloss. Dafür allerdings einen großen metallenen Riegel, den Shana mit einem Ruck vorschob.
„So kommt Rufus aber nicht mehr rein“, kam es von Belly.
„Egal, aber auch niemand sonst.“ Shana zuckte die Schultern. „Soll er klopfen.“
„Und was machen wir jetzt?“, meinte Belly. „Einen Anifilm wird’s hier nicht geben. Sag mal, hatte der andere Raum einen Ausgang?“
„Nein, aber schau mal nach, ob die Fenster zu sind.“
Belly griff sich eine der dicken Kerzen und wollte Shanas Aufforderung nachkommen, als er im Durchgang zur Galerie stehen blieb.
„Kommst du mit? Ist ziemlich dunkel da drin.“
„Hm“, kam es von Shana, der plötzlich das Herz bis zum Hals klopfte. Sie wollte ihre Angst abschütteln. Das Haus hier war bestimmt harmlos. Und Rufus war nett. Auf der anderen Seite befand sie sich weit von zu Hause entfernt mitten in einem Wald in einer einfachen Hütte, und der einzige, der sie beschützen konnte, war ein dicker Junge. Toll. Aber dann schimpfte sie mit sich selbst. Belly war zwar dick, aber seit er hier draußen war, ging eine seltsame Wandlung mit ihm vor. Er schien mit einemmal selbstbewusster, mutiger. Ja, sogar beweglicher. Als sie so darüber nachdachte, fand sie es eigentlich doch ganz gut, dass Belly bei ihr war.
Sie nahm ebenfalls eine Kerze in die Hand und stellte sich neben ihren Freund in den Türrahmen. Die Staffeleien und Bilder warfen unruhige Schatten an die Wände. Shana schluckte. Es waren nur Bilder!
„Na los!“, sagte sie mit bemüht forscher Stimme und ging vorsichtig in den Raum hinein. Belly folgte ihr auf dem Fuß.