Kitabı oku: «Der wandernde Krieg - Sergej», sayfa 8

Yazı tipi:

11

Die Kinder standen inmitten des Blutes und sahen auf das hinunter, was einmal Volker Hye, der Metzger, gewesen war. Kein Tropfen befleckte ihre Kleider.

„Sie werden wissen, dass er es war“, sagte der Junge.

„Ja“, sagte das Mädchen. „Er ist sorglos.“

„Wenn sie ihn wieder fangen, wird es nicht gelingen.“

„Nein. Dann wird es niemals gelingen.“

„Wir müssen ihm helfen.“

„Das ist nicht schwer.“

12

Es war schon dunkel, als ich in Köln ankam. Ich hatte lange geschlafen, dann geduscht und mich rasiert. Ich fühlte mich frisch, wach, stark. Eine gelungene Jagd ist wie ein Jungbrunnen. Ich beschloss, nach Köln zu fahren und die Nacht zu genießen. Das hatte ich früher oft gemacht, war stundenlang durch die Stadt gestreift, hatte das nächtliche Leben an mir vorbeifließen lassen, die Lichter und die Dunkelheit gefühlt. Pfeifend verließ ich mein Haus und ging zum Bahnhof. Ich pfiff noch im Zug.

Ich streifte ziellos durch die Straßen, Menschen kreuzten meinen Weg und flossen vorbei, Pflaster glitt unter mir hindurch, Lichter neben mir, Dunkelheit über mir. Ich genoss die Nacht, atmete sie, trank sie, wurde eins mit ihr. Ich wusste nicht, wo ich herging, durch welche Straßen und Parks, welche Hinterhöfe und versteckten Wege.

Es war früher Morgen, als ich mich in der Altstadt wiederfand. Ich war in einer Ecke gelandet, die um diese Zeit schon ziemlich einsam war. Ich ließ mich zurück in die Welt der Alltäglichkeiten fallen und beschloss, zum Bahnhof zurückzugehen und mir ein Taxi nach Hause zu nehmen. Wenn man schon reich war, konnte man sich hin und wieder auch entsprechend benehmen. Ich schlenderte durch die menschenleeren Gassen und erschrak fast, als ich plötzlich Stimmen hörte. Nah. Und leise, aber ich habe recht wache Sinne.

„Lasst mich in Ruhe.“ Eine Frau.

„Nein, tun wir nicht.“ Ein Mann. Lachend.

Ich bog um eine Ecke und fand mich in einer engen Gasse wieder, die vor mir von zwei Gestalten blockiert wurde. Sie drehten mir den Rücken zu. Zwischen ihren Köpfen hindurch konnte ich weiter in die kleine Straße hinein sehen. Da stand eine Frau, umringt von drei Männern. Einer hinter ihr, einer vor ihr, einer neben ihr, der Gasse gegenüber. Die Männer waren allesamt gut gekleidet. Alles an ihnen sah teuer aus, die Anzüge, die Schuhe, die Frisuren. Ich konnte sie nicht gut erkennen, aber ich schätzte keinen von ihnen über fünfunddreißig. Gemachte Männer. Erfolgreich. Gewinner. Sie hätten sich Frauen kaufen können. Aber danach stand ihnen wohl nicht der Sinn.

Die Frau war klein und blond. Sie trug Jeans und eine leichte Lederjacke mit hochgeschlagenem Kragen.

Mit ein paar schnellen, leisen Schritten war ich bei den beiden, die vor mir die Straße blockierten. Bewachten, wie ich annahm, falls sie zu fliehen versuchte. Der eine war groß, breitschultrig und dick, das Haar lag ölig an seinen Nacken geklatscht. Der andere war etwas kleiner und schmaler, er hatte eine Glatze, die garantiert nicht natürlich gewachsen war. Aufs Feinste poliert, wie eine Billardkugel.

„Knackiger Arsch“, sagte der Dicke. „Höschen?“

„String-Tanga vielleicht“, hoffte der Polierte.

Ich packte die Billardkugel mit der Linken unter der Nase, riss sie zurück und schlug ihr mit der Handkante meiner Rechten in die Halsseite. Ich traf den Karotissinus gut, der Typ sackte mit einem komischen Laut zu Boden. Ich ließ ihn fallen und griff in meine Manteltasche. Der Dicke merkte, dass etwas passiert war, aber bevor er verstand, hatte ich ihn an mich gezogen und ihm das Rasiermesser an den Hals gedrückt.

„Ein Laut“, erklärte ich ihm leise, „ein Laut und ich schlitze dich auf. Du wärst nicht der Erste heute.“

Er wurde steif und begann zu schwitzen. Gut. Er glaubte mir. Ich schaute an seinem Kopf vorbei, um zu sehen, ob ihn das retten würde.

Die drei, die die Frau umzingelt hatten, hatten nichts gemerkt. Erstens standen wir im Schatten und zweitens waren sie viel zu sehr mit ihrem Opfer beschäftigt. Ich sah mir die Frau genauer an, und mein Herz blieb stehen. Nur um im nächsten Moment rasend wieder zu schlagen. Sie war es. Die Frau vom Flughafen. Sie war es. Wie hatte die Freundin sie genannt? Erin.

Die Frau mit dem süßen Akzent.

Die Frau mit den schönen Augen.

Die Chancen des Dicken sanken gegen null.

„Bitte, bitte tut mir nichts.“

Ihre Stimme klang ängstlich, flehend, sie hörten es und lachten. Ich sah mit Erstaunen, dass ihr Körper etwas ganz anderes sagte. Sie entspannte sich und verlagerte mit kleinen, weichen Bewegungen ihr Gewicht. Sie bewegte sich leicht nach hinten. Als wiche sie vor dem Mann vor ihr zurück. Im nächsten Moment explodierte sie.

Mit einem Schrei rammte sie dem Mann hinter ihr einen Ellenbogen in den Körper. Er sackte nach vorne, sie packte mit demselben Arm seinen Kopf, drückte ihn nach unten, machte eine kleine Drehung und schlug ihm ihr Knie ins Gesicht. Im Zurückdrehen trat sie dem Angreifer vor ihr mit Wucht seitlich ins Knie, gerade als er nach ihr greifen wollte. Sie vollendete den Halbkreis und stand dem dritten Mann gegenüber, der ihr entgegenkam. Sie empfing ihn mit einem Hagel schneller, kurzer, harter Fauststöße, und er prallte von ihr ab wie von einer Gummiwand. Sie setzte nach, als würde sie an ihm kleben, prügelte weiter, packte zu und rammte ihm ein Knie in die Rippen, dann noch ein Knie in die Leiste. Ich konnte es kaum glauben.

„Toll, was?“, sagte ich zu dem Dicken.

Er traute sich nicht zu antworten, aber ich vermutete, dass er sich das alles ganz anders vorgestellt hatte. Der Typ neben mir auf dem Boden keuchte, und ich trat ohne hinzusehen kräftig gegen seine Billardkugel, so dass wieder Ruhe war.

Der Kampf in der Gasse war noch nicht zu Ende. Der Wortführer, der vor ihr gestanden hatte, rappelte sich halb auf, was er besser nicht getan hätte. Sie drehte sich gerade wieder in seine Richtung und trat ihm mit solcher Wucht gegen den Kopf, dass er gar keine Zeit hatte zu merken, dass er mit diesem Knie sowieso kaum würde aufstehen können. Er schlug der Länge nach auf den Rücken und blieb liegen. Jetzt stand sie in unsere Richtung gewandt, von wo sie zwei weitere Gegner vermutete. Ich zerrte den Dicken ins Licht, drückte mit der Rechten weiter das Messer an seinen Hals und winkte mit der Linken über seiner Schulter.

„Sag mal was“, forderte ich ihn auf.

Er wimmerte.

Ihr Blick sprang von uns zu dem Mann, der am Boden neben mir lag, und zurück zu uns. Sie erfasste die Situation und wandte sich dem Dritten zu, dem, der hinter ihr gestanden hatte. Er kniete am Boden und hielt sich das Gesicht. Die Tritte, die nun auf ihn niederprasselten, trafen ihn erneut völlig unvorbereitet, er fiel zu Boden und rollte an eine Hauswand, wo sie ihn so lange weiter traktierte, bis er sich nicht mehr bewegte.

Es wurde Zeit für mich, mich von dem Dicken zu verabschieden. Ich zog ihm das Messer leicht über den Hals und brachte ihm einen oberflächlichen Schnitt bei. Ich roch mit Ekel, dass er sich in die Hose machte.

„Wenn du schnell bist“, log ich, „schaffst du es vielleicht noch in ein Krankenhaus, bevor du verblutest.“

Ich ließ ihn los und er rannte davon mit seinen vollen Hosen, die Hände krampfhaft an den Hals gepresst. Einige von denen, die ich wirklich umgebracht hatte, hatten mehr Klasse gehabt. Fast bedauerte ich, nicht ein bisschen tiefer geschnitten zu haben. Ich wischte mein Messer an dem Jackett der Billardkugel ab, steckte es ein und ging zu ihr.

Sie wandte sich gerade von ihrem letzten Feind ab und kam auf mich zu. Sie lächelte. Ja, sie war es wirklich. Wir standen uns gegenüber. Ihre Augen fingen mich erneut. Sie schwitzte ein wenig und atmete schnell, aber sie lächelte.

Lächelte mich an.

Mein Herz schlug, setzte aus, schlug. Ich wollte etwas sagen, aber ich konnte nicht. Ich hatte sie wiedergefunden.

„Schön, dich wiederzusehen“, sagte sie. „Ich bin Erin.“

Ich stand da und badete in ihrem Lächeln. Irgendetwas erwartete sie von mir. Es fiel mir ein.

„Sergej. Ich heiße Sergej.“

Ein Stöhnen riss uns zurück in die andere Wirklichkeit. Der Wortführer, dessen Kopf sie als Fußball benutzt hatte, bewegte sich. Meine Hand glitt in die Manteltasche. Sie fasste mich am Arm und zog.

„Lass uns abhauen“, sagte sie leise.

Sie lief los und ich folgte ihr. Wir bogen um ein paar Ecken, überquerten eine Straße und standen am Rheinufer. Schwer atmend ließ sie sich auf eine Bank fallen.

„Oh boy“, keuchte sie, „jetzt reicht’s aber langsam.“

Ich lachte. Sie hakte sich bei mir unter und drückte meinen Arm. Ich hätte schreien mögen.

„Danke, dass du mir geholfen hast.“ Sie pustete sich eine Strähne aus der Stirn und strahlte mich an. Ich schüttelte den Kopf.

„Ich habe ja gar nichts gemacht.“

„Nein, gar nichts. Außer, dass die beiden, um die du dich gekümmert hast, wahrscheinlich zwei zu viel für mich gewesen wären.“

„Es sah eher so aus, als wärst du notfalls mit einer ganzen Armee fertig geworden.“

Sie sah mich ruhig an. „Das war nur, weil ich so Angst hatte. Ich habe eigentlich nicht gedacht, dass es klappt.“

Sie schüttelte langsam den Kopf, lehnte sich zurück, schlug die Hände vors Gesicht und seufzte.

„Oh, shit.“

Sie blieb eine ganze Weile so sitzen. Ich sah auf den Rhein hinaus und die Lichter, die sich auf ihm brachen. Lauschte auf seine leisen Geräusche. Irgendwann legte ich den Arm um sie. Irgendwann legte sie den Kopf auf meine Schulter.

Als sie wieder einigermaßen zurecht war und die Freude den Schrecken überwog, beschlossen wir, noch etwas auf ihren Sieg zu trinken. So kam es, dass wir um kurz nach zwei im Jameson’s eintrafen. Die Bedienung schaute uns etwas säuerlich an, aber der Pub war lange noch nicht leer, also ignorierten wir es. Wir berieten kurz und sie bestellte zwei Kilkennies. Sie bestand darauf, mich einzuladen, und ich leistete nicht viel Widerstand.

„Bevor wir besoffen sind“, sagte sie plötzlich, als das Mädchen das Bier vor uns abgestellt hatte, „bevor wir uns noch mal verlieren. Schreib mir deine Telefonnummer auf. Und deine Adresse.“ Sie schob mir einen Bierdeckel rüber. Ein uralter Reflex tauchte auf und ich griff in meiner Manteltasche nach einem Kuli. Ein guter Journalist hat immer einen Stift bei sich. Ich fand nur das Rasiermesser und zog die Hand wieder hervor.

„Ich habe keinen Stift.“

Sie hatte den Kopf schräg gelegt und betrachtete mich mit einer Mischung aus Neugier und Nachdenklichkeit.

„Was hast du denn in der Tasche?“

Ich sah sie sehr lange an, ohne zu antworten. So lange, dass sie unsicher wurde.

„Hey, du brauchst nicht …“

Ich hätte sie leicht anlügen können. Ich hätte auch gar nichts sagen können, sie hätte es akzeptiert, aber das wollte ich nicht. „Ein Messer.“

Sie nickte langsam. „Deshalb hatte der fette Kerl so eine Panik?“

„Ja.“ Ich grinste. „Und weil du wohl ganz anders warst als die Mädchen, die er sonst so kennt.“

Sie grinste nicht zurück. Sie schaute mich eine kleine Weile einfach an, dann schüttelte sie leicht den Kopf, griff in die Innentasche ihrer Jacke und warf mir etwas zu. Einen Kuli.

„Nimm meinen.“

Wir unterhielten uns. Sie war Amerikanerin, ein paar Jahre jünger als ich, war in Deutschland, um ihren Master in Archäologie und Völkerkunde zu machen. Sie arbeitete für einen Photographen, den sie aus Amerika kannte. Sie hatte einen Bruder, der in dem Kaff, aus dem sie kam – so wie sie es beschrieb, war es der Prototyp des Kaffs schlechthin –, Polizist war, und sie kam in jedem vierten oder fünften Satz auf ihn und seine Familie. Mir fiel es schwer, genau mitzubekommen, was sie sagte, weil es so schön war, einfach nur auf den Singsang ihrer Stimme mit dem Akzent zu hören.

„ … du so?“

Ich lauschte und sah sie an.

„Hey!“ Sie lachte. „Ich habe dich was gefragt.“

„Was? Entschuldige, was hast du gesagt?“

Sie prustete los und versuchte vergeblich, ein vorwurfsvolles Gesicht zu machen. „Wofür rede ich eigentlich die ganze Zeit?“

„Es ist so schön, dir zuzuhören.“

„Du hörst mir doch gar nicht zu.“

„Doch. Es ist weniger, was du sagst …“

Sie lächelte. Ich begann zu zerfließen. Sie strich mir mit zwei Fingern über die Wange. Ich zerfloss.

„Es ist der Akzent, hm?“, sagte sie. „Macht mich sexy.“

Ich fing ihre Hand von meiner Wange. „Es ist auch der Akzent, ja.“

Sie lachte. Und zog die Hand nicht weg. „Du hast meine Frage immer noch nicht beantwortet.“

„Welche Frage?“

„Was du so machst.“

„Oh.“ Ich suchte einen Moment nach einer passenden Antwort. „Ich war die letzten beiden Jahre auf Mallorca. Genau genommen bin ich an dem Tag zurückgekommen, an dem wir uns … getroffen haben.“

„Ja, so kann man es auch nennen. Was macht man zwei Jahre auf Mallorca?“

„Ich bin viel spazieren gegangen.“

„Zwei Jahre lang?“

„Ja.“

Anstatt weiter zu fragen, schaute sie mich wieder mit diesem nachdenklichen Gesicht an.

„Du wirst mir noch viel von dir erzählen müssen, glaube ich.“

„Vielleicht.“

Sie schüttelte den Kopf. „Sicher.“

Sie wohnte in der Südstadt, was ein Stück entfernt war. Trotzdem beschlossen wir, zu Fuß zu gehen.

„Als mir klar war, dass ich kämpfen würde“, sagte sie nachdenklich, während wir Hand in Hand durch die Dämmerung gingen, „dachte ich, dass ich wahrscheinlich verlieren würde. Ich habe mich selbst gewundert, wie ich mit den dreien fertig geworden bin. Dann habe ich gedacht, deine beiden kämen als Nächste und Nummer sechs von hinten. Ich dachte, ich träume, als ich gesehen habe, dass der eine schon am Boden lag und der andere Todesangst hatte, während jemand hinter ihm mir Zeichen machte. Nummer sechs hat wohl auch was davon gemerkt. Jedenfalls habe ich gehört, wie er weggerannt ist.“

„Den habe ich gar nicht gesehen.“

„Er stand am anderen Ausgang der Gasse. Hat diese Seite blockiert.“

Ich sah sie schweigend an.

„Und als du dann auf mich zugekommen bist“, sagte sie leise, „habe ich wieder gedacht, ich träume.“

Ich sagte nichts. Sie blieb stehen, drehte sich zu mir, nahm meinen Kopf in die Hände und küsste mich. Sie wohnte in einem Hinterhof, ihre Wohnung war eine ehemalige Backstube. Zwei Zimmer um die Ecke, eins Wohnküche, eins Schlafarbeitszimmer, dazu ein kleines Bad. Als ich später, viel später, einschlief, war es draußen hell. Das Letzte, was ich spürte, waren ihre Wärme und ihr ruhiger Atem. Ich ließ mich fallen und versank.

Stunden später saß ich unter dem Fenster und betrachtete sie. Das Laken, mit dem wir uns zugedeckt hatten, war heruntergerutscht, sie lag schlafend, mit einem leichten, zufriedenen Lächeln auf der Matratze, die ihr als Bett diente. Sie war so schön. Der kleine, schmale Körper, das verstrubbelte blonde Haar, die Haut. Es war wunderbar, sie zu berühren. Ich betrachtete sie und wusste, dass es zu spät für mich war.

Es war schlimm genug, dass ich mich verliebt hatte.

Jetzt, da ich sie wider alle Hoffnung wiedergefunden hatte, liebte ich sie.

Meine einzige Chance war, jetzt zu gehen. Ihre Jacke lag noch vor der Tür, wo ich sie hingeworfen hatte. Ich wusste, in welcher Tasche der Bierdeckel war. Ich musste ihn nur herausnehmen und irgendwo wegwerfen. Sie kannte nur meinen Vornamen.

Sie hatte sich in mich verliebt, einen Mann, den sie am Flughafen kurz gesehen hatte, der ihr dann in einer brenzligen Situation geholfen hatte. Wie weit würde das tragen? Was würde sie von einem Serienmörder halten? Was für ein Gedanke.

Ich musste gehen, es war meine einzige Chance.

Meine einzige Chance und ihre.

Ich saß und sah sie an.

Dann beschloss ich, dass es mir egal war. Ich würde einen Weg finden. Ich legte mich wieder zu ihr, umarmte sie und zog sie an mich. Sie legte mir die Arme um den Hals, schob ein Bein über meine, schmiegte ihren leichten, warmen Körper an mich und küsste mich, ohne die Augen zu öffnen.

„Noch mal“, flüsterte sie.

13

Die Morgendämmerung. Er hockte auf dem Dach wie ein riesiger, düsterer Vogel und schaute in die Sonne, die blutig aufging und die Wolken in Flammen setzte. Er hatte eine Nacht der Zweifel und der Fragen hinter sich. Und das beunruhigte ihn. Denn es gab keinen Grund. Die sechste Verbindung war hergestellt. Seine Diener waren als Sieger heimgekehrt, und zum Lohn hatte er ihnen die Dunkelheit der Kugel geschenkt. Ihre Gesichter waren in Verzückung gefallen, als ihre Seelen verbrannten.

Die sechste Verbindung. Oh welche Schmerzen. Welcher Glanz. Die Träger waren gut gewählt, sie waren stark, voller Kraft, voller Hoffnung, sie hatten der Verbindung viel gegeben. Ihr Vergehen hatte Welten erleuchtet, und auf der anderen Seite näherte sich ein gewaltiges Heer. Er hatte es fast sehen können. Einmal noch. Eine Verbindung. Dann konnte das Tor geboren werden. Und er würde seinen Herrn empfangen und dessen Herren, und die Zeit des Ausgestoßenseins, die Zeit der Gefangenschaft an diesem armseligen Ort, würde endlich vorbei sein. Eine Verbindung. Dann das Tor. Nur noch kurze Zeit.

Und nun diese Zweifel. Dieses Gefühl, dass etwas geschehen war, das ihn berühren sollte. Er hatte die ganze Nacht auf dem Dach gesessen und immer wieder seinen Geist ausgeschickt, zu suchen und zu forschen. Viel hatte er gefunden. Träume. Gedanken. Pläne. Er wusste um jenen armseligen Kreis kleiner Menschen in Langenrath, der ihn mit Argwohn betrachtete und im Geheimen konspirierte. Sie würden seine Lust stillen, wenn Mord und Brand erwachen würden, als Vorspiel zu jenem Moment, wenn Schritte auf der anderen Seite des Tores zu hören sein würden. Wenn der Herr herüberkäme und mit ihm alle Männer. Nichts, was nicht in seinem Sinne wäre, kein Feind, der ihm erwachsen konnte, es würde gelingen, alle Zeichen waren gut.

Und dann, von Ferne, fremde Zeichen, die er nicht zu deuten wusste, so weit waren sie entfernt, so schwach. Eine Stimme, die von Träumen sprach. Eine Karte aus dem alten Spiel. Ein Schatten, der in der Nacht wandelte. Nichts, das er hätte greifen können, aber es berührte ihn, anders als die vielen Millionen und Abermillionen Dinge, die an ihm vorbeischwebten. Fragen waren in ihm erwacht und er hatte keine Antworten erhalten. Aber in seinen Träumen und Visionen sah er nicht mehr nur den Glanz des Tores und den Sieg seines Herrn.

Er sah eine schwarze Gestalt, die aus den Flammen zu ihm kam. Eine Gestalt, die größer und größer wurde.

Er hatte einmal versagt.

Er hatte wieder diesen Traum gehabt. Die Vision von der anderen Macht. Der dritten. Er wusste, dass auch die andere Seite draußen ihre Ränke spann. Doch er fürchtete die weiße Macht nicht. Er war stark.

Aber manchmal gab es mehr als Rot und Weiß.

Manchmal gab es auch Schwarz.

Er sprang mit einem Satz vom Dach. Nicht weit entfernt sah Recha dieses Bild in ihrem Traum und stöhnte auf, als sein Schatten über die Stadt fiel. Er ging an seinen Geschöpfen vorbei, gleichgültig gegen ihre Ehrfurcht. Er rief seine Späher zu sich und gab ihnen Aufgaben.

Diesmal würde es gelingen. Dieses Mal würde sein Triumph vollkommen sein.

Er hatte einmal versagt.

Es durfte nicht erneut geschehen.

Der Krieg hatte schon begonnen.

14

Wir hatten uns wieder geliebt und wieder und wieder. Dann, später, stellten wir erschöpft fest, dass wir nicht mehr müde waren. Es war inzwischen fast vier am Nachmittag. Sie rollte sich aus dem Bett, sprang auf und schaute mit in die Hüften gestemmten Fäusten auf mich hinunter. Ich genoss den Anblick. Wir sahen uns eine ganze Weile wortlos an, dann trat sie grinsend gegen die Matratze.

„Aufstehen! Spaß vorbei!“

„Ich wusste es“, murmelte ich hörbar, „es war zu perfekt.“

„Was war perfekt?“

„Alles.“

Sie ging in die Knie, krabbelte zurück auf die Matratze, beugte sich über mich und gab mir einen langen Kuss. „Wirklich alles?“, fragte sie leise.

Ich küsste sie wieder. „Alles. Bleib noch ein bisschen hier.“

Sie legte sich auf mich, streichelte meine Haare und begann, meine Gesichtszüge mit dem Finger nachzuziehen. Nachdenklich fuhr sie über die Narbe auf meiner Stirn.

„Wo hast du das her?“

„Autounfall. Als ich ein Kind war.“

„Schlimm?“

„Ja. Ein Laster ist in unseren Wagen gefahren. Meine Eltern und meine beiden Brüder sind gestorben. Ich habe als Einziger überlebt.“

Ihre Augen wurden weit, und ihre Hand, die gerade wieder in mein Haar fuhr, erstarrte.

„Oh mein Gott, Sergej. Das ist schrecklich, ich … es tut mir leid, ich …“

Ich schüttelte den Kopf, nahm ihre Hand und küsste sie.

„Es … ist für mich nicht so schlimm, wie es sich anhört. Das klingt komisch, aber ich kann mich an nichts erinnern. An gar nichts. Nicht nur an den Unfall nicht. An nichts davor. Als ich im Krankenhaus aufgewacht bin, war es fast, als wäre ich mit zwölf Jahren noch mal neu geboren worden. Alles, was ich gelernt hatte, konnte ich noch, sprechen, gehen, schreiben, schwimmen, all so was. Aber ich hatte keinerlei Erinnerung an vorher. Habe sie immer noch nicht. Was mich betrifft, so fängt mein Leben kurz nach meinem zwölften Geburtstag erst an.“

Sie streichelte mich und betrachtete mich mit einer Mischung aus Mitleid und Sorge. Sarah hatte mich oft ähnlich angesehen. Als wollte sie mich vor etwas beschützen, das lange zurücklag.

„Was hast du dann gemacht?“

„Erst mal gar nichts. Mit mir wurde gemacht.“

„Was wurde gemacht?“

„Ständig kamen Leute, völlig Fremde für mich, trösteten mich, fassten mich an, sprachen mit mir, weinten. Ich war völlig verwirrt.“

Sie nickte und schaute mich voller Mitgefühl an. „God, that’s terrible, it … das muss … unglaublich … gewesen sein. Und du hast überhaupt niemanden erkannt?“

„Nein. Meine ersten Bezugspersonen waren ein Arzt und zwei Krankenschwestern, eine alte und eine ganz junge. Sie haben alle auf ihre Weise verstanden, was ich brauchte. Dr. Wulfhahn hat mir genau erklärt, was mit mir los war, was mir passiert war, all so was. Er war ehrlich. Alle anderen wollten den Jungen schonen, wegen der schrecklichen Geschichte und weiß der Teufel was noch alles. Nicole, der jungen Schwester, tat ich einfach leid, sie hat sich wahnsinnig um mich gekümmert, aber eben nicht wie all diese Verwandten, die in mir jemanden gesehen haben, der ich nicht mehr war.“ Ich grinste. „Wir haben ständig Schach gespielt. Keine Ahnung, ob sie sie für mich von ihren anderen Aufgaben entbunden haben, jedenfalls haben wir ständig Schach gespielt. Und geredet. Sie war ganz gut, aber ich habe immer gewonnen.“

Ich wanderte in Gedanken zurück in das Krankenhaus. Als Nicole zum ersten Mal mit der Spielesammlung gekommen war. Sie hatte sich auf mein Bett gesetzt, groß, dünn, rothaarig, mit ihrem breiten Mund und ihrem lieben Lächeln. Sie war richtig aufgeregt gewesen.

„Schau mal“, hatte sie gesagt, „wenn du noch lesen und schreiben kannst, kennst du ja vielleicht auch noch ein paar Spiele. Schau, wir haben Halma, Mensch-ärgere-dich-nicht, das ‚lustige Leiterspiel‘, hier ist Mikado …“

Ich hatte an ihren Armen vorbei in die Schachtel gegriffen. Nach den Schachfiguren, die sofort all meine Aufmerksamkeit gefangen hatten. Da war so etwas wie eine Erinnerung gewesen. Etwas aus der Zeit, bevor ich in diesem seltsamen Haus aufgewacht war, wo alles weiß und grün war, alle Gerüche so intensiv, alle Menschen so freundlich. Etwas, das mir vorher etwas bedeutet hatte. Ich hatte den schwarzen Turm herausgezogen und lange betrachtet. Eine kleine, glatte, glänzende Plastikfigur. Irgendetwas hatte mich gestört. Aber gleichzeitig war ich fasziniert gewesen. Ich hatte die Figur zwischen den Fingern gedreht, ihre Glätte befühlt, die kleinen Zinnen in meinen Handrücken gedrückt, sie über mich gehalten und von allen Seiten betrachtet, daran geschnuppert. Nicole hatte mich aufmerksam beobachtet.

„Kannst du Schach spielen?“, hatte sie gefragt.

‚Schach‘. Das Wort hatte mir nichts gesagt, überhaupt nicht. Der Klang war interessant, es hörte sich gut an, wenn man es sagte, aber eine Bedeutung? Ich hatte keine Bedeutung hinter dem Laut finden können. Ich hatte resigniert mit den Schultern gezuckt und gegrinst. Nicole hatte zurückgegrinst. Sie hatte ein Spielbrett aus dem Karton gezogen, diesen irritierend beruhigenden Wechsel aus Schwarz und Weiß, und die Figuren aufgebaut. Je mehr Figuren auf ihren Feldern gestanden hatten, desto aufgeregter war ich. Ich hatte darauf gebrannt, sie zu berühren, sie über die Felder ziehen zu lassen, eine Strategie zu entwickeln, mich mit einem Gegner zu messen.

„Welche Farbe willst du?“

Das hatte mich verwirrt. Ich hatte eine Farbe wählen wollen, zugleich aber das Gefühl gehabt, dass die richtige nicht auf dem Brett war. Ich hatte eine Weile die schwarzen und weißen Figuren betrachtet und mich schließlich für Schwarz entschieden.

Im ersten Spiel hatte ich sie in neun Zügen geschlagen.

„Hey, hey, hey“, hatte sie gesagt, „da haben wir ja wirklich was gefunden, in dem du so richtig gut bist. Ich wollte dich eigentlich etwas schonen, aber na gut … Noch eins?“

Ich hatte begeistert zugestimmt. Diesmal hatte sie ihr Können ausgespielt und ich hatte etwas mehr Probleme, aber am Ende hatte ich sie matt gesetzt – worauf sie über das ganze Gesicht gestrahlt hatte.

„Das war klasse! Mensch, vielleicht kommst du ja über Schach irgendwie an ein paar Erinnerungen.“

„ … Sergej?“

Ich schreckte zurück in die Gegenwart. Sie schaute mich belustigt an.

„Was?“

„Ich habe dich gefragt, ob Schach so eine Erinnerung aus der Zeit vor dem Unfall war. Wie das Schwimmen und so. Hast du geträumt?“

„Ich habe gerade an mein erstes Schachspiel gedacht. Aber was deine Frage betrifft – nein. Das war ja das Komische. Meine Krankenschwester war sicher, und ich auch, dass ich das Schachspiel schon von früher kannte. Aber offenbar hat es in meinem Elternhaus nicht mal ein Schachbrett gegeben. Mein Vater war Kartenspieler, Skat und so, meine Mutter sehr sportlich, aber Brettspiele hatte es bei uns so gut wie gar nicht gegeben. Niemand von denen, die mich gekannt hatten, hatte sich vorstellen können, wo ich es gelernt haben soll.“

„Vielleicht von einem Freund. Oder du hast es dir selbst beigebracht?“

„Dachten wir auch. Aber niemand fand sich, der es mir beigebracht haben wollte. Und für einen Autodidakten war ich von Anfang an eigentlich zu gut.“

„Wie gut?“

„Ich bin noch nie geschlagen worden. Bisher habe ich jedes Spiel, seit dem ersten damals im Krankenhaus, gewonnen.“

Sie stieß einen kleinen Pfiff aus. „Stark. Warst du dann in einem Verein? Hast du mal gegen richtige Großmeister gespielt oder so?“

„Nein, ich war nie in einem Verein. Aber ich habe gegen Karpov gewonnen.“

Sie schaute mich zweifelnd an. „Quatsch.“

Ich lachte. „Es stimmt … gewissermaßen. War auf einem Simultan-Turnier. Karpov gegen 30 Gegner. 27 hat er besiegt, es gab ein Patt, zwei haben ihn geschlagen. Einer davon war ich. Er hat sich pro Zug zum Schluss, wenn es hoch kam, eine Minute genommen. Und wir hatten viel Zeit zum Überlegen. Da geht das mal.“

„Wieso konntest du da mitmachen?“

„Ich habe damals für die Zeitung gearbeitet, die das Ganze organisiert hat. Für einen guten Zweck.“

Sie überlegte eine Zeitlang und fuhr mir dabei mit dem Fingernagel über Hals und Mund.

„Was ist dann passiert?“, fragte sie.

„Wann?“

„Na ja, nachdem du im Krankenhaus warst.“

„Erst mal habe ich im Krankenhaus mit der Zeit jedes Mal die Hölle durchgemacht, wenn einer meiner Verwandten oder früheren Bekannten zu Besuch kam. Oder meine Freunde. Menschen, Menschen und noch mal Menschen, die die Geduld mit mir verloren. Nach dem Motto: Jetzt sind drei Wochen rum, jetzt hat er sich gefälligst zu erinnern. Irma, die ältere Krankenschwester, hat sie mir eine Zeitlang vom Hals gehalten, aber irgendwann musste ich ja raus aus dem Krankenhaus. Ich kam zur Schwester meines Vaters, und das war das absolute Desaster. Dasselbe Spiel wie vorher, ein paar Wochen Mitleid, dann Unverständnis. Sie wollten zum Beispiel einfach nicht begreifen, warum mich das Grab meiner Eltern und Brüder nicht im Geringsten interessiert hat. Sie standen jedes Mal heulend davor, die ganze Familie, musst du dir vorstellen, Eltern und zwei Kinder. Und ich stand daneben und langweilte mich. Ich fühlte nichts, mir war die ganze Sache nur peinlich. Die Namen auf dem Grabstein waren Fremde, die zufällig den gleichen Nachnamen hatten wie ich, ich konnte damit keinerlei Gefühl, Erinnerung oder sonst etwas verbinden. Namen auf Stein, mehr nicht. Das war zu viel für sie. Sie haben mich mit Photos genervt, mit Erzählungen, die wahnsinnig rührselig und unglaublich langweilig waren. Es tat mir leid, dass die Leute, von denen sie erzählten, tot waren, aber es hatte nichts mit mir zu tun.“

„Und? Haben sie sich irgendwann dran gewöhnt?“ Sie schloss die Augen und zog scharf die Luft ein, als meine Hand um ihren Oberschenkel nach innen glitt. „Verdammt, ich rede mit dir“, murmelte sie.

„Nein, sie haben sich nicht dran gewöhnt“, antwortete ich, ihren Einwurf ignorierend. „Irgendwann haben sie es aufgegeben. Sie haben mich so etwa zwei Jahre lang in der Familie herumgereicht. Ich entwickelte mich in der Zeit zu einem echten Arschloch. Aber sie gingen mir eben alle fürchterlich auf den Geist mit ihrem Getue. Am Ende habe ich Witze über den Unfall und den Tod meiner Familie gemacht, nur um sie zu ärgern. Dann, irgendwann, hatte ich sie mürbe gemacht. Ich bin zu fremden Pflegeeltern gekommen. Das war viel besser. Die hatten meine Eltern nicht gekannt und ließen mich damit in Ruhe, als sie merkten, wie ich drauf war. Von da an hatte ich eine schöne Jugend.“

Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.