Kitabı oku: «Halt», sayfa 4

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6

Wäre wohl wirklich »ratsam«, dass Amma sich »mal um ihr Zimmer kümmert«, wie am Vortag von Nana angeregt, um die glitschigen Leggings und gebrauchten Schlüpfer, die überall herumlagen. Doch während dieses Goldstück Belinda unten das Vaterunser oder sonstwas stammelte, saß Amma an ihrem Schreibtisch, legte den Kopf auf ihre spitzen Fingerknöchel und schwor sich, das Schmuckkästchen neben ihr ja nicht zu öffnen. Sie zog ihre ausgeleierten schwarzen Ärmel so tief herunter, wie es nur ging, und schob beide Daumen durch die Löcher, die sie eigens dafür eingerissen hatte. In ihrem Bauch schwappte es wieder. Sie stöhnte.

Gestern hatten sie ihre Ergebnisse bekommen: Amma wurde wie alle anderen Aufsichtsschüler mit lauter Bestnoten bekränzt. Mit dem Zeugnis in der Hand taten sie ganz überrascht und erleichtert. Danach konnten sie unmöglich nach Hause gehen. Party! Max aus der Alleyn’s School! Mit der Riesenhütte kurz vor Dulwich Village? Schon waren sie unterwegs. Max’ Papa stellte Weinkartons und Eimer voller Bierflaschen auf den langen Esstisch, bevor er seinem Sohn High Five gab und ging.

Kaum dass die Haustür zugefallen war und bevor irgendjemand protestieren konnte, schnappte sich Amma den Beaujolais. Sie flitzte in den Keller, zog ihre Chucks aus und verzog sich in eine Ecke der Bibliothek. Bis um fünf oder sechs Uhr früh die Songs von Addie Lee ertönten und man tuntige Abschiedsküsse tauschte, wäre Max’ Wohnzimmer von den Schweißschwaden kindlich geschmückter Skater und frischgebackener Camberwell-Kunststudenten durchströmt, die an ihren Latzhosen zupften und winzige Hütchen trugen, während die Jeans der prolligeren Mädchen ein appetitliches Stückchen Arschspalte freigaben; dazu die jungen Tories, mit Stella abgefüllt, volllippig, hochstirnig und für großmäulige Debatten präpariert. Denen, die nicht zu den weichen Drum’n’Bass-Klängen tanzten und baggerten, bot keines der Gespräche Substanz oder Trost. So war das immer. Und wenn man mal auf einen Menschen traf, der mit seinen Worten die Zeit aussetzen konnte, musste man ihn unbedingt festhalten. Seit Brunswick hatte es nichts Vergleichbares mehr gegeben. Die eiskalten Trimesterferien im Februar, die alles begründet hatten, schienen sehr weit weg. Amma fuhr mit den Fingern an ihrem Kragen entlang, um sich zu beruhigen.

Letzte Nacht, in der Bücherhöhle von Max’ Eltern, hatte Amma die neugierigen Frager abblitzen lassen, die den Kopf zur Tür hereinstreckten. Über ihr dröhnte die Musik, und sie trank den Wein genüsslich aus, erfreute sich an der poetischen Schwarzfärbung ihrer Zunge, griff nach Lorca, Yates, Bowen, sonst wem. Sie las sich selbst zufällig aufgeschlagene Seiten vor. Kritzelte sich die Namen von Dichtern, die sie bisher nicht kannte, auf das Handgelenk. Natürlich wusste sie, dass ihr Verhalten unmöglich war. Sie konnte nicht anders.

Amma würdigte den aufwendig geschnitzten Deckel des Schmuckkästchens keines Blicks und rieb an den verschmierten Namen. Sie nahm eine Haarklemme von ihrem Schreibtisch, saugte so lange an den Enden, bis sich die schwarzen Kügelchen lösten, und spuckte sie auf die Glasplatte: winzige Geschosse. Vielleicht hatte die letzte Nacht auch mit Belinda zu tun, mit ihrer Ankunft. Amma störte sich an der Vorstellung einer Besucherin. Keine Privatsphäre mehr. Jemand, der alles beobachten, der Fragen stellen würde. Wieder jemand, an den man denken müsste. Sie rutschte auf dem Kissen herum. Sie hätte sich mehr Mühe geben können, mit Belinda im Taxi. Schließlich hatte Amma sich manchmal sogar gefragt, wie es wäre, eine schwarze Freundin zu haben. Als sie aber vom Flughafen hierher gefahren waren, hatte Amma aus den Augenwinkeln gesehen, wie Belindas Gesicht – die riesigen Augen, der breite Mund, tatsächlich waren fast alle ihre Züge eine Spur zu groß – vor lauter Beherrschung immer wieder zuckte und sich verzerrte.

Als sie plötzlich Mums Stimme hörte, war das kein Schock. »Amma? Amma Otuo? Aden! Dein eigener Vater kommt nach Hause und du überlässt es einem Gast, ihn willkommen zu heißen. Maame; so geht das nicht.«

Amma stand auf. Nun musste sie die sichere Zuflucht ihres Schreibtischs verlassen und sich nach unten begeben, in die Gesellschaft von drei Leuten, die nicht das nötige Rüstzeug hatten, um sie zu verstehen. Und das konnte man ihnen unter Umständen nicht einmal vorwerfen. Wir sind nun mal dort geboren, wo wir geboren sind, zum Glauben verleitet, zu dem wir verleitet werden. Der zweite Teil dieser Konstruktion war besonders problematisch. Sie zog an ihren schwarzen und lila Zöpfen, um sich aus dieser Stimmung zu reißen.

»Bin gleich da, liebste Mama«, sagte Amma. Sarkasmus war die schnellste und erbärmlichste Ausflucht.

7

Belinda unterbrach das Gespräch, atmete tief ein, um die Anspannung zu lösen, die sie beim Telefonieren verspürte. Es war gar nicht so leicht, Mary gegenüber einen unbekümmerten, lockeren Ton anzuschlagen. Sie versuchte es noch einmal.

»Und – und wie geht’s unserer Aunty?«

»Ihr geht’s prima. Aber du hast doch gerade mit ihr geredet, oder?«, sagte Mary.

»Ja.«

»Dann hast du’s ja selber gehört. Ich kümmer mich supergut um sie. Auch um Uncle. Mach dir keine Sorgen.«

»Ich mach mir gar keine … Sorgen.«

»Schön für dich. Hast Glück. Keine Sorgen zu haben. In deinem englischen Schloss.«

»Was ist mit dir? Geht’s dir auch gut?«

»Ja, Belinda, alles bestens.«

Sie stellte sich Mary neben der Veranda vor, mit dem Hörer fest in der Hand. Sie hörte sich anders an, obwohl Belinda erst drei Tage weg war.

»Ich kann dich nicht so gut hören, Belinda. Belinda? Red lauter, sonst hör ich dich nicht.«

»Ich habe doch nichts gesagt.«

»Oh.«

»Ich –«

»Ich –«

Sie kicherten beide. »Du zuerst, Belinda.«

»Ich kann es gar nicht fassen, dass ich hier bin. Und das alles ohne dich sehe. So viel.«

»Erzähl’s mir. Na los.«

Belinda freute sich, am anderen Ende so etwas wie Begeisterung zu vernehmen, und zog an der geringelten Telefonschnur.

»Wo soll ich nur anfangen? Also … Das Viertel, in dem sie hier leben, heißt Herne Hill. Einen Hügel konnte ich bisher nicht entdecken, und ich hab mehrmals nachgefragt. Außerdem … außerdem sind hier alle Straßen geteert. Und man sieht dort viele arme, arme Menschen sitzen. Ich hab Kirchen wie Schlösser gesehen, noch größer als das Hauptpostamt. Und die Post? Mensch, Mary, die Briefe kommen direkt zu dir. Jeden Tag. Man braucht nicht mit dem Tro-tro oder Taxi in die Stadt zu fahren und Schlange zu stehen.«

»Sa

»Und die Katzen? Schlafen bei den Weißen im Bett. Adjei! Wie kleine Kinder. Und da gibt’s noch was, was dich bestimmt ekelt, Mary: Im Fernsehen küssen sie die Tiere, als würden die nie durch die Stadt streunen und Müll fressen.«

»Nein!«

Mary gackerte und Belinda lehnte sich an die Wand im Flur, lauschte dem rauen Klang.

»Ich. Ich fühl mich furchtbar schuldig, mir geht’s schlecht. Wenn ich an dich denke.«

»Das ist aber nicht nett, sowas zu sagen.«

»Ich dachte, vielleicht bist du mir noch böse. Manchmal. Wut verraucht nicht so schnell.«

»Dafür hab ich doch keine Zeit, liebe Schwester.«

»Jaaha.«

»Wütend werd ich höchstens, weil du nix erzählst.«

»Was meinst du denn?«

»Ich mein, da redest du ewig, ohne das Mädchen zu erwähnen, kein einziges Mal. Katzen? Postamt? Was ist mit deiner neuen Freundin-Prinzessin?«

»Ach. Amma.«

»›Ach. Amma.‹ Richtig, Amma. Als du mir gesagt hast, du fährst hin, um diese Amma-Prinzessin zu treffen, dachte ich mir: Wow wow wow! Das wird vielleicht ein Spaß, paaa

»Stimmt.« Als Belinda ihr schließlich erzählt hatte, dass die Otuos eine halbwüchsige Tochter hatten, reagierte Mary eher mit Interesse als mit Eifersucht, was Belinda zunächst erleichterte. Mary war auf ihrem durchgelegenen Bett auf und ab gehüpft und hatte immer wieder Ammas Namen gerufen, bis Belinda sie stoppte.

»Sag schon«, fuhr Mary jetzt fort, »sag mir, wie sie aussieht, was hat diese Amma für ein Gesicht? Sehr schwarz? So schwarz wie ich? So schwarz wie du? Oder ist es hell?«

»Sie ist schwarz.«

»Aha! Erzähl mir mehr: Riecht sie anders als du und ich? Wie riecht sie denn? Wie Blumen, jede Wette.«

»Keine Ahnung. So nah war ich nicht dran, dass meine Nase –«

»Schon gut. Aber was ist mit ihrer Stimme? Ihrer Weißenstimme? Mach diese Stimme mal nach, dann kann ich sie morgen Gärtner vorspielen. Das gefällt ihm sicher sehr.«

»Kann ich nicht.«

»Warum nicht? Du behältst alles für dich.« Mary schnalzte mit der Zunge. Dann flüsterte sie laut: »Oh! Sie steht direkt neben dir, darum bist du so stumm und geheimniskrämerisch. Alles klar …«

»Nein, daran liegt’s nicht. Ich hab sie bisher nur kaum sprechen hören.«

»Sa

Belinda fand das selbst schier unglaublich, aber seit ihrer Ankunft war Amma meistens »weg«. Die längste Zeit, die sie mit ihr verbracht hatte, war im Taxi gewesen. Als sie daran zurückdachte, verspürte Belinda einen klebrigen Geschmack am Gaumen.

»Dieses Mädchen wirkt so … Sie wirkt sehr still. Das ist nicht weiter schlimm, klar. Wenn sie nicht reden will. Ich kann sie ja nicht zwingen. Es ist nur … Egal. Es ist noch zu früh, um –«

»Raus damit, Belinda. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. Die Telefonkarte piept bald.«

»Ich hab nur manchmal das Gefühl, wenn ich den Mund aufmache – um beim Abendessen Dank zu sagen oder nach dem Wetter zu fragen, weil Aunty mir gesagt hat, darüber reden sie gern –, wenn ich also den Mund aufmache, macht Amma ein Geräusch, als würde sie lachen. Über mich. Auf meine Kosten. Ganz unauffällig. Nicht lauter als ein Husten, der Fieber anzeigt. Ich hör’s aber. Dabei hab ich gar keinen Witz gemacht. Und wenn ich dann in aller Ruhe darüber nachdenke, frag ich mich, ob das eine Beleidigung sein soll. Warum will sie mich beleidigen? Dazu hat sie keinen Grund. Ich hab ihr keinen gegeben. Ich trau mich so schon kaum, etwas zu sagen. Für den Fall, dass ich was Verkehrtes sage. Oder etwas, das ihnen nicht gefällt. Und dieses komische Geräusch von Amma macht die Sache nicht besser. Wa te

»An deiner Stelle würd ich so eine Wissenschaftlerlupe nehmen und sie damit angucken.«

»Immer noch so albern, he?«

»Du bist albern, wenn man’s genau nimmt. Was soll das? Du sitzt einfach da und fragst sie nicht mal, warum sie sich so aufführt?«

»Würde sie mir überhaupt antworten? Braucht sie ja nicht.«

»Liebe Schwester, wenn jemand so eisern schweigt, muss man sich eben etwas einfallen lassen. Schleich dich irgendwie bei ihr ein, um sie zum Reden zu bringen«, zischte Mary. »Ständig bekomm ich zu hören, dass du die Schlauste bist, weil du noch die alte Schulbildung abgekriegt hast. Aber die ist dir im Flugzeug wohl aus dem Kopf gefallen.«

»Und was weißt du schon von Flugzeugen? Ach, jetzt fällt’s mir wieder ein: Du jettest ja ständig um die Welt, wie eine Miniausgabe von Naomi Campbell.«

»Aboa!« Mary lachte. Aboa war auch Mutters Lieblingsschimpfwort; mit diesem Schimpfwort hatte Belinda an dem Abend gerechnet, als Mutter nach der Arbeit in ihr Zimmer getorkelt kam und auf dem Kissen verkohlten Stoff vorfand. Wie dämlich von Belinda, auf eine solche Gemeinheit zu warten. Natürlich hatte Mutter nur stumm das Aschehäufchen vom Kissen gewischt und war dann zur Spüle getappt, um sich das schwarze Zeug von den Händen zu waschen. Belinda wusste noch, wie sie dem Wasser gelauscht hatte und dem Schrubben des Schwamms, und dachte, jetzt ist Mutter nicht mehr zu helfen, allem Waschen zum Trotz.

»Nie. Wieder. Mary. Lass die Schimpfwörter sein.«

»Das soll ein Schimpfwort sein? Ich hab noch viel bessere auf Lager.«

»Versprich mir, dass du’s sein lässt. Sonst hält man dich für verkommen, und das bist du nicht. Du bist ein anständiges Mädchen. Versprochen? Nie wieder.«

»Jetzt tu nicht so dramatisch und red endlich mit dem Mädchen. Ich will mehr über sie wissen. Wenn du das nicht endlich packst, hätte ich dir nie erlauben sollen, von hier wegzugehen. Das ist doch für uns alle nur Zeitverschwendung, wenn du nichts Interessantes herausfindest.«

»Maame? Du willst mir das erlaubt haben?!«

»Agoo! Me pa wo kyew, agoo

Das Geschrei der Schreinerstochter im Hintergrund, während Mary vor sich hin gluckste, ließ Belinda noch breiter lächeln. »Grüß Afua von mir, w –«

»Ich mach Schluss, weil meine kleine Freundin jetzt mit mir eine Pause einlegt. Sie hat ein paar kleine Jungs in Sokoban verprügelt, die ihr nachgerufen hatten, sie wär hässlich oder sowas, und hat aus Rache ihren Fußball mitgenommen. Und so können wir jetzt Ball spielen. Er ist ein bisschen oll und kaputt, was erklärt, warum die Jungs sich nicht richtig gewehrt haben, als ausgerechnet ein Mädchen ihnen den Ball weggenommen hat. Was soll’s. Du und ich hatten nie einen Ball, stimmt’s, Belinda? Ich bin schon ganz aufgeregt.«

»Gratuliere.«

»He? Was hör ich da für eine tiefe, dunkle Stimme? Gratuliere: Du klingst wie ein großer, dicker alter Hund oder ein großer, dicker alter Mann. Lass dich nicht so hängen. Du hast zwar keinen Ball, im Gegensatz zu mir, aber du kannst immer noch mit deiner Amma spielen.«

»Ja.«

»Genau. Ich weiß es. Vertrau deiner Mary. Ich sag immer die Wahrheit.«

8

Am nächsten Nachmittag bat Belinda Nana um die Küchenwaage. Sie erschrak nicht, als sie zu hören bekam, diese sei »elektronisch«, während Nana ihr eine Schürze umband. Die kleine gläserne Platte, die ihr präsentiert wurde, blinkte gemein, wie der Taschenrechner von SS2. Belinda straffte die Schultern.

»Me pa wo kyew, lassen Sie mich bitte die bofrot backen und sagen Sie Ihrer Amma bitte, ungefähr in einer halben Stunde kann sie die dann probieren. In dem oberen Wohnzimmer oder wie immer Sie das nennen. Zur Abwechslung? Und ich mache den Kaffee in diesem Runterdrückding, das sie immer benutzt.«

Belinda fragte sich, ob Nanas hoffnungsvolles Lächeln und ihr eigenes harmonierten. Vielleicht verharrte das Lächeln deswegen noch lange auf ihren Lippen, nachdem Nana gegangen war und Belinda allein Eier in der Schüssel aufschlug, sich Teigreste vom Finger leckte und die süße Rührmasse in prasselndes Öl gab. Auch nach dem Backen blieb das Lächeln, als sie die Bällchen mit der zarten Kruste auf einem Teller arrangierte und Servietten zu Fächern faltete. Ihre Hände glitten von allein in die gerundeten Tragegriffe des Frühstückstabletts, und Belinda fiel ein, wie sie Mary beigebracht hatte, das Essen nicht mehr auf dem Kopf zu balancieren, sondern ordentlich zu tragen. Sie lächelte immer noch, als sie das Gebäck und den Kaffee hinaufbrachte und sich bei jedem Schritt bemühte, das Porzellan nicht klirren zu lassen. Als sie Amma sah, verkrampfte sich ihr Gesicht.

Amma blickte zur Zimmerdecke empor und ignorierte die Mutter, die vor ihr kauerte und sich nun mühsam erhob. Der himmelwärts gerichtete Blick konzentrierte sich offenbar auf die Stuckranken, die sich über die weiße Fläche zogen.

Belinda presste die Lippen zusammen, lockerte sie langsam wieder und atmete aus. »Sollte … sollte dir eigentlich nicht neu sein. Gibt’s hier in jedem Zimmer. Ich dagegen habe bisher noch nie solche Muster und Verzierungen an Decken gesehen. Das ist sehr hübsch, aber ich frage mich, wer ist überhaupt auf die Idee gekommen, sowas dort oben anzubringen? Wer hat das als Erster gemacht und warum?«

»Du willst deiner Schwester also nicht helfen, eh? Sie hat das extra für dich gebacken, und –«

»Klar, Belinda, natürlich. Danke.« Amma entwand das Tablett Belindas festem Griff und stellte es auf den Couchtisch. Belinda kam ihr Geruch so sauber und blumig vor, all den schmutzigen Schwarz-, Schlamm- und Grautönen zum Trotz, die das Mädchen trug. »Das ist wirklich nett – danke –, und du brauchst mich gar nicht so zu bevormunden, Mum.«

»Ich wollte dich nur –«

»Wir müssen doch nicht über jede Kleinigkeit diskutieren.«

»Schon gut, Amma. Schon gut. Hier will niemand nervig sein.«

»Ich will ja nicht. Ich bin es einfach.«

»Aber nein. Belinda hat etwas zubereitet, das du genießen sollst. Nur darauf kommt es jetzt an. Dass du’s genießt. Das schaffst du doch, eh?«

Der letzte Laut war so gedehnt, dass Belinda an ihren Ohrläppchen zupfte, als könnte es helfen, etwas richtig Weiches zu berühren. Amma drehte sich im Sessel dem Tablett zu. Sie ließ die Ellbogen auf ihren Beinen ruhen, die sie spreizte wie ein Mann, und beugte sich vor, um den Stempel der Kaffeekanne nach unten zu drücken.

»Du willst wahrscheinlich keinen Kaffee, Be?«

»Nein. Nein danke, meine ich. Mir ist er zu stark, auch wenn ich weiß, dass du ihn so magst.« Amma runzelte die Stirn, senkte leicht den Kopf. »Ich hoffe, er schmeckt dir.«

»Bestimmt.« Amma kippte Milch hinein, lehnte sich zurück und wartete offenbar auf die nächste Geste, den nächsten Satz. Da nichts kam, schüttelte sie den Kopf und lutschte glänzende Tropfen von ihrem kleinen Finger. Sie streckte die Hand aus und biss in einen bofrot. Belinda tat der Krapfen fast leid, der diesem Angriff nicht standhielt. Wobei sie sich selbst natürlich noch mehr leidtat.

Die Ausstattung des oberen Zimmers war in Belindas Augen möglicherweise der Grund, warum das Gespräch zwischen den beiden, die standen, und der einen, die saß, derart ins Stocken geriet. Dieses zweite Wohnzimmer wirkte überhaupt nicht wohnlich, sondern überkandidelt. Belinda hatte nur einmal ein Museum besuchen dürfen, anlässlich eines kulturhistorischen Pflichtausflugs, für den Mutter eisern gespart hatte. Das hier war auch ein Museum. Festliche Kenteschals waren hinter Glas erstarrt und machten die Wände regenbogenbunt. Daneben hingen riesige Gemälde von blutroten Sonnenuntergängen und Kolabäumen, Krüge tragenden Frauen, gekrümmten Greisen, die sich auf lange Stöcke stützten. Die schwarzen Gestalten waren auf diesen Bildern jedoch drahtig und langgezogen, während der Hintergrund irgendwie dunstig gemalt war: Bilder einer Welt, die viel traumhafter anmutete, als Belinda sie in Erinnerung hatte.

Die Regale waren eher für Zierrat und gerahmte Dokumente bestimmt als für Bücher. In einem Regal waren mehrere Urkunden mit schwarz verschnörkeltem Rand ausgestellt. Alle mit Hologrammen versehen, so glänzend wie Bonbonfolie. Auf den meisten stand in Großbuchstaben Ammas vollständiger Name, wobei der Zweitname Danquah auf unterschiedliche Weise falsch geschrieben war. In anderen Regalen standen reihenweise akuaba mit ausgebreiteten Armen stramm. Die flammenden Köpfe und verkniffenen Gesichtszüge der Fruchtbarkeitspuppen hatte Belinda schon immer merkwürdig gefunden – wie konnte ein so hässlicher Gegenstand die Geburt eines wonnigen Babys herbeiführen?

»Siehst du, wie sehr unsere traditionellen Artefakte Belinda in Bann schlagen? Gefällt dir meine Sammlung? Die Puppen?«

»Eine sehr große Sammlung … sehr ungewöhnlich.«

»Sie wirken so … so mürrisch, findest du nicht, Ma? Am liebsten würde man sich diese Schätzchen vorknöpfen und sie fragen, warum sie so angefressen sind«, sagte Amma mit vollem Mund.

»Vorknöpfen? Angefressen? Was meinst du damit?«

Aber da warf Nana ein: »Manche Weiße sammeln ja Briefmarken oder Münzen oder sonst was, vielleicht ist das meine Spielart. Jedes Mal, wenn ich in unsere Heimat fahre, nehme ich mir vor, ein oder zwei dieser Puppen aufzustöbern, besonders schöne, um meine Sammlung zu ergänzen. Am Anfang ging es mir auch ein bisschen um den juju, das will ich gar nicht leugnen.« Nana griff sich an den Kopf und zupfte mit ihren goldenen Fingern ein paar lose, ergrauende Locken zurecht. »Nachdem ich so viele Jahre gehofft und gebetet hatte, sammelte ich einfach weiter, sogar nach der Geburt meines kleinen Mädchens, weil ich … weil ich das Gefühl habe, dass diese Puppen mich beschützen. So erkläre ich es mir jedenfalls. Verstehst du?«

»Du klammerst dich an die Vergangenheit, Mater. Wär’s nicht besser, sich davon zu trennen? Ich bin sicher, Oxfam wäre entzückt über einen Posten dieser goldigen Figürchen – und dann noch so herrlich symmetrisch: afrikanische Kleinode retten afrikanische Menschenleben, bla bla bla.«

»Wie witzig. Schön für dich. Gratuliere zu deinen Künsten als Komikerin. Müsste dein Vater jetzt nicht arbeiten, hätte er bestimmt einen Riesenspaß und würde sich hier mit dir schieflachen. Wenn ich aber von dieser Zeit vor deiner Geburt rede? Ist mir ganz und gar nicht nach Lachen zumute. Es war schwer, so lange auf dich zu warten, Amma – die allerschwerste Zeit meines Lebens.«

Sie wedelte Ammas Antwort beiseite, nahm sich eine Serviette und legte ein bofrot-Bällchen darauf. Belinda überlegte, ob sie einen Spritzer Zitronensaft hätte hinzufügen sollen, um den Geschmack zu verstärken.

Etwas schien Nana zu amüsieren. »Es war vielleicht mein dritter oder vierter Heimatbesuch, nachdem ich begonnen hatte, die Puppen zu sammeln; meine Mutter hatte schwere Rückenschmerzen. Sie klagte sehr und kam auf die schrecklichsten Ideen: ihr Rückgrat sei verfault und werde bald rausfallen. Adjei! Was für eine grauenhafte Vorstellung. Zu dieser Zeit machten sich ihre Nachbarn alle über diesen kwadwo besia lustig, der durch das Dorf gezogen war. Belinda, was meinst du? Wie könnten wir Amma erklären, was ein kwadwo besia ist?«

Belinda blinzelte mehrmals, zog am gestreiften Träger ihrer Schürze und zuckte dann mit den Schultern.

»So ähnlich wie diese … Tunten. Lily Savage, Edna Everage. Amma, ich hatte dich doch mal gefragt, ob Margarita Pracatan auch so eine ist? Egal, jedenfalls hatten mir die Nachbarn erzählt, dass er sogar eine akuaba auf dem Rücken trug, wie eine richtige Frau, die sich nach einem Kind sehnte, so wie ich. Und ich dachte: nein, das kann nicht sein, die lügen, so weit kann doch niemand gehen, wenn er so tut als ob. Aber dann, an einem Nachmittag, habe ich ihn selbst gesehen! Es war wie in der Shopping Mall, wenn man dort zum ersten Mal den Weihnachtsmann sieht. Er klopfte an eine Haustür, um etwas Kleingeld zu erbetteln. Adjei, sowas hatte ich noch nie gesehen, Belinda. Über 1,80 groß und mit so einem glitzernden Nachtclubfummel, der nur knapp den Hintern bedeckte und seine riesenlangen Beine frei ließ. Und dann dieses Haar! Eine Perücke, die so aussah, als hätte er sie am Straßenrand aufgelesen. Wie zertrampelt. Und dazu hatte er sich eine dieser Puppen, eine richtig große, auf den Rücken geschnallt, so wie es bei uns normale Frauen tun, als wäre er normal. Was haben wir gelacht! Beide! Meine Mutter, die seit Wochen bettlägerig war und immer nur stöhnte und klagte, lachte auf einmal so heftig, dass wir schon Angst hatten, sie würde sich einnässen! Die Kleinen eilten alle herbei, um den Frau-Mann mit Stöcken und faulen Papayas zu bewerfen, und als der kwadwo besia wegrennen wollte, war er nicht schnell genug mit seinen Damenschuhen!«

Nana unterbrach sich, um einen Bissen zu nehmen, und tat so, als müsste sie sich eine Lachträne wegwischen. Belinda wäre es lieber gewesen, wenn Amma nicht schon wieder an die Decke gestarrt hätte, noch verstockter als vorhin. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn Amma nicht die Augen geschlossen und eine so friedliche Miene aufgesetzt, wenn sie nicht so gleichmäßig geatmet hätte, dass Belinda ein Täuschungsmanöver witterte.

»Ich dachte, den kwadwo besia gibt es nur im Fernsehen. In Komödien. Nicht im wirklichen Leben. So einem leibhaftig zu begegnen, ist sicher sehr beeindruckend«, sagte Belinda zaghaft.

»Und warum bist du so ernst, Miss Otuo? Und das bei einer meiner Lieblingsanekdoten. Willst du mir nicht wenigstens ein winziges Lächeln schenken? Kein dankbares Publikum hier, was?!«

»Kwadwo be-sia. Kwadwo be-sia«, flüsterte Amma und fügte dann mit Nachdruck hinzu: »Ich habe meine ganz eigenen Erinnerungen an Ghana.«

»Ja! Sehr gut! Die solltest du auch mit deiner Schwester Belinda teilen. Großartig.« Nana ließ sich in einem der Sessel nieder und forderte Belinda auf, den anderen zu nehmen. »Man könnte glauben, du interessierst dich gar nicht für das, was in der Heimat los ist. An Ostern hattest du so viele Ausreden, um nicht mitzukommen, dabei hättest du Belinda schon im prachtvollen Haus deiner Aunty kennenlernen können. Manche Teile von Kumasi sind inzwischen so schön, dass man fast das Gefühl hat, in Los –«

»Ich könnte wetten, an diese Geschichte erinnerst du dich nicht, Mum.«

»Wir sind ganz Ohr.«

»Ich war in der Zweiten, so um den Dreh. Ich weiß nicht mehr, ob wir in deinen Heimatort gefahren sind oder in den von Dad. Ich hatte darauf bestanden, dass du mir die Plastiktüte mit dem ganzen Geld für die Verwandtschaft gibst; es war unglaublich viel Geld. Und dann zogen wir zusammen los und ich tat ganz wichtig mit der Tüte und versuchte wahrscheinlich auch, mit den zwei Brocken Twi anzugeben, die ich aufgeschnappt hatte, weil ich nichts lieber tat als anzugeben, damals.«

»Damals?!«

»Wir kamen ins Dorf und ich sah all diese orangefarbenen Häuser aus Lehm oder Ton oder was auch immer, dicht an dicht. Statt Türen hatten sie so rechteckige Aussparungen, die mir viel zu schmal vorkamen, und ich sagte zu dir, Ghana wäre nur gut für dünne Leute oder sowas, auf jeden Fall völlig taktlos, da bin ich mir sicher …«

Belinda sah zu, wie Amma an den eingerissenen Daumenlöchern in ihrem Pulli zog.

»Wir gingen weiter, und dann tauchte wie aus dem Nichts diese riesige Schlange auf. Die Wartenden wirkten alle sehr ungeduldig und rempelten sich gegenseitig an. Ihnen gegenüber war ein kleiner Junge – als hätten sich alle seinetwegen angestellt – und weinte. Wahrscheinlich war er vier oder fünf, denn ich fragte mich, ob wir Freunde werden könnten. Und dann fielen mir seine Hände und Füße auf. Sie waren gefesselt. Der Typ, der in der Schlange ganz vorne stand, zog seinen Flip-Flop aus, oder challewatte –«

»Wir sprechen das Tscha-la-uatt –«

»Und dann reagierte der sich wie ein Irrer an dem kleinen Jungen ab. Er hat selbst dann noch auf ihn eingeprügelt, als der Kleine schrie und jaul –«

»Amma –«

»Und dann wurde mir klar, dass die anderen in der Schlange genau dasselbe tun wollten: Alle bückten sich, um einen ihrer Schuhe in die Hand zu nehmen. Und wir gingen weiter und machten Smalltalk, als sich alle Uncles versammelt hatten, und die sagten lauter nette Dinge, bis du ihnen das Bargeld ausgehändigt hast.«

»Amma.«

»Ich glaube, das ist meine lebhafteste Erinnerung an Ghana. Yeah.«

»Ich finde diese Geschichte nicht besonders gut.«

»Ach nein?«

»Muss das sein, Amma? Eh?«

»Die … die bofrot habe ich nach einem Rezept gebacken, das ich schon als kleines Mädchen kannte. Aber ich tue noch Vanille dazu, das ist mein Trick. Andere machen das nicht, weil Vanille teuer ist, aber es reicht schon, wenn man nur eine Schote hat und nicht mehr als ein paar Samen nimmt. Die geben eine Menge Aroma. Und ich habe in euren Küchenschränken viele Vanilleschoten gefunden. War also überhaupt kein Problem.«

Draußen schien der unbewegte weiße Himmel dem Seufzer zu entsprechen, den Amma von sich gab. »Spielt doch keine Rolle. Nein. Wirklich. All das spielt keine Rolle.«

Das kam ihr leicht über die Lippen, und noch andere Sätze, die eher vernuschelt klangen. Amma stand auf, ging hinaus und Belinda flatterten die Hände, sie hatte vergessen, sie in den Taschen zu verstecken. Nana ließ den Kopf hängen, so saß sie eine Weile da, als würde der kleine Anhänger, den sie um den Hals trug, ihn nach unten ziehen, und Belinda blickte zur Beruhigung auf den entblößten, biskuitfarbenen Nacken, der sich so weich anfühlen musste. Sie fragte sich, ob Nana jemals einen stillen, versteckten Rückzugsort zum Weinen gefunden hatte, wie Belinda selbst in ihren ersten Tagen bei Aunty und Uncle. Am schlimmsten war es an einem stickigen Mittwoch gewesen, als sie mit einem ölverschmierten Lappen im Mund im Geräteschuppen kauerte und die Tränen nicht fließen wollten. Drei Stunden lang hatte sie Uncles Taschentücher gebügelt und eingeräumt, ohne einmal innezuhalten. Die Anweisung lautete, die Taschentücher müssten alle gleich gefaltet werden. Nach mindestens fünfzig Stück war Belinda von diesem Gefühl übermannt worden, zu fallen und immer weiter zu fallen, und lief deswegen kopflos herum, bis sie keuchend eine Zuflucht fand, fern von allem, inmitten der Rohrzangen, Schraubenschlüssel und Nägel.

Belinda konnte sich gar nicht mehr entsinnen, was genau dieses Gefühl ausgelöst hatte. Ob es nur das Zermürbende ihrer Tätigkeit gewesen war. Oder die Angst, die ihr anfangs in Daban ständig im Nacken saß, dass sie mit ihren dreckigen Dorfhänden Spuren oder Streifen auf den edlen Stoffen hinterlassen könnte, die man ihr anvertraut hatte. Oder die Angst, dass Aunty nach Mutter fragen und Belinda durch ihr Stakkato dazu verleiten könnte, zu viel zu verraten. Oder hatte vielleicht ihre Einsamkeit dieses grauenhafte Gefühl hervorgerufen, weil sie sich an einem fremden Ort befand, ungeachtet des kleinen Mädchens, das ihr fast den ganzen Tag lang auf Schritt und Tritt folgte? Das, woran Belinda sich klar und deutlich erinnern konnte, war der Druck des Lappens in ihrem Mund, die knebelnde Wirkung des Stoffs an ihrer Kehle. Schmerzhaft und tröstlich zugleich.

Belinda hätte Nana gern gefragt, was sie als Nächstes tun sollte, aber da kam Amma wieder herein – ein Wirbel aus gelösten Zöpfen, wehenden Ärmeln, stampfenden Stiefeln.

»Die sind verdammt köstlich, Be.«

Amma nahm sich noch drei bofrot und rauschte davon. Belindas Hände hörten auf zu flattern.

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