Kitabı oku: «Der wandernde Krieg - Sergej», sayfa 4
„Schön, dich zu sehen“, sagte das Mädchen. Es hatte eine helle Stimme, und seine Freundlichkeit klang wie dünner Lack über einer tiefen Leere. Beide begannen gleichzeitig zu lächeln und entblößten blendend weiße Zähne. Sie kamen mir bekannt vor, aber ich war sicher, sie noch nie gesehen zu haben.
„Ja, ich freue mich auch“, versetzte ich. „Und jetzt trollt euch zu euren Eltern, ja?“ Ich blickte mich um, fürchtend, dass unser Beinahezusammenstoß mehr Aufmerksamkeit erregt hatte, als mir lieb sein konnte. Doch niemand achtete auf uns, es war, als würden die vielen Menschen um uns herum uns gar nicht wahrnehmen. Die Kinder sahen sich an, lachten in enervierend gleichem Tonfall und gingen Hand in Hand von dannen.
Ich hatte, entgegen meinen Befürchtungen, keine Probleme einzuchecken, hauptsächlich, weil Sandra ihre Sache großartig machte. Sie hatte ebenfalls ein Ticket gekauft und würde mit einer Maschine, die kurz nach meiner startete, nach London fliegen. Wir kamen beide fast zu spät zum Check-in, und sie lamentierte und zeterte dermaßen, dass der Grenzpolizist und seine Kollegin vom Flughafenpersonal glücklich waren, mich durchwinken zu können.
Das Flugzeug startete, und ich sah die Welt unter mir kleiner werden. Ich hatte das Fliegen immer gemocht, besonders Fensterplatz. Ich sah hinaus und hatte einen klaren Blick auf die Spielzeugwelt unter mir. Es war alles so klein und filigran. Ich legte die Hand ans Fenster. So winzig. So zerbrechlich.
Als könnte ich es alles mit einem Griff zerquetschen.
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Die Kinder standen auf der Aussichtsplattform des Flughafens und sahen dem startenden Flugzeug nach.
„Er ist fort“, sagte das Mädchen.
„Ja“, antwortete der Junge.
„Wir müssen es vorbereiten.“
„Ja. Vorbereiten. Und beobachten.“
„Wachsam sein. Tun, was getan werden muss.“
„Diesmal muss es gelingen.“
Sie fassten sich an den Händen und machten sich auf den Weg.
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Brief Erin Simpsons an Sonja von Tramp, 19.07.
Liebe, liebe, liebe Sonny,
noch mal ganz vielen Dank. Im Moment bin ich irgendwo über dem Atlantik, meine Uhr ist noch auf eurer Zeit, danach ist es jetzt Viertel vor acht.
Ich bin völlig durcheinander, Sonny. Was soll ich denn jetzt machen? Die ganzen letzten Tage habe ich nur gedacht, bloß weg hier, bloß weg aus Europa und so, aber jetzt, da ich wieder näher an zu Hause als an euch bin, weiß ich überhaupt nicht, was ich anfangen soll. Fletch wird mich in Columbus abholen, und was dann? Ich bin eine abgebrochene Studentin in Völkerkunde und Archäologie, spreche fließend Deutsch und Dänisch und kenne mich mit den alten Germanen aus. Ich habe nicht das Gefühl, dass man in Ohio auf so was gewartet hat. In GRIZZLAND, Ohio. Das ist ein Kaff, Sonny. Ich glaube, Fletcher ist nur dageblieben, um meine Eltern zu ärgern, und Jannice wegen Fletch. Ich wollte nie dahin zurück, nie, nie, nie. Ich sehe meinen Vater schon grinsen und höre meine Mutter predigen. FUCK! Lass dir eins sagen, Liebes, geh nie mit dem Lieblingsdoktoranden deines Profs ins Bett. Dieser widerliche kleine Schleimer, wie konnte ich nur? Fletch hat mir von Anfang an gesagt, dass er Dreck ist, und Fletch ist einen Ozean entfernt. Aber wer hört schon auf seinen kleinen Bruder?
So, was nun? Zu Hause müsste ich mit dem Studieren noch mal ganz von vorne anfangen, das kann ich vergessen. Mal sehen, vielleicht kann ich mit den Sprachen was machen. Haegen-Dasz-Eiscreme verkaufen zum Beispiel, ha, ha, ha. Oder ich gebe mich als Sauerkraut-Köchin aus und fange in einem deutschen Restaurant an. (Ich habe in den ganzen Jahren in Deutschland nie eine Einladung zum Sauerkraut bekommen, so achtet ihr auf eure Traditionen, schämt euch!) Na ja, wir werden sehen. Ich muss dir noch mal danke sagen. Du bist eine tolle Freundin. Ich wünsche dir alles Liebe und Gute und verspreche, bald wieder zu schreiben.
Love
Erin
P.S.: Es ist fast Mitternacht und ich liege in meinem Zimmer in Fletchs und Jans Haus. Mitternacht hier, bei dir müsste es schon wieder Morgen sein. Ich habe die Mutter aller Jetlags. Aber ich muss dir unbedingt noch schreiben, wie gut alles gelaufen ist. Sie waren beide in Columbus, sie haben sich beide einen freien Tag genommen. Sie waren wahnsinnig lieb und haben gar keine Fragen gestellt und haben einfach so getan, als würde ich gerade aus dem Urlaub kommen und hätte immer bei ihnen gewohnt.
Und es gibt drei tolle Sachen zu berichten:
1. Fletch hat mir einen Job besorgt. Er hat letzte Woche einen Deutschen erwischt, der zu schnell gefahren ist. DURCH GRIZZLAND!!! Ich dachte, das Ortsschild bremst jedes Auto automatisch ab. Na ja, jedenfalls war der Typ wohl total nett und Fletch hat sich gut mit ihm verstanden (trotz Strafe und allem). Der Deutsche, Dirk heißt er, ist dann in der Stadt geblieben, weil er es eigentlich gar nicht eilig hatte, und abends haben Fletch und er sich zufällig im Supermarkt getroffen, und Fletch hat ihn für den nächsten Abend eingeladen. Und als sie dann so da saßen und redeten, stellte sich heraus, dass Dirk Fotograf ist. In Europa wohl eine ziemlich große Nummer, und er sucht jetzt jemanden, der für ihn die Kontakte mit amerikanischen Agenturen macht und hier ein paar Dinge für ihn managt und so. Fletch hat ihn angerufen, sobald er wusste, dass ich zurückkomme, und ihm von mir erzählt, und Dirk meinte, das wäre gut, wenn ich so gut Deutsch könnte und mit meinen alten Kontakte von Getty, er hätte noch ein paar Kollegen, die ähnliche Probleme hätten wie er. Er will sich jedenfalls übermorgen mit mir treffen, und wenn ich mich nicht ganz blöd anstelle, kriege ich den Job mit Sicherheit, hat Jan gesagt. Hat manchmal seine Vorteile, wenn dein Bruder der Dorfbulle ist.
2. Jan ist schwanger. Ich werde Tante, hurra!!!!!!!!!!!!
3. Fletch hat meinen Eltern gesagt, wenn es ein Junge wird, wollen sie ihn Bart oder Homer nennen. Seitdem sprechen sie nicht mehr mit ihm. Es war eigentlich ein Scherz, wenn es ein Junge wird, soll er Carl heißen (was ich auch nicht besser finde als Bart oder Homer), aber Fletch meint, er sagt ihnen das erst, wenn sie wieder mit ihm sprechen.
Ich werde müde, Liebes. Vergiss mich nicht, ich vergesse dich auch nicht, und wir sehen uns bestimmt wieder.
Alles Liebe
Deine Erin
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Aus Recha Golds Tagebuch
Dienstag, 20. Juli, abends
Endlich komme ich mal wieder dazu, ins Tagebuch zu schreiben. Ich bin am Samstagmorgen in der Redaktion aufgewacht. Freitagabend war Stadtrat, Anhörung wg. neuem Industriegebiet, Anwohnerprotest etc., ging heiß her, und anstatt einfach nach Hause zu fahren, habe ich dumme Kuh gedacht, fahr eben noch in die Redaktion und schreib das auf.
Aufgewacht mit dem Kopf auf dem Schreibtisch. Ergebnis: Kopfschmerzen, Rückenschmerzen und ein Bericht, von dem ich nur die Hälfte verstehe, weil der Rest aus kryptischen Stichworten besteht. Scheiße. Recha, Recha, Recha, das ist es nicht wert. Memo: Ich will nicht, dass auf meinem Grabstein „Gestorben für die LNN“ steht. Ganz sicher nicht.
Den Rest vom Samstag habe ich gepennt. Ach nein, war abends in der Videothek. Gefunden: „Der Mann mit den zwei Gehirnen“. Sehr lustig. Trotzdem ist alleine DVDs gucken ziemlich doof.
Sonntag in der Redaktion den Artikel neu geschrieben. Gegen Mittag kam Schümer, das alte Arschloch, und ich bereute sofort, dass ich den Minirock anhatte. Er hat mich so schnell mit den Augen ausgezogen, dass ich mir am liebsten ein Handtuch umgewickelt hätte. BAH! BAH! BAH! Aber der Artikel ist gut geworden, hat selbst Schümer gefallen. Und er hat mich laaaaaaaaaaange gelobt. Und ich habe laaaaaaaaaaange in seinem Büro gestanden. In dem gaaaaaaaaaaanz kurzen Rock. Brrrrrrrrrrrrrr!!!
Später im Freibad gewesen mit Melanie. Abends noch mal „Der Mann mit den zwei Gehirnen“. Mit Melanie war er sogar doppelt so lustig.
Montag war Trubel in der Redaktion. Ein Irrer ist abgehauen, Samstag schon, oben im Münsterland oder so. Ziemlich hartes Kaliber, hat vor drei Jahren an die 20 Menschen ermordet, bevor sie ihn erwischt haben. Auf ziemlich eklige Art. War ein Photo dabei, sieht eigentlich ziemlich normal aus, total unauffällig, abgesehen von einer komischen Narbe auf der Stirn. Ich glaube nicht, dass ich ihn erkennen würde. Obwohl ich das Gefühl habe, dass ich ihn schon mal irgendwo gesehen habe. Aber das hat man bei diesem Typ Mann häufig. Außerdem war der Fall vor drei Jahren überall in der Presse, da habe ich bestimmt einige Photos gesehen. Wir hatten ihn natürlich in der Montagsausgabe, und jeder paranoide Arsch in Langenrath will ihn gesehen haben. Die meisten am Samstag, ein paar am Sonntag und ein ganz großes Genie schon am Donnerstag. Und wer darf all die treuen Leser und Abonnenten besuchen und sich die schizophrene Kacke anhören?
BINGO!
Als wenn das nicht genug wäre, haben sie mir heute Morgen noch ein Interview aufgebrummt. Montag hat jemand das Gut Neurath gekauft. Nach gottweißwievielen Jahren. Das war WIRKLICH eine Nachricht, die mich interessierte, vor allem, weil ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, wer den vermoderten Kasten noch haben will. Also bin ich rausgefahren und habe den Typ interviewt.
Ich habe noch nie einen so seltsamen Menschen getroffen. Ich weiß immer noch nicht, was ich von ihm halten soll. Er heißt Bodo von Reudh. Sagt er. Ich halte den Namen für falsch. Ich halte den ganzen Typen für falsch. Irgendwas stimmt nicht mit ihm, aber ich weiß nicht, was. Er stinkt aus jeder Pore nach Geld und ist von Beruf Sohn. Darauf läuft es hinaus, er murmelte etwas von großer Erbschaft, Traum seines Lebens etc. Will das ganze Gut renovieren und darin wohnen. Er tänzelte mit mir durch diese verkommene Wildnis, die er abwechselnd „Park“ und „Garten“ nannte, wie ein Royal mit der Starreporterin, und er wollte, dass ich denke, dass er sich auch so fühlt. Aber er hat mich die ganze Zeit beobachtet. Und abgeschätzt. Und ich hatte unter all der Freundlichkeit und herablassenden Jovialität das Gefühl, er überlegt, ob ich ein gutes Mittagessen abgebe. Er hat seltsame Augen. Und wenn er lächelt, kriege ich Panikattacken. Ich habe zwischendurch ehrlich überlegt, ob er wohl der irre Killer ist, aber das ist natürlich Quatsch, er sieht ihm nicht im Geringsten ähnlich. Und andererseits ist er dann wieder irrsinnig charmant. Ich habe gemerkt, dass ich ihm glauben will, alles glauben, seinen Namen, seine Erbschaft, dass er mich wirklich mag, all das. Ich wollte einerseits nur noch weg und andererseits die ganze Zeit neben ihm sitzen und ihm zuhören. So was habe ich wirklich noch nie erlebt. Ich war aber letztlich froh, als ich abhauen konnte, er verabschiedete sich mit diesem komischen Grinsen, und ich hätte schreien können.
Zurück in der Redaktion habe ich Gustav Wegner angerufen, den alten Hobbydenunzianten. Ich wollte mir mal ein paar Geschichten über den neuen Nachbarn anhören. Ich war sicher, dass Wegner ihn schon gesehen und begutachtet hatte. Hatte er auch, aber er hatte dermaßen viel Kreide gefressen, dass ich ihn kaum wiedererkannt habe. Wegner, der sonst versucht, jedes Kind anzuzeigen, das über seinen Rasen läuft, und regelmäßig in Leserbriefen gegen die Überfremdung von Langenrath wettert und überhaupt auf alles und jeden schimpft, erzählte mir so begeistert von dem „jungen Herrn von Reudh“ und den „großen Plänen, die er mit Neurath hat“ (von denen hatte der junge Herr mir nichts erzählt, und Wegner konnte mir auch nicht genau sagen, worum es geht), dass der Schleim fast aus dem Hörer tropfte. Ich werde dem jungen Herrn jedenfalls auf die Finger sehen. Bei Wegners Begeisterung und Wortwahl zieht der da womöglich irgendein Neonazi-Camp oder so was auf. Nicht mit mir!
Vorhin habe ich dann noch den letzten Paranoiker besucht, den, der den Irren schon am Donnerstag gesehen hatte. Eigentlich ein netter Kerl namens Andreas Wingfeld, so Anfang dreißig, sehr lieb und höflich, aber total durchgeknallt. Wie sich herausstellte, hatte er ihn nicht in natura gesehen, sondern in einem Traum. In dem Traum hat er Feuer gesehen und schreiende Menschen und Krieg und Blut und natürlich den Irren mittendrin, und die Menschen fielen tot um, wo er ging, und wo ging er? Klar: direkt durch Langenrath. Ich hörte mir den Mist eine Dreiviertelstunde an (kürzer ging nicht, er hatte Kaffee und Kuchen gemacht), verkniff mir, nach Hörnern, Schwänzen und Bocksbeinen zu fragen, und machte dann, dass ich wegkam. Jetzt wird erst mal geschlafen. Ich hoffe, ich kann mal wieder durchschlafen, aber ich befürchte, ich träume von meinen heutigen Begegnungen mit dem Irrsinn. Gute Nacht, Tagebuch.
Das war WIRKLICH eine Nachricht …
Auch Werner Harnischfeger hielt den Namen Bodo von Reudh für falsch. Aber das hatte ihn nicht interessiert, als er dem Mann das Gut verkauft hatte. Und es interessierte ihn immer noch nicht. Das hier, so spürte er, war etwas Größeres. Und er würde ein Teil davon sein.
Das Gut hatte der Stadt gehört – oder besser: Die Stadt hatte sich darum gekümmert. Denn die wirklichen Besitzverhältnisse waren unklar und waren es immer gewesen. Das Gut war da gewesen, egal, wie weit sich die Bewohner der Stadt zurückerinnerten, aber wer war der Besitzer? Es gab keine Unterlagen darüber. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sich britische Soldaten dort einquartiert. Danach hatte eine Weile ein Mann dort gewohnt, der sich als „Verwalter“ bezeichnet hatte. Die Älteren erinnerten sich an die hagere, kahlköpfige Gestalt, die ihnen als Kindern Angst eingejagt hatte und beliebter Bösewicht ihrer Detektivspiele gewesen war. Der Verwalter hatte immer klargemacht, dass er nicht der Besitzer des Gutes war, aber vorgegeben, in dessen Namen zu handeln. Und da er das große Anwesen in Ordnung hielt und – abgesehen von der Abneigung, die er in den Kindern weckte – auch keinen Anlass zur Klage gab, ließ man ihn gewähren. Die örtlichen Handwerker, denen er hier und da Aufträge gab, berichteten von einem wortkargen Arbeitgeber, der pünktlich und anstandslos zahlte. Und darauf kam es ja schließlich an.
Dann, zu Beginn der 70er Jahre, war der Verwalter plötzlich verschwunden. Stattdessen war eine Familie in das Gut gezogen, ein Paar mit zwei Kindern im Teenageralter. Die Leute hießen „von Eden“, und man nahm allenthalben an, dass sie die Besitzer des Gutes und geheimnisvollen Chefs des Verwalters waren. Sie verließen das Gut kaum. Manchmal sah man die Teenager über die Felder zwischen Langenrath und Solingen spazieren, die Eltern bekamen die meisten Neurather nie zu Gesicht. Wer sie aber sah, der fühlte ein starkes Unbehagen. Die von Edens, Eltern wie Kinder, sahen aus wie falsch zusammengesetzt, ohne dass jemand hätte sagen können, was da falsch gewachsen war.
Bevor aber die Menschen herausfinden konnten, ob es außer der Hässlichkeit ihrer neuen Nachbarn auch einen handfesten Grund für ihre Verunsicherung gab, waren die von Edens ebenfalls verschwunden. Gehört hatte ihnen das Gut, so stellte sich bald heraus, genauso wenig wie dem Verwalter oder irgendwem sonst. Seither hatte das Anwesen leer gestanden. Werner Harnischfeger war Spross einer alten Langenrather Familie. Ende der 1970er Jahre war er, nach erfolgreichen Lehr- und Wanderjahren in Hamburg und Düsseldorf, zurückgekehrt, hatte ein schmuckes, aber nicht zu auffälliges Haus in Neurath gekauft und sich als Immobilienmakler niedergelassen. Um den wirtschaftlichen Erfolg in der alten Heimat nicht dem Zufall zu überlassen, war er schnell Mitglied der CDU, des Neurather Männergesangsvereins und der örtlichen Jägerschaft geworden. Nun fehlten nur noch Frau und Kinder.
Jahre später war Harnischfeger immer noch alleinstehend und kinderlos, der Rest des Lebensplans aber war aufgegangen. Die Geschäfte liefen gut, vor einigen Jahren hatte er einem Konkurrenten und Parteifreund, der in den Ruhestand ging, die Kundenkartei und alle Kontakte abkaufen können. Das hatte ihn zum wichtigsten Immobilienhändler der Stadt gemacht. Mehrere Angebote, sich aussichtsreich um einen Posten in der Kommunal- oder gar der Landespolitik zu bewerben, hatte er abgelehnt. In seiner Branche war das entweder schlecht fürs Geschäft oder – wenn es gut fürs Geschäft war – mit Gerüchten und Anschuldigungen verbunden. Er hatte herausgefunden, dass er bodenständig war, die Anerkennung der Sängerfreunde und Jagdkameraden war ihm wichtig, dafür verzichtete er gerne auf Ämter und noch mehr Geld. Er hatte sowieso mehr, als er ausgeben konnte. So galt Werner Harnischfeger als ehrlicher und heimatverbundener Geschäftsmann. Und es war kein Wunder, dass ein paar Parteifreunde, die in der Stadt Strippen zogen, eines Tages zu ihm kamen und ihn mit dem Problem des Gutes Neurath vertraut machten. Sein Auftrag war, den Kasten bestenfalls zugunsten der Stadt zu verkaufen, andernfalls so weit wie nötig zu verwalten und ansonsten Stillschweigen über die undurchschaubaren Besitzverhältnisse zu wahren. Offizielle Haltung war, dass die Briten das Gut seinerzeit in Besitz genommen und danach der Stadt übereignet hatten. Wer sollte etwas anderes beweisen? So waren die Jahre verstrichen. Kurz vor der Jahrtausendwende hatte Harnischfeger sein Maklerbüro verkauft, an einen Verwandten des Mannes, von dem er selbst es einst erworben hatte. Nur einige ganz wenige Spezialaufgaben und besondere Kunden hatte er stillschweigend behalten, darunter die Sorge für das Gut, mehr seinem alten Versprechen und der Diskretion verpflichtet als irgendeiner Hoffnung, es je loszuwerden.
Und dann war, am Samstagnachmittag, dieser Mann in sein Büro spaziert. Eigentlich brauchte Werner Harnischfeger kein Büro mehr, doch er unterhielt es weiterhin, zwei kleine, aber repräsentative Zimmer am Langenrather Marktplatz. Das wirkte seriöser, außerdem fiel ihm hier die Decke weit weniger schnell auf den Kopf als in dem Haus in Neurath. Das mit der Familie und so weiter hatte sich nie ergeben. Hier war mehr Leben: Hin und wieder schaute einer seiner diskreten Klienten vorbei, und er hatte eine Assistentin, eine tüchtige junge Frau aus Neurath, Shazi Aydin. Shazis älterer Bruder war Kriminalpolizist und tauchte als solcher zuweilen in der Zeitung auf. Die positive Prominenz, die auf seine Schwester abstrahlte, war ein Grund, aus dem Werner Harnischfeger sie eingestellt hatte. Kontakte zur Polizei konnten nie schädlich sein. Außerdem war Shazi bei den Grünen, und da Langenrath neuerdings von Rot-Grün regiert wurde, konnte es nicht schaden, mit einer von denen auf gutem Fuß zu stehen. Jäger, Sänger … er wollte nicht in den Ruch geraten, ein verbohrter Konservativer zu sein.
Shazi hatte jedoch samstags frei, und theoretisch war auch ihr Chef am Wochenende nicht im Büro. Praktisch war er es immer, und ob Bodo von Reudh das nun gewusst oder erfragt hatte – er war sofort vom Gut aus hierhergekommen. Als er das Büro betreten hatte, hatte Werner Harnischfeger etwas gefühlt, einen gewaltigen Schub. Eben noch hatte er trüben Gedanken nachgehangen, über das Alter und die Einsamkeit. Er war so kurz davor, sich Sinnfragen zu stellen, wie sonst nur an Weihnachten und auf Beerdigungen. Doch als er dem Fremden die Tür geöffnet hatte, war plötzlich alles gut gewesen. Gut und einfach. Alles würde gut werden. Er war doch ein Mann im besten Alter, erfolgreich, gut vernetzt. Warum sollte er nicht mehr attraktiv sein? Und er konnte gewiss noch erfolgreicher sein. Er hatte sein Geschäft verkauft, aber mit dem, was er behalten hatte, konnte er noch einmal so richtig durchstarten. Wenn er seine Karten richtig ausspielte. Und die erste Karte würde das Gut sein, das wusste er, bevor der Fremde, der sich als Bodo von Reudh vorstellte, auch nur ein Wort davon gesagt hatte. Harnischfeger nahm seinen Gast wie von fern wahr. Da waren warme Worte, kluge Augen und ein gewinnendes Lächeln. Der Fremde sprach vom Gut und von Papieren, und tief in Werner Harnischfeger schrie etwas auf, etwas sehr Altes, das ihn warnte, das ihm klarmachen wollte, dass er hier und jetzt eine Entscheidung treffen musste und dass diese Entscheidung nicht einfach war. Nicht einfach sein durfte. Er überhörte diese Stimme lächelnd und zog die Papiere aus dem Umschlag, den er ganz hinten im Tresor aufbewahrt hatte. Alles war vorbereitet, er konnte sich gar nicht erinnern, dass er es so genau vorbereitet hatte. Nur ein paar Formalitäten am Montag, dann wäre Bodo von Reudh Besitzer des Gutes und die Stadt Langenrath wäre um einen guten Batzen Geld reicher, ebenso wie der Makler selbst.
Keine zehn Minuten, nachdem er das Büro betreten hatte, war Bodo von Reudh wieder draußen. Dachte Werner Harnischfeger. Seine Uhr sagte etwas anderes – sie behauptete, dass Stunden vergangen seien. Er trat ans Fenster und schaute in die Dämmerung. Wie die Zeit verging. Werner Harnischfeger lächelte die Dämmerung an.
Nun war es Dienstag. Werner Harnischfeger stand immer noch lächelnd am Fenster. Irgendwann hatte er Shazi angerufen und ihr den Anfang der Woche freigegeben – bezahlt, selbstverständlich. Er hatte getrunken. Er hatte gegessen. Er hatte alle körperlichen Notwendigkeiten erledigt, wie in einem Rausch. Die meiste Zeit aber hatte er hier am Fenster gestanden. Etwas Großes würde passieren. Und er würde Teil davon sein. Werner Harnischfeger hatte seine Entscheidung getroffen. Und weil er das getan hatte, würde er in nur zweieinhalb Jahren sterben, in einer kalten Nacht unter den Reifen eines Pick-ups, mit seiner Schrotflinte in der Hand. Jetzt aber lächelte er. Ja, es gab Neuigkeiten. Gute Nachrichten. Alles würde gut sein.