Kitabı oku: «Der wandernde Krieg - Sergej», sayfa 2
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Unter der Mauer, im Schatten eines Gebüsches, standen zwei kleine Gestalten. Der Flüchtende hatte sie nicht bemerkt, obwohl er nur wenige Meter von ihnen entfernt hinuntergesprungen war. Sie sahen ihm nach, wie er aus dem Graben krabbelte und in der Dunkelheit der angrenzenden Bäume verschwand.
„Nun ist er frei“, sagte eines der kleinen Wesen tonlos.
In der Stimme des anderen war ein Anflug eines Gefühls zu erkennen. Befriedigung.
„Das war nicht schwer.“
Hand in Hand verließen die Kinder die Stätte des Brandes.
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Notiz Erin Simpsons für Christian Gerricke, 17. Juli
(gefunden auf der leeren Seite des Bettes)
Chris
Doch, es ist aus. Während du neben mir geschnarcht hast, habe ich mal wieder nicht geschlafen, aber über die letzten sieben Monate nachgedacht.
Tut mir leid, ich habe keine Lust, mir deinen ganzen Mist noch mal anzuhören.
Deshalb haue ich jetzt ab. Du wirst finden, dass ich nicht mehr in meiner Wohnung bin. Ich gehe zu einer Freundin (nein, du kennst sie nicht, du kennst ja keine von meinen Freundinnen). Und dann gehe ich zurück nach Hause.
Hast du gewusst, dass du grinst, wenn du schnarchst?
FUCK YOU
Erin
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Er erwachte mitten in der Nacht.
Viele Kilometer von dem Ort entfernt, an dem ein zu Tode geängstigter Arzt gerade in Augen blickte, in denen er Wahnsinn zu sehen glaubte.
Viele Kilometer von einem anderen Ort entfernt, an dem eine junge Frau gerade mit grimmiger Entschlossenheit im Blick und einer Sporttasche über der Schulter die Tür eines Mietshauses hinter sich zufallen ließ.
Etwas war anders. Etwas beunruhigte ihn. Er versuchte zu ergründen, was es war, sandte seine Gedanken aus und fand nichts. Aber etwas stimmte nicht. Er erhob sich. War er zu träge gewesen?
Er hatte geglaubt, er habe Zeit. Aber jetzt hatte er das Gefühl, dass er womöglich einen Fehler gemacht hatte. Wieder. Er zögerte eine Weile, aber er wusste, was er zu tun hatte. Wenn er nur gewusst hätte, warum.
Er wühlte in einer Kiste, und jeder, der einen zufälligen Blick durch das Fenster des Wohnwagens geworfen hätte, hätte geglaubt, dort einen arg heruntergekommenen Mann zu sehen, der planlos suchte. Die Tarnung war so sehr seine zweite Natur geworden, dass er nie davon abließ. Aber auch daran würde sich etwas ändern müssen. Wenn seine Befürchtung zutraf. Er holte die Kugel aus der Kiste und rieb einmal behutsam mit einem Zipfel seines T-Shirts darüber. Nicht, dass das irgendwie nötig oder von Bedeutung gewesen wäre, er hatte es sich nur im Laufe der Zeit angewöhnt. Es half ihm, sich zu konzentrieren.
Er setzte sich auf die schmutzige Matratze, schlug die Beine unter und legte die Kugel vorsichtig vor sich ab. Er versenkte sich in ihre Dunkelheit. Nach einer Weile glaubte er, das Heer zu sehen, viele Männer, die stumm und reglos seinen Blick erwiderten. Dann erschien hinter den Reihen etwas anderes. Etwas Rotes.
Er beugte sein Haupt und betete es an.
„Meister.“
Dann lauschte er. Antwortete. Lauschte wieder. Antwortete. Lauschte. Antwortete.
Später legte er die Kugel – nun wieder eine völlig klare Glaskugel – zurück in die Kiste. Dann zog er das schmuddelige T-Shirt und die fleckige Unterhose aus, ging in die Duschkabine des Wohnwagens und duschte zum ersten Mal seit Monaten. Er duschte lange. Er verließ die Kabine. Und während das Wasser schnell an seinem Körper trocknete, begann er sich zu rasieren, und das dauerte lange. Aber danach sah er so glatt und rosig aus und duftete so angenehm dezent nach Aftershave, dass niemand sich den struppigen Bart hätte vorstellen können, der noch vor kurzer Zeit in seinem Gesicht gewuchert hatte. Mit geschlossenen Augen, eine einfache Melodie summend, schnitt er freihändig seine üppige Haarpracht, bis aus der wilden Mähne eine gefällige Kurzhaarfrisur geworden war. Dann griff er in den Schrank und förderte neben weißer, frischer Unterwäsche eine sportliche, graue Baumwollhose, ein ebenfalls graues Polohemd, einen blauen Blazer, ein paar blaue Socken und helle Leinenschuhe zutage. Er zog sich rasch, aber ohne Hast, an. Aus einer Schublade kramte er eine Brieftasche und mehrere Kreditkarten, dazu etwa zehntausend Euro in bar und einen Autoschlüssel. Nach einem kurzen Moment des Überlegens legte er den Autoschlüssel wieder zurück, kramte noch ein wenig und wählte einen anderen. Er zog eine Reisetasche aus weichem Leder aus dem Schrank und füllte sie schnell mit Kleidungsstücken. Zuletzt nahm er die Kugel aus der Kiste, legte sie obenauf, schloss die Tasche und verließ den Wohnwagen, ohne sich umzublicken. Immer noch die Melodie summend ließ er den heruntergekommenen Campingplatz hinter sich, ging eine Zeitlang über Waldwege und kam dann zu einer Straße, der er folgte, bis er einen Parkplatz erreichte. Inzwischen dämmerte es. Er stieg in einen nachtblauen Volvo und fuhr davon.
In dem Moment, in dem er den Parkplatz verließ, ging der Wohnwagen in Flammen auf und verbrannte gänzlich, mit allem, was darin war.
5
Der Morgen fand mich am Rande der Landstraße. Ich ging zügig einem Ziel entgegen, das ich nicht kannte, einer Stadt namens Langenrath. Nach meinem glücklichen Entkommen aus der Klapse hatte ich aus einem überfüllten Container für Kleider- und Schuhspenden einige Säcke herausgerissen und mich notdürftig eingekleidet. Jeans zu groß, Schuhe leicht verschlissen und widerlich anzusehen, aber beides sauber. Es liegt dem Deutschen wohl im Blute, selbst seine Altkleider zu waschen, bevor er sie spendet, und dafür sind arme Flüchtlinge doch immer dankbar. Dann war ich mit Nachtzügen durch Nordrhein-Westfalen gefahren, planlos, um von vorneherein keine logische Spur zu hinterlassen. Ich war draußen, aber was nun? Es würde nicht lange dauern, bis man bemerkte, dass das Paradepferd im Stall fehlte. Dann würden ein paar Leute einige unangenehme Fragen beantworten müssen. Wie zum Beispiel: „Warum zum Teufel habt ihr den Irren nicht chemisch ausgeknockt und rausgeschleift?“
Nun, ich kannte die Antwort, aber die würde denen, die sie geben mussten, wohl erst mal keiner glauben. Tatsache ist, dass man meinem Körper so ziemlich jede gebräuchliche Chemikalie ohne nennenswerte Wirkung zuführen kann. Ich hatte schon die tollsten Dinge geschluckt, ohne high zu werden, k. o. zu gehen oder zu sterben. Irgendwann würde ich mir vielleicht Abflussreiniger spritzen müssen, um einen kleinen Schwips zu bekommen. Diese Antwort würde also niemanden glücklich machen. Meine Freunde hatten ein Problem. Und ich natürlich auch, was das betraf. Allerspätestens heute Abend, vermutlich aber schon gegen Mittag, würde ich gehetzt werden, mit Bild in allen Medien. Ich musste schleunigst einen Weg finden, abzutauchen, sonst würde ich in 48 Stunden entweder wieder im Land des milden Lächelns oder in einem Sarg sein. Und ich hatte nicht mal eine Ahnung, den Wievielten wir hatten, geschweige denn, welchen Wochentag, für solche Dinge hatte ich mich zuletzt wenig interessiert. Ich wusste so gut wie nichts mehr von der Welt hier draußen, ein sehr dummer Fehler. Es nutzte nichts, Körper, Geist und Reflexe gesund zu halten und dabei den Kontakt zum wirklichen Leben zu verlieren. Ich kam mir vor wie ein Tourist in einer anderen Zeit. Ein Tourist, dessen Hose ständig rutschte und der scheußliche gelbe Schuhe trug. Auch daran musste sich schnellstens etwas ändern, andernfalls konnte ich mir genauso gut ein Schild umhängen: ACHTUNG! ENTSPRUNGENER IRRER!
Zu allem Überfluss ging auch mein Geld zur Neige, da ich darauf geachtet hatte, bei meiner ziellosen Fahrt gültige Fahrscheine bei mir zu haben. Ich hatte überhaupt keine Lust, unverschämten Schaffnern heimleuchten zu müssen, weil sie meine Personalien wegen Schwarzfahrerei aufnehmen wollten.
Ein Name tauchte aus der Erinnerung auf: Mark. Mark, der mich als Letzter und am längsten besucht hatte. Mark, mein Freund. Mark, der mir etwas schuldete. Er würde mir helfen.
Mit einem Mal hatte ich das Gefühl, es sei an der Zeit, auszusteigen. Es dämmerte. Der Bahnhof war winzig, ein Bahnsteig, zwei Gleise, ein paar Bänke, in der Mitte der Plattform führten zwei Treppen nach unten und das war’s. Ich sah auf das Schild. „Langenrath“. Ganz hinten im Kopf klingelte etwas. Vielleicht gab es eine Autobahnausfahrt, an der ich mal vorbeigefahren war, oder so etwas. Die Treppe führte in eine kurze und mit sinnreichen Graffiti („Achmed hat keine Eier“, „Ich will Tina B. figgen“) geschmückte Unterführung. Auf der anderen Seite stieg ich wieder nach oben, ging zwischen einem Verschlag mit Fahrradständern und einem ungenutzten Bahnhofsgebäude hindurch und stand an einer Straße, die wenige Meter links von mir in einer Sackgasse endete. Auf der anderen Straßenseite, am Rande einer kleinen Geschäftszeile, sah ich eine Telefonzelle. Ich fischte drei Münzen aus der Tasche, aber es war natürlich ein Kartentelefon. Ich beschloss, die Post zu suchen, dort würde es mehrere Telefone geben, sicher auch eines für Münzen. Ich überquerte einen Parkplatz, der die Ladenzeile begrenzte, und stand an einer breiten Landstraße. Einige Meter weiter sah ich einen gelben Pfeil nach rechts: ‚Langenrath‘ und darunter, weiß abgesetzt, ‚Zentrum‘. Gut – dort würde doch wohl auch die Post zu finden sein. Ich machte mich auf den Weg.
Der Bahnhof war recht weit vom Zentrum entfernt. Ich schlenderte eine Weile die Landstraße entlang, bis ich in etwas gelangte, das mit viel gutem Willen als Stadtkern durchgehen konnte. Offenbar war Langenrath eines dieser Städtchen, die sich aus vielen Dörfern zusammensetzten, und als vor vielen Jahren der Bahnhof gebaut wurde, hatte man den Stadtkern noch woanders vermutet als dort, wo er später entstand. Die Landstraße wurde nach und nach eine Ortsdurchfahrt und Hauptstraße, gesäumt von Geschäften, Restaurants und Mehrfamilienhäusern. Dort, wo sie auf eine weitere Hauptstraße traf, schloss sich links und rechts der Kreuzung eine Fußgängerzone an. Sie war noch menschenleer. Ich bog ein und schritt die leeren Ladenfronten ab, die Hände tief in den Taschen, um die Hose oben zu halten, überquerte eine Brücke, die über einen kleinen Fluss führte, und fand auf der anderen Seite zwar nicht die Post, dafür aber das Redaktionsbüro der örtlichen Zeitung. „Langenrather Neueste Nachrichten“. Die ersten Seiten der aktuellen Ausgabe hingen im Fenster und gaben mir endlich Auskunft darüber, wo im zeitlichen Universum ich mich befand: Samstag, 17. Juli.
In Grübeleien darüber versunken, ob Samstag nun ein guter oder schlechter Tag sei, bemerkte ich die Frau nicht, die aus der Tür des Hauses trat. Ich stieß mit ihr zusammen, sie stolperte, fiel zu Boden, und ich schaffte es gerade, ihr eine Hand anzubieten und gleichzeitig zu verhindern, dass mir die Hose ungebührlich tief nach unten rutschte.
„Tut mir leid. Ich habe gepennt.“
„Nicht schlimm.“ Sie ließ sich aufhelfen und klopfte ihren Rock ab. Sie mochte zehn Jahre jünger sein als ich, Anfang, Mitte zwanzig, unauffällige Figur, nicht groß, nicht klein, nicht dick, nicht dünn. Umso auffälliger war das lange dunkle Haar, das ihr in üppigen Wellen über die Schultern fiel. Sie sah ein wenig zerknittert aus, als wäre sie gerade aus dem Bett gekommen.
„Haben Sie sich wehgetan?“
Sie tastete ihren Ellenbogen ab. „Ist nicht schlimm.“
„Tut mir wirklich leid.“
Sie lachte. „Ich hätte auch nicht so einfach aus der Tür stürmen sollen. Ich bin gestern Abend wohl bei der Arbeit eingeschlafen und dann … Ist auch egal.“
„Sie arbeiten bei der Zeitung?“
Sie nickte und hielt mir eine Hand hin. „Recha Gold.“
Ach du Scheiße. Namen. Ich nahm die Hand und sagte: „Hans Müller.“ Sie schien nicht misstrauisch und lächelte nur freundlich. Mir fiel etwas ein.
„Vielleicht können Sie mir helfen. Ich suche die Post.“
„Die Post? Das ist ganz einfach, gehen Sie einfach diese Straße zurück, über die Brücke und dann die Fußgängerzone ganz bis zum Ende. Dann links über die große Kreuzung. Aber die Post dürfte jetzt wohl noch zu haben.“
„Ich will nur telefonieren. Und ich habe nur Münzen.“
Sie überlegte kurz. „Ja, ich glaube, da ist ein Münztelefon.“
„Danke.“
Sie lächelte. „Schönes Wochenende.“
Sie verschwand im Durchgang zwischen einer Metzgerei und einem Sportgeschäft. Ich wandte mich um und ging den Weg zurück, den ich gekommen war. An der Kreuzung überquerte ich die Straße und fand bald ein modernes Postgebäude. Davor befanden sich – voila – vier Telefonzellen, eine war bereit, meine Münzen anzunehmen. Ich wählte die Nummer der Auskunft, und die freundliche Stimme von Platz 14 wünschte mir einen guten Tag.
Ich fragte nach Mark, nannte seinen Wohnort und hörte sie auf der anderen Seite ein wenig mit dem Computer klackern.
„Förster mit ‚Ö‘?“
„Ja.“
„Hm, da finde ich keinen Eintrag. Wissen Sie vielleicht die Straße?“
„Nein.“
„Tut mir leid, dann finde ich nichts.“
Ich fluchte innerlich. Entweder, er hatte wieder eine Geheimnummer, oder er war weggezogen.
„Was ist mit Park? Sandra Park?“
„Park wie der Park?“
„Ja.“
Klacker, klacker. „Ich habe hier Jin-Ju Park.“
„Nein, Sandra.“
„Sandra Park finde ich nicht.“
Ich seufzte, und sie lachte am anderen Ende der Leitung.
„Tut mir wirklich leid.“
Mir fiel mir noch etwas ein. „Was ist denn mit der Rheinischen Zeitung in Köln? Die gibt’s doch hoffentlich noch, oder?“
„Moment.“ Klacker, klacker, klacker. „Da gibt’s mehrere Nummern.“
„Ich möchte die Redaktion.“
„Die Nummer wird angesagt.“
Mangels Stift prägte ich mir die Zahlen ein und wählte erneut. Die Nummer war richtig, aber ich erreichte nur einen automatischen Anrufbeantworter und legte auf. Pech gehabt. Ich baute mir einige abenteuerliche Eselsbrücken, um die Zahlen zu behalten. Dann begann ich, mich dem Problem, Geld‘ zu widmen.
Die einfachste Lösung wäre gewesen, an einer einsamen Stelle einem Passanten aufzulauern und ihn um seine Brieftasche zu erleichtern, aber das brachte zu viele Unwägbarkeiten mit sich. Passanten waren um die Zeit dünn gesät, und ich konnte nicht wählerisch sein. Das erhöhte nur das Risiko, aufzufallen, also entschied ich mich für einen komplizierteren und langwierigeren, aber letztlich sichereren Weg. Ich begann, Parkplätze abzusuchen, angefangen mit dem bei der Post. Natürlich standen hier um diese Zeit wenige Autos, aber dafür kamen auch wenige störende Zeugen vorbei. Ich musste lange suchen, aber auf dem sechsten Parkplatz, schon wieder etwas außerhalb des Zentrums am Waldrand gelegen, wurde ich fündig. Auf dem Rücksitz eines silbernen Passats lag eine Handtasche. Ich hatte unterwegs einen großen Stein aufgelesen, mit dem schlug ich eine Scheibe ein, klaubte die Tasche heraus, ein widerliches, hellbraunes Monstrum, und setzte mich zwischen die Bäume ab. An einem kleinen Bach tief im Gehölz sitzend, untersuchte ich den Inhalt. Ich fand schnell eine Brieftasche, der ich entnahm, dass meine unfreiwillige Unterstützerin Andrea Gehlog hieß und ein inniges Verhältnis zu mehreren Pudeln hatte, deren Bilder in jedem zweiten Fach steckten. Ich fand im Rahmen der weiteren Inspektion ein Portemonnaie aus rotem Samt, das fast noch scheußlicher war als die Tasche selbst. Aber Andrea war großzügig, sie spendete hundertsechzig Euro. Die nahm ich, warf dann die hässliche Tasche in den Bach und den Inhalt einzeln hinterher.
Als ich wieder bei der Post ankam, war es Vormittag geworden. Wieder versuchte ich, die Rheinische Zeitung zu erreichen. Die Eselsbrücken hielten. Ich fragte mich durch, bis mich jemand mit Mark verbinden konnte. Dachte ich.
„Rheinische Zeitung, Ansgar Halberich.“
„Was?“
„Halberich, Rheinische Zeitung, kann ich Ihnen helfen?“
„Ich wollte mit Mark Förster sprechen. Ist er da?“
„Ja, aber er spricht gerade. Kann er Sie vielleicht zurück …“
„Ich stehe in einer Telefonzelle.“
„Vielleicht kann ich …“
„Ich würde gerne persönlich mit ihm sprechen.“
Mein Gegenüber seufzte. „Ich spreche ihn mal an, Moment. Wie ist denn Ihr Name?“
„Hans Müller.“
„Einen Moment.“
Er drehte sich offenbar vom Telefon weg, aber ich hörte trotzdem, was er sagte.
„Mark, hör mal grade. Da ist jemand für dich. Nennt sich Hans Müller.“
Ich verstand die Antwort nicht. Mein Gesprächspartner wandte sich wieder mir zu.
„Er möchte gerne wissen, worum es geht.“
Ich überlegte schnell.
„Sagen Sie ihm, es geht um die Sache mit dem Krankenhaus. Und dem Bild.“ Ich hoffte, er würde den Hinweis verstehen.
Lange Stille, dann wieder Kollege Halberich.
„Moment, er geht ins andere Büro. Ich stelle durch.“
Einige Sekunden ertönte eine grässliche Computerversion von „Bright Eyes“, dann ein Knacken in der Leitung.
„Mark Förster.“
„Weißt du, wer ich bin? Erkennst du meine Stimme?“, fragte ich.
„Nein. Aber wenn du der bist, für den ich dich halte, ist das kein Wunder. Wir haben vor fast zwei Jahren zuletzt miteinander gesprochen.“
Ich rechnete kurz. „Ja, das stimmt.“
Er zögerte. „Ich bin nicht sicher.“
„Was soll ich machen?“
Er überlegte. „Du hast von einem Bild gesprochen. Wann und wo habe ich es dir gegeben?“
„Du hast es mir nicht gegeben. Es hing an der Pinnwand in deiner Küche.“
„Zweite Frage. Vor vielen Jahren habe ich mich in eine Frau verliebt, die du auch kennst. Sie wollte mich nicht. Wie hieß sie, wen hat sie geheiratet und was macht sie heute?“
Ich spürte fast, wie das Blut mein Gesicht verließ. Meine Lippen wurden kalt und meine Kopfhaut begann zu kribbeln. Was sollte diese Frage?
„Sie hieß Sarah Bender“, sagte ich, sehr, sehr leise. „Sie hat mich geheiratet. Und sie ist tot.“
„Es tut mir leid. Aber ich wollte sichergehen.“
„Dass Sarah und ich verheiratet waren, weiß die halbe Welt. Und das andere auch.“
„Ja“, sagte Mark, „aber dass ich auch was von ihr wollte, wissen nur wir beide. Außerdem ging es mir mehr um deine Reaktion.“
Ich holte tief Luft und unterdrückte den Versuch, ins Telefon zu brüllen.
„Es tut mir wirklich leid“, beschwichtigte er. „Aber jetzt glaube ich dir. Warum rufst du an?“
„Ich bin nicht da, wo wir uns zuletzt gesehen haben.“
Ein Moment Stille.
„Wie bitte?“
„Ich bin … draußen.“
Jetzt war es an ihm, tief Luft zu holen. „Was? Wie das?“
„Ist nicht so wichtig. Wirst du mir helfen?“
„Natürlich.“ Sofort, ohne Zögern. „Was brauchst du?“
Was brauchte ich? „Alles, eigentlich.“
„Okay, am besten wir treffen uns. Hier in Köln. Kannst du nach Köln kommen?“
„Ich denke schon.“
„Kennst du das Jameson’s noch?“
„Ja.“
„18 Uhr. Hinten durch. Mann Gottes, du hast verdammtes Glück, dass ich heute überhaupt hier bin. Sieh zu, dass dich keiner erkennt. Wenn das, was du sagst, stimmt, sind bald alle hinter dir her.“
„Ich weiß.“
„Viel Glück. Wir sehen uns heute Abend.“
„Mark?“
„Ja?“
„Kann ich dir vertrauen?“
„Du wirst mir vertrauen müssen, oder?“
„Ja. Aber komm alleine.“
„Natürlich. Bis heute Abend.“
Er hängte auf.
6
Er fuhr eine Weile über Autobahnen und Landstraßen. Er suchte, ohne Hast. Wenn es so weit war, würde er es merken. Sein Gefühl leitete ihn – kalt, kalt, warm, wärmer. Irgendwann wusste er, dass diese Ausfahrt die richtige war. Er verließ die Autobahn und fuhr an Wald vorbei, passierte ein paar Häuser, dann wieder ein Stück Landstraße, die zu einer Ortsdurchfahrt wurde. An einer Kreuzung prüfte er kurz schnuppernd die Luft und bog links ab. Vorbei an einer Fußgängerzone, über eine Brücke und an einem Park entlang führte sein Weg ihn wieder aus dem Ort heraus. Er fuhr an ein paar einzeln stehenden Häusern, Gehöften und dem unvermeidlichen Gasthof vorbei, bis er in der Ferne etwas sah, das ihn anzog. Heiß.
Er bog von der Straße ab in eine ungepflegte Allee und blieb an deren Ende vor einem großen, eisernen Tor stehen.
Das war es. Perfekt.
Er stieg aus und prüfte das Tor. Es war rostig, aber solide, verschlossen mit einer Kette. Er wollte gerade das Vorhängeschloss entfernen, als er von hinten angesprochen wurde.
„Sie, was machen Sie denn da?“
Er drehte sich um. Vor ihm stand ein Mann, Mitte sechzig, in brauner Hose, braunkariertem Hemd und brauner Strickjacke. Der Mann trug einen braunen Filzhut. Neben ihm stand ein brauner Hund.
Er lachte. „Hallo, alter Mann.“
Der Mann wich ein paar Schritte zurück. Der Hund begann zu knurren. Er sah den Hund an und grinste.
„Sei mein Freund.“
Der Hund winselte und versteckte sich hinter dem Mann.
„Und Sie wünschen?“ Er sah den Mann an, mit etwas, das einem freundlichen Lächeln ziemlich nah kam. Er war ein bisschen aus der Übung. Der Mann wurde grau im Gesicht, seine Hände begannen zu zittern. „Ich wollte eben nur wissen …“
„Oh, ich gedenke …“, er sah über die Schulter zu dem großen Haus hinter der verwitterten Mauer mit dem eisernen Tor, „ … ich gedenke, dieses Objekt zu kaufen. Es ist doch zu verkaufen, oder?“
„Ja, ich glaube …“, der Mann schwitzte. Ein Speichelfaden lief aus seinem offenen Mund.
„Gut, gut. Wohnen Sie hier?“
„Ja. Da drüben. In Neurath.“
Er sah über die Straße jenseits der Allee. Stimmt, da standen ein paar Häuser. So was durfte einen eigenen Namen haben? Wie lustig. Er lachte und legte dem Mann eine Hand auf die Schulter.
„Dann sind wir ja bald Nachbarn.“
„Ja. Nachbarn.“
„Wie heißt du denn, Nachbar?“
„Wegner. Gustav Wegner.“
„Dann hör mir jetzt gut zu, Nachbar Gustav.“ Er beugte sich vor und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Mann keuchte und zitterte noch mehr.
„Hast du mich verstanden?“
„Ja.“
Er nahm die Hand von der Schulter des Mannes und trat einen Schritt zurück.
„Gut, Nachbar Gustav. Dann kannst du jetzt gehen. Es war schön, dich kennenzulernen.“
„Ja. Schön.“ Der Mann stand da und sah ihn glasig an.
„Du kannst gehen, sage ich. Und nimm deinen Hund mit.“
Der Mann drehte sich auf dem Absatz um und schlurfte von dannen. Der Hund folgte, winselnd und mit eingezogenem Schwanz.
„Bis bald, Nachbar“, murmelte der Andere und wandte sich wieder dem Schloss zu. Ohne großen Kraftaufwand riss er es ab, zog die Kette vom Tor, stieß es auf und betrat die zugewucherte Auffahrt.
Ja, das gefiel ihm.
Da standen ein paar Häuser …
Wer immer Neurath passierte und einen Gedanken auf das Dorf an der Straße nach Solingen verschwendete – und kaum jemand tat dies –, hielt es für einen neuen Stadtteil. Wie der Name schon sagte. Rechts der Straße lag ein Neubaugebiet aus den 1960er Jahren. Damals hatte Langenrath eine seiner zahlreichen Blüten erlebt, wohlhabende Geschäftsleute aus Opladen, Leverkusen und Solingen hatten Land in den Hügeln gekauft und die größeren Städte verlassen, um hier im Grünen zu leben. Die Stadt hatte die Zeichen der Zeit erkannt und neues Bauland ausgewiesen, und viele Bauernfamilien aus Langenrath und seinen Dörfern waren auf einen Schlag reich geworden. Wieder waren die Siedler aus den umliegenden Städten gekommen, Mittelständler diesmal, es kamen die Abteilungsleiter und Ärzte, die Lehrer und angestellten Handwerksmeister. Später entstanden auch ein paar Mietshäuser, doch höchstens drei oder vier Familien wohnten darin – überschaubar sollte alles bleiben, ansehnlich und schmuck. So auch in Neurath.
Links der Straße jedoch lagen das Gut und daneben der Kottenhof. Seine Felder waren Felder geblieben und niemand schien auf den Gedanken zu kommen, nachzufragen, warum dieses Land schlechteres Bauland sein sollte als die Felder auf der anderen Seite der Straße. Es war eben immer so gewesen, der Hof war im Gedächtnis der Menschen ebenso uralt wie das Gut, der Weg, der zu ihm hinauf und in die Felder führte, hieß „Kottenhofer Weg“ und hatte immer schon so geheißen. Die Familie, die den Hof nun schon seit vielen Generationen bewirtschaftete, hieß Krämer, und auch wenn sich niemand daran erinnerte – das war nicht immer so gewesen.
Denn Neurath war alt. Wer sich die Mühe machte, rechts der Straße zwischen die schmucken Häuser der neuen Siedlung zu gehen, vielleicht die Bleichergasse entlang oder in den Grünen Weg oder die Gartenstraße, zu den bewaldeten Hügeln hin, die die Siedlung auf der anderen Seite begrenzten, der erkannte bald, dass er eine Reise in die Vergangenheit des Dorfes machte, Schicht für Schicht, der Spaziergang eines Archäologen. Wer wusste, wonach er suchte, konnte direkt hinter den Neubauten noch einige der alten Hütten finden, in denen früher Wanderarbeiter untergekommen waren oder Tagelöhner. Heute waren es Gartenhäuschen und Schuppen, hier und da war nichts geblieben als die Einfassung eines Sandkastens oder Blumenbeetes. Dann kamen die alten Bauernhäuser. Große Bauten meist, aus schmalen, flachen Ziegeln, die zuweilen etwas unordentlich zusammengesetzt wirkten – wie die Legohäuser eines Kindes, das gegen Ende seines Spiels die Geduld verlassen hatte. Heute waren diese Bauernhäuser restauriert, sie standen auf den größten Grundstücken des Dorfes und strahlten den Reichtum derer aus, die ihr Land verkauft hatten, oder derer, die das Geld hatten, dem reich gewordenen Bauern das letzte und wichtigste Stück seines Bodens abzuhandeln. Doch einst waren sie windschief gewesen, die Dächer löchrig und die Flure kalt, und etwas davon war immer noch zu ahnen. Und dahinter kam der älteste Teil des Ortes – einige verbliebene Fachwerkhäuser, zum Großteil verschiefert, wie im Bergischen Land üblich. Auch diese Häuser waren restauriert und liebevoll hergerichtet, meist waren sie von Paaren bewohnt, die zu irgendeinem Zeitpunkt davor gestanden und gedacht hatten, dass genau dies ihr Traumhaus war, ein altes Häuschen im Grünen, billig zu haben, eine Lebensaufgabe für Hobbyhandwerker. Ganz wenige waren klassisch anzusehen, mit ehemals schwarzen Balken und ehemals weißem Fachwerk. Heute waren die Balken zumeist graubraun und das Fachwerk gelblich – kaum eines dieser Häuser war noch bewohnt. Sie verfielen, und hin und wieder erreichte die Langenrather Stadtverwaltung oder den Rat das Schreiben einer besorgten Familie, deren Kind in den künftigen Ruinen gespielt hatte.
Doch dies geschah selten, denn in Neurath gab es nicht viele Kinder. Es war ein Kuriosum, den Statistikern der Stadt wohlbekannt, auch wenn sie nicht offen darüber sprachen, denn sie hatten keine Erklärung dafür. Die Geburtenrate hatte im Laufe des 20. Jahrhunderts stetig abgenommen. Es war, als wäre das Dorf an sich trocken, wenig Frucht bringend. Junge Paare, die sich eine Familie wünschten, schienen das manchmal zu spüren. Sie zogen weg, aus den Mietwohnungen, aus den kleinen Häusern, und nicht selten gelang die Familiengründung, sobald sie das Dorf hinter sich gelassen hatten. Oft war dies Stoff für innerfamiliäre Scherze. Doch wenn all diese Paare ihre Geschichten zusammengetragen hätten, wäre ihnen das Lachen womöglich vergangen – sie waren sich alle zu ähnlich. Wo in Neurath Kinder und Jugendliche lebten, da waren es fast ausschließlich Zugezogene.
Neurath starb. Nicht zum ersten Mal. Denn Neurath war alt. Sehr alt. Als ein paar Familien vor Jahrhunderten die lange, schmale Rodung am Fluss verlassen hatten, um ihr eigenes Dorf – die Neue Rodung – zu gründen, da flohen sie vor den beunruhigenden Dingen, die in der langen Rodung geschahen, vor dem, was der Fluss brachte. Sie siedelten auf dem fruchtbaren Waldland unterhalb der Hügel und sie belebten ohne es zu wissen eine Stätte wieder, auf der schon lange zuvor eine Siedlung entstanden, erblüht und vergangen war. Ebenso wie am Fluss, nicht weit entfernt. Und davor. Und davor. Seither war auch Neurath erblüht und vergangen, doch niemals mit dem Lauf der Geschichte. Die Pest hatte das Dorf ebenso verschont wie alle Kriege. Ende des 16. Jahrhunderts flüchteten sich einige Mitglieder einer besonders kleinen, protestantischen Sekte hierher, um der Verfolgung zu entgehen, mit der sie ihre lutheranischen und calvinistischen Brüder ebenso bedrohten wie die Papisten. Sie wunderten sich, ein völlig verlassenes, aber fast vollständig bewohnbares Dorf vorzufinden, richteten sich ein und gediehen, weitgehend unbemerkt von den Nachbargemeinden und durch viele glückliche Zufälle völlig übersehen von jeder Soldateska, die in den folgenden Jahrzehnten durchs Land zog.
Auch diese Siedler verschwanden wieder, so geheimnisvoll wie sie den Ort gefunden hatten. Doch diesmal verschwanden sie nicht vollständig. Ein Zweig der Familie Krämer, die den Kottenhof in jener Zeit übernommen hatte, bewirtschaftete ihn noch immer, und ihre ältesten Mitglieder erinnerten sich trübe an Geschichten aus sehr alter Zeit, auch wenn die Jungen sich nicht mehr dafür interessierten. Und wenn Gustav Wegner, der verwirrt, aber voller großer Gedanken und plötzlicher neuer Pläne nach Hause schlurfte, seinem Großvater oder Urgroßvater von der Begegnung mit dem Fremden vor dem Gut berichtet hätte, so hätten sie vielleicht noch genug Wissen gehabt, ihn zu warnen. Oder zu beglückwünschen – je nachdem.
Neurath lag im Sterben. Wieder einmal. Aber die Ankunft des Fremden würde allem eine neue Richtung geben, lange vor dem Feuer. Und was würde sich dann aus der Asche erheben?