Kitabı oku: «Die neuesten Streiche der Schuldbürger», sayfa 4
20. Januar
Er machte, was alle machten: mit.
Ein wesentliches Charakteristikum des besten Deutschlands, das es je gab, besteht darin, dass dieses beste Deutschland unglaublich viel besser ist – und sein wird! – als alle Deutschlands zuvor, und es sich theoretisch leisten könnte, von der dümmsten Politikergeneration, die unser Land je hervorbrachte, regiert zu werden, von der dümmsten Publizistengeneration, die unser Land je hervorbrachte, desinformiert, der dümmsten Pfaffengeneration, die unser Land je hervorbrachte, betrogen etc. pp., und seit Neuestem wissen wir auch, dass dem besten Deutschland, das es je gab, auch kein Schaden daraus entstünde, wenn es von der dümmsten Verfassungsschützergeneration behütet resp. bespitzelt würde, die dieses beste Deutschland jemals, also auch als es noch nicht das beste Deutschland ever, sondern nur das jeweils beste Deutschland seiner Zeit und insgesamt viel schlechter war, in seinen Dienst stellte.
Dieser Verdacht stieg in mir auf, als ich im Tagesspiegel Zitate aus einem Gutachten las, mit welchem das Bundesamt für Verfassungsschutz »Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung« in den mit ruhigem, festen Tritt flanierenden Reihen der AfD nachzuweisen sich anheischig macht. So soll, sofern der Tagesspiegel korrekt zitiert, folgender Abschnitt aus einer Rede von Alexander Gauland auf dergleichen Bestrebungen hindeuten, nämlich: »Wir befinden uns in einem Kampf gegen Kräfte, die ihr globalistisches Programm der Nationenauflösung, der ethnisch-kulturellen Vereinheitlichung und der Traditionsvernichtung als die Menschlichkeit und Güte selbst verkaufen. Wir sollen uns im Dienst des Menschheitsfortschritts verdrängen lassen. Wir sollen uns als Volk und Nation in einem großen Ganzen auflösen. Wir haben aber kein Interesse daran, Menschheit zu werden. Wir wollen Deutsche bleiben.«
Dem Tagesspiegel zufolge lautet die Bewertung durch den oder die Verfassungsschützer, in dem zitierten Passus fänden sich – genaugenommen: fänden sie – »erste tatsächliche Anhaltspunkte« dafür, dass Gauland, wie sein Name schon sagt, »ein ethnisch-biologisch bzw. ethnisch-kulturell begründetes Volksverständnis« propagiere, »das gegen die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG verstößt« – also, wie der Genosse Journalist sofort Bescheid weiß, »gegen die erste, zentrale Aussage des Grundgesetzes: ›Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.‹« Das konstatiert, wie gesagt, ein Verfassungsschützer, also ein echter, hauptamtlicher, kein taz-Redakteur – aber wie wir von Günter Maschke wissen, kann in der BRD jeder zum Verfassungsfeind des anderen werden, und gewisse Grundgesetzformeln sind daran nicht ganz unschuldig. Damit bringt der Beamte, theoretisch, die Sichtweise des Staates zum Ausdruck, praktisch würde aber selbst der linkeste Staatsanwalt zögern, aus jemandes Wunsch, Deutscher bleiben zu wollen, eine Verletzung der Menschenwürde Nichtdeutscher herzuleiten.
Beiseite gesprochen: Die anderen, Türken, Nordkoreaner, Usbeken, Senegalesen etwa, haben Glück, sie dürfen Türken, Nordkoreaner, Usbeken, Senegalesen bleiben und unbeirrt Nichttürken, Nichtnordkoreanern, Nichtusbeken und Nichtsenegalesen ihr Nichttürke-, Nichtnordkoreaner-, Nichtusbeke- und Nichtsenegalesesein unter die nichttürkischen, nichtnordkoreanischen, nichtusbekischen und nichtsenegalesischen Nasen reiben, weil in ihren Verfassungen – der Einfachheit halber wähle ich diesen Sammelbegriff – kein so hochherziger erster Satz steht, dessen teils göttlich-kippingeske, ja claudiarothige, teils wiederum bisweilen an die satanischen Verse im Koran erinnernde Großartigkeit heute nicht erörtert werden soll.
Als Symptom ist dieser übergeschnappte Befund freilich hochinteressant und wahrscheinlich typisch, denn was der vermeintliche Verfassungsschützer da vorträgt, ist nicht nur schwachsinnig – wenn ich auf meine Identität bestehe, wenn ich beispielsweise gern männlich, schwarz, homosexuell und deutsch bin, verletze ich keineswegs die Würde einer weißen belgischen Hete, ich verletze damit überhaupt niemandes Würde, wobei hier noch anzumerken ist, dass sogar unser in korannaher Heiligkeit im moralischen Orbit kreisendes Grundgesetz einzig und allein die Würde des Menschen in Deutschland schützen kann –, davon abgesehen, um den Faden wieder aufzunehmen, ist diese Aussage verfassungsfeindlich, denn sie behauptet, es sei verfassungsfeindlich, Deutscher bleiben, also zum Souverän des Grundgesetzes gehören zu wollen. Es kann aber auch sein, dass der Verfasser bloß sein Abi in Berlin gemacht hat, womit sich der Kreis zu meiner eingangs geäußerten Idee schlösse, auch deutsche Verfassungsschützer könnten die dümmsten aller Zeiten sein, ohne dass das Bessersein des heutigen Deutschlands gegenüber all den früheren davon tangiert würde, hélas und ahimè!
Für den sensiblen Tagesspiegel-Leserbriefschreiber, der den Hinweis auf die extremistische Inschrift über dem Reichstagsportal – »Dem deutschen Volke« steht dort (noch!) – mit der Replik konterte, mit diesem Begriff sei damals etwas anderes gemeint gewesen als heute, gestatte ich mir noch den Hinweis, dass das staats- und völkerrechtlich nicht ganz stimmt, ansonsten aber zum Teil durchaus. Dass es keine deutsch-arische Rasse gibt, mussten freilich bereits die Nationalsozialisten und musste speziell deren Führungspersonal zerknirscht und selbstkritisch anerkennen. Zu allen Zeiten fanden europäische Binnenwanderungen statt, es gibt kein ethnisch homogenes deutsches Volk. Deutscher heißt heute: deutscher Staatsbürger. Die Staatsbürgerschaft sollte genau deshalb nicht verschenkt, sondern von Einwanderern durch Bildung, Edelmut und große Taten erworben werden. Ist so ungefähr übrigens AfD-Position.
Gauland fährt in der besagten Rede nach dem Satz: »Wir wollen Deutsche bleiben, damit sind wir Menschheit genug« nämlich fort mit den Worten: »Unser Kampf ist vollkommen defensiv. Es geht uns einzig um die Erhaltung unserer Art zu leben und zu sein. Und wer diese Art zu leben mit uns teilt, sie annimmt und mit uns lebt und arbeitet, ist uns willkommen.«
Wie steht es aber aus Schlapphutsicht mit dieser, im Tagesspiegel nicht zitierten Passage:
»Deutschland muss Zuwanderung stärker steuern und begrenzen als bisher. Zuwanderung kann kein Ausweg aus den demografischen Veränderungen in Deutschland sein. Wir erteilen einer Ausweitung der Zuwanderung aus Drittstaaten eine klare Absage, denn sie würde die Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft überfordern. Verstärkte Zuwanderung würden den inneren Frieden gefährden und radikalen Kräften Vorschub leisten. Man schafft mit der angeblichen ›Härtefallregelung‹ und der Ausweitung der Aufenthaltsrechte über die Genfer Flüchtlingskonvention hinaus massive Anreize für Armutsflüchtlinge aus aller Welt. Dies würde in kurzer Zeit zu einer erheblich höheren Zuwanderung nach Deutschland führen, die nicht im Interesse unseres Landes ist. (…) Deutschland soll seine Identität bewahren. Die Umgestaltung in eine multikulturelle Einwanderergesellschaft lehnen wir ab.«
Der Text stammt aus dem Regierungsprogramm von CDU/CSU 2002-2006.
Das Oberhaupt der identitären Zündlertruppe hieß damals Angela Merkel, der Verfassungsschutzchef allerdings noch lange nicht Maaßen, sondern Heinz Fromm (SPD). Gauland befand sich damals noch in der CDU. Womöglich war der’s.
»Ein Verfassungsschutz, der in erster Linie die Regierung schützt, sollte in Betracht ziehen, sich in Regierungsschutz umzubenennen.« (Leser ***)
Medien melden: »Erschreckender Fund: In Spanien rotteten Invasoren die männliche Bevölkerung aus.«
Keine Sorge, nicht am vergangenen Wochenende, sondern ein paar Sündenjährchen früher.
»Wissenschaftler haben bei der genetischen Untersuchung von Grabfunden in Spanien eine erschreckende Entdeckung gemacht. Demnach wurden vor rund 4 500 Jahren auf der Iberischen Halbinsel praktisch über Nacht alle Männer getötet. Das publizierten Forscher nun im New Scientist.«
Das nur als Appendix zur inzwischen staatsreligiösen Ansicht, Migration sei immer und zu allen Zeiten eine Bereicherung (gewesen), also ich meine, für die Aufnahmegesellschaft. Die Ankömmlinge hatten damals ja plötzlich Land, Weiber und Spaß.
Den Geisteszustand unserer parlamentarischen Elite bezeugt recht eindrucksvoll das Verhalten des Auditoriums in der Feierstunde zum Frauenwahlrecht in dem Moment, als die Schauspielerin Susanne-Marie Wrage eine Rede vortrug, die die Sozialdemokratin Marie Juchacz am 19. Februar 1919 in der Weimarer Nationalversammlung gehalten hatte. Frau Juchacz begann damals ihre Rede mit dem Satz: »Es ist das erste Mal, dass eine Frau als Freie und Gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf« – heute genießen wir dieses Glück ja täglich –, »und ich möchte feststellen, dass es die Revolution gewesen ist, die auch in Deutschland die alten Vorurteile überwunden hat.« Und nun passierte etwas Seltsames: Viele Abgeordnete begannen zu klatschen. Also ich meine nicht damals in Weimar, sondern diese Woche im Bundestag. Davon abgesehen, dass unsere parlamentarischen Demokratiegaranten eine Revolution beklatschen, mit der nach der damaligen Lage der Dinge ja nur die kommunistische Novemberrevolution oder allenfalls auch die russische Oktoberrevolution gemeint gewesen sein kann und man gern wüsste, was es daran zu beklatschen gibt, wirft sich die Frage auf, wie es in Köpfen von Menschen aussieht, die einer Schauspielerin Szenenapplaus spenden – es geschieht während des Vortrags mehrfach –, während sie eine 100 Jahre alte Rede vorträgt. Wenn dort morgen ein Mime eine Cicero-Rede vorliest, sagen wir, aus gegebenem Anlass, die erste (oder die vierte? nein, die erste) Rede gegen Catilina, klatschen die dann auch dazwischen?
23. Januar
Man wird einmal sagen: Es war nicht alles schlecht in der BRD.
Die Stadt Hannover führt die »gendergerechte Sprache« ein. Lehrer werden zu Lehrenden, Wähler zu Wählenden – und die Prophet*in zu einer/m Prophezeienden. Wetten?
Dass es rechtspopulistisch sei zu behaupten, nur deutsche Staatsbürger seien Deutsche, gelte mittlerweile bis zur CDU als durchgesetzt, bemerkt Freund ***. »Vielleicht sollte man die Kategorie der Grundgesetzpopulisten schaffen?«
Das Grundgesetz muss so lange geändert werden, bis es keine verfassungsfeindlichen Stellen mehr enthält.
In Minden sind zwei Mädchen von zwei »Männern« trotz der deutschen Vergangenheit so sehr gemocht worden, dass eine von beiden beim Zicken unter einen Bus geriet und schwer verletzt wurde. Man kann darüber sensibel berichten: »Jugendliche nach Attacke von Bus überrollt« (Der Westen), oder eben gruppenbezogen menschenfeindlich: »Bus überrollt Mädchen nach Attacke durch Flüchtling« (Junge Freiheit). Aber es ist nicht nötig, darauf hinzuweisen, dass es sich um einen Einzelfall handelt, nicht um eine Sache für #metoo oder #aufschrei, sonst nämlich #wirsindmehr, claro?
28. Januar
Ein entfernter Bekannter, der in Berlin eine konservative Bildungseinrichtung betreibt, erzählt, dass Abtreibungspropagandisten dort die Fassade beschmiert haben, weil drinnen eine Veranstaltung von Lebensschützern stattfand. Kurz darauf habe ihm ein großer, vollbärtiger türkischer Lieferant irgendetwas gebracht und sich erkundigt, was denn hier passiert sei. Nachdem der Hausherr es ihm erklärt hatte, habe es einen Moment gedauert, bis der Mann begriff und noch einmal nachfragte: »Die das hier geschmiert haben, sind für Abtreibung?«
Nicken.
»Was sind das denn für Penner?! Das ist doch Mord!«
Die fatale Idee, dass die Geschichte nicht mehr Sinn produziere als ein mahlendes Affenmaul (eine Gottfried Benn zugeschriebene Formulierung), und der Planet, auf welchem sie stattfindet, kaum mehr sei als eine »um ihre eigene Achse rotierende Folterkammer« (Ulrich Horstmann), diese Idee ist heute eher unpopulär. Dank eines gewissen zivilisatorischen sowie gewaltigen technischen Fortschritts, vor allem in Fragen des Komforts und der Anästhesie, geriet sie gegenüber der Hegelei permanenter Höherentwicklung unter Rechtfertigungsdruck. Bei den Alten galt sie noch als unstrittig. Als der phrygische König Midas den weisen Silenos fragte, was für den Menschen das Beste sei, gab der zur Antwort, das Allervorzüglichste wäre für ihn, gar nicht erst geboren zu werden; wenn er aber schon einmal auf der Welt sei, empfehle sich ein baldmöglicher Tod. (Kurz nach dieser Auskunft erfüllte der Satyr dem König übrigens den bekannten verhängnisvollen Wunsch.) Wie jeder Berliner Einser-Abiturient weiß, war Silen der Lehrer und Begleiter des Dionysos, auf dessen lärmende, in Bocksfelle gehüllte Entourage der Begriff Tragödie zurückgeht – tragos ist der Bock, näherhin der Ziegenbock, odia heißt Gesang –, und das tragische Weltbild kennt den Sinn nicht, sondern nur das Verhängnis.
Diese kleine Abschweifung führt zu dem französischen Philosophen oder philosophischen Autor Michel Onfray, der gelegentlich schon durch diese Notate irrlichterte. In seinem Buch Niedergang. Aufstieg und Fall der abendländischen Kultur – von Jesus bis Bin Laden (Original: Décadence: Vie et mort du judéo-christianisme), das im vergangenen Jahr in deutscher Übersetzung erschien, versichert Onfray, er schreibe weder eine optimistische noch pessimistische Geschichte, sondern eine tragische. Die Geschichte des Abendlandes als Tragödie. Das hört man nicht oft.
Der Franzose ist ein sogenannter Vielschreiber (oder er hat wie Brecht mehrere Frauen, die für ihn schreiben), jedenfalls publiziert Onfray in einem irritierenden Tempo: Seit dem Erscheinen des 700-Seiters Décadence anno 2017 hat er schon wieder vier Bücher veröffentlicht, darunter eine Art Fortsetzungswerk namens Sagesse: Savoir vivre au pied d’un volcan (»Weisheit: Zu leben verstehen am Fuße des Vulkans«; seit Kant folgt auf die reine Vernunft bzw. Torheit bekanntlich die praktische). Auf dem Cover von Niedergang wirbt der Verlag mit dem Zitat aus einer Rezension: »Ein Albtraum à la Houellebecq«. Der französische »Krawallphilosoph«, wie die FAZ ihn liebevoll nennt, ist folglich so etwas wie der Patachon oder Pollux seines unisono als »Skandalautor« gehandelten Landsmannes. (»Was machen Sie beruflich?« – »Ich bin Skandalautor. Und Sie?« – »Ich finde mein Auskommen als Krawallphilosoph.« – »Wie allerliebst! Darf ich Ihnen meinen Freund *** vorstellen? Er arbeitet als Internet-Hetzer.«)
Onfrays Opus gehört in die Gattung der Universalgeschichte, korrekt: der höchst unvollständigen Universalgeschichten. Da es schwer möglich ist, Werden und Vergehen des Abendlandes auf eine irgendwie deskriptive Weise auf 700 Seiten unterzubringen, wählt er Ausschnitte, historische Zeitfenster, durch die er den Leser blicken lässt. Diese Miniaturen, aus denen sich das Buch zusammensetzt, müssen als partes pro toto hingenommen werden; das entspricht dem literarischen Stil des Buches. Wie jeder Berliner Abiturient weiß, gehört Geschichtsschreibung (eher) zur Literatur als zur Wissenschaft; einen Historiker ohne literarische Ambitionen würde ich nie lesen. Als dramatischer Stilist ist der Franzose ohne Tadel:
»Von der Siedlung auf dem Palatin 753 v. Chr. über Cäsars Republik und das Reich des Augustus hat Rom bis zum Edikt von Mailand 313 n. Chr. elf Jahrhunderte überdauert. Dann wurde die Wölfin vom Lamm gefressen.«
»Die jüdisch-christliche Kultur war in Reih und Glied aufgestellt. Der Kaiser konnte der christlichen Armee den Marschbefehl erteilen. Die Anhänger des Paulus stiegen aus den Katakomben, um in die Paläste einzuziehen.«
»Seinen Nächsten aufzufressen gemäß einer Logik der Ehre schien Montaigne jedenfalls weniger barbarisch, als diesen beispielsweise im Namen der Realpräsenz Christi in der Hostie zu massakrieren.«
»Der Protestantismus war ein Hilfsmittel zum Austritt aus der Theokratie und zum Eintritt in eine Politik der Immanenz.«
»Ludwig XVI. verabscheute jede Gewalt und ließ während der Französischen Revolution niemals in die Menge schießen, obwohl er rechtlich dazu befugt gewesen wäre. Hätte er es getan, so wäre die Geschichte Frankreichs und Europas wohl anders verlaufen. Ludwig XIV. hätte an seiner Stelle die Armee eingesetzt und ein Blutvergießen angerichtet. Die großen Worte und schönen Ideen hätten es in diesem Falle schwerer gehabt.«
»De Gaulle, der im Zuge der Achtundsechziger-Bewegung die Macht verlor, wurde durch einen an der École Normale Supérieure ausgebildeten Banker abgelöst. An die Stelle der Geschichte traten Finanzen und Rhetorik. Im Prozess der Entchristianisierung mussten jene, die um das Goldene Kalb tanzten, nicht mehr viel tun, um das Christentum gänzlich zu zerstören. Seither steht die westliche Welt zum Verkauf.«
Mit dem Urteilen verhält es sich so wie mit dem Frauenanbaggern: Man muss sich trauen. Dass sich französische Autoren heutzutage eher trauen als deutsche, hat diverse Ursachen, von zwei Kriegsniederlagen über ohnehinnige Mentalitätsunterschiede und gewisse rechtsrheinische Herdenglückszwänge bis zur Froschperspektive derer, die nie wirklich Kolonien und eine Flotte, also nie den globalen Blick besaßen. Die Kehrseite von Onfrays Schneid besteht in Generalisierungen, Übertreibungen (vor allem was Opferzahlen angeht), historischen Ungenauigkeiten oder Fehlern (eine fiktive Synode wird real, »Hitler beschließt auf der Wannseekonferenz« etc.), aber das ist alles geschenkt und mag Erbsenzähler kitzeln. Hier geht’s um den ganzen Guss, um einen düsteren Sarkasmus, um Lektürestunden ohne humanistische Phrasen und kulturmarxistische Floskologie, die mir viel Pläsier bereitet und meine historische Viertelbildung mit zahlreichen Erkenntnissen bereichert haben.
Onfray folgt Spenglers Theorie, dass Kulturen Organismen sind, die blühen, wachsen, reifen, verfallen und eines Tages enden. Ihre eigentliche und zugleich eigentümliche Prägekraft beziehe eine Zivilisation (oder Kultur; außerhalb einiger verstrichener Dezennien des deutschen Denkens trennt man das nicht so genau) aus der Religion (Onfray ist übrigens Atheist). Geschichte habe keinen Sinn außer jenem, den Historiker, Philosophen und Ideologen ihr auferlegten. »Eine Zivilisation existiert stets nur als adäquate Antwort auf äußere Bedrohungen ihrer Existenz«, statuiert der Denker. »Solange sie sich gegen diese Bedrohungen zur Wehr setzt, lebt sie. Kann sie sich nicht mehr wehren, stirbt sie.« Kulturen gründeten auf Fiktionen, »die als solche erst dann erkennbar werden, wenn die Kulturen im Untergang begriffen sind. Je fester der Glaube an diese Fiktionen, desto mächtiger die Kultur.« Heute lebten wir wie Augustinus in einer Übergangszeit, und zwar jener »zwischen dem Ende des Judäo-Christentums und dem Anfang von dem, was sich bislang erst unscharf abzeichnet«.
Für die Rolle des Fortinbras steht bekanntermaßen der Islam bereit. Die westliche Zivilisation besitzt allerdings noch ökonomischen und technischen Kredit, um diesen vor allem demografischen Prozess einige Dezennien währen zu lassen – wobei, wie der Autor im Schlusskapitel einräumt, mit dem Transhumanismus und der Künstlichen Intelligenz ein neuer Akteur auftritt, dessen Rolle noch nicht ganz klar ist, aber immens sein wird, denn ob die schiere Zahl biologischer Nachkommen unter dem Blickwinkel der transhumanistischen Machtübernahme überhaupt noch etwas bedeutet, darf bezweifelt werden.
Die westlichen Wortführer glauben freilich, ihre Zivilisation sei als erste von allen unsterblich, sie verkörpere das »Ende der Geschichte« (Francis Fukuyama), sozusagen das Siegel der Zivilisationen, und alle anderen strebten danach, zu leben wie der Westen. Das ist natürlich ein Köhlerglaube und, global gesehen, eine Provinzlerposse, ob nun gespielt von Texanern wie George Bush jun., dem nicht einmal bekannt gewesen sein soll, dass Muslime sich in Sunniten und Schiiten scheiden (das kann aber auch Propaganda sein), oder von deutschen Leitartiklern, deren moralisierender Germanozentrismus seine drolligen Seiten hätte, wenn er nicht von so autoaggressiver Uneleganz wäre.
Jedenfalls hat »der Westen« als Kultur und als Gesellschaftsmodell vielerorts an Attraktivität und Vorbildlichkeit verloren, ob nun in Nordafrika, China, dem Orient, aber auch vor den Haustüren von Malmö, Marseille, Blackburn oder Duisburg weicht er zurück. Der Islam wächst, Asiens Macht und Einfluss wachsen, Russland ist militärisch wiedererstarkt, Afrika vermehrt sich, wie man sagt, explosionsartig, und von der Technik abgesehen, bei deren Adaption die Asiaten weit fortgeschritten sind, legt man in diesen Weltgegenden auf westliche Werte wenig Wert (nur einige Asiaten konservieren rührenderweise die im Westen längst abgeräumte abendländische Hochkultur). Der Demokratieexport der Amerikaner ist, außer bei den servilen Deutschen, überall gescheitert, doch wie man im deutschen Westteil sieht, hat die Medizin nicht geholfen, der Selbsterhaltungstrieb ist weg, die letzten Menschen bitten zum letzten Tanz.
Unter dem »sexuellen Terrorregime« (Onfray) des Christentums verhielt sich das noch anders, die Bevölkerungszahlen wuchsen schnell, so wie sie heute bei den orthodoxen Juden und eben vor allem bei den Muslimen rasant wachsen, deren Sexualmoral ähnlich restriktiv ist, während der promiskuitive, liberale Westen zwar technische und medizinische Katalysatoren für die Bevölkerungsexplosion geliefert hat, aber kaum mehr autochthone Nachkommen produziert. Die Wette der westlichen linken und liberalen Progressisten – der Begriff hier immer im Sinne des Liberalismus, nicht der Liberalität verwendet – lautet, dass auch nach der mählichen Vermischung des westlichen Menschen mit den Migranten die westliche Gesellschaft einfach bruchlos weiterbesteht (für die Linken existiert der westliche Mensch bekanntlich nur als Rassistenphantasie, alle Menschen sind für sie gleich). Und wenn nicht? Ja, dann eben nicht.
Über die Muslime schreibt Onfray: »Wir haben den Nihilismus, sie haben die Inbrunst. Wir sind erschöpft, sie erfreuen sich bester Gesundheit. Wir leben im Moment und verzehren uns langsam selbst, sie sind auf Du und Du mit der Ewigkeit (…) Wir haben die Vergangenheit, sie haben die Zukunft, denn für sie beginnt alles gerade erst, während für uns alles endet. Alles hat seine Zeit.« Hach, wie undifferenziert! Kein Wunder, dass ihn das hiesige Feuilleton der »Islamophobie« zieh. Dort, wo die Kanzlerin selber die Kerkaporta öffnet, bleibt einem linientreuen Intellektuellen schließlich kaum etwas anderes übrig, als die Melodie von »Hört was kommt von draußen rein? Wird wohl nichts gewesen sein« zu pfeifen.
Die fatalistische oder schwarze Geschichtsschreibung ist in Deutschland regelrecht geächtet. Fritz Stern hat in seinem Buch Kulturpessimismus als politische Gefahr das »kulturelle Unbehagen« der bürgerlichen Eliten getadelt, das sie in die Arme Hitler getrieben habe. »Wer kulturelles Unbehagen verspürt, ist damit gewarnt« (Arnold Gehlen). Der Vorwurf steht bis heute bolzenfest; Kulturpessimismus ist keineswegs, wie ich mal geschrieben habe, ein dem Kotzen nicht ganz unverwandter Reflex einer handvoll übriggebliebener Kultivierter, sondern Wasser auf die Mühlen von Sie wissen schon. Sämtliche deutsche Rezensionen von Onfrays Opus waren Verrisse; kein BRD-Feuilletonist dürfte sich erlauben, es zu loben, das widerspricht gewissermaßen der optimistischen Parteilinie.
Der Franzose gliedert seine Gesamtschau in zwei Teile: »Zeit der Vitalität« und »Zeit der Erschöpfung«. Viele Kapitel sind dem Christentum gewidmet, das für ihn auf einer paulinischen Sexualneurose – also, er ist ja Nietzscheaner, auf dem Ressentiment – gründet. Die Phase des Aufstiegs und jene des Niedergangs unterscheiden sich in den Motiven der Akteure allerdings kaum, überall sieht Onfray dunkle Triebe und niedere Instinkte am Wirken, die Sonne Kants bricht nirgends durch die Wolken. »Der Zivilisierte ist der Barbar, der Erfolg hatte«, notiert Onfray. »Keine Zivilisation ist je aus Heiligen, Pazifisten, Gewaltlosen und Tugendhaften entstanden – eben den netten Menschen. Vielmehr sind es immer Banditen, Mörder, Folterer und Sadisten, die die Grundlage einer Zivilisation bilden. Die Chorknaben hinter Jesus eignen sich nur als Künstler, Dichter oder Philosophen, aber hinter Paulus fuchteln Kraftprotze mit dem Schwert.«
Einzig die intellektuelle Verbrämung der Blutspuren ändert sich im Laufe der Zeiten: »Chemiewaffen, Minen, Massenverhaftungen, Deportationen, Hinrichtungen, Massaker, Folter, Vergewaltigungen, Morde an Frauen, Kindern und Alten, zerstörte Dörfer, Brandstiftung, blutrote Flüsse, Massengräber, Ertränkungen, Plünderungen, gegerbte Menschenhäute, Frauenfett in Fässern, zerstückelte aufgehängte Leichen und Öfen, in denen Frauen und Kinder verbrannt wurden – all das geschah um 1790 in der Vendée im Namen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, im Namen der Republik und des Glücks ihrer Bürger.«
Wer dem Autor nun vorwürfe, er schildere den Aufstieg so negativ wie den Abstieg, hat die Tragödie nicht begriffen.