Kitabı oku: «Der wandernde Krieg - Sergej», sayfa 7
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Aus Recha Golds Tagebuch
Samstag, 1. Juli
Ich hatte Recht. Mit beidem. Oh Gott, was geht hier vor?
Vorgestern Abend habe ich die Meldung mit dem Hund gefunden. Es ist im März 2005 passiert, wie ich gedacht habe, aber es war erst im Mai im Blatt, weil man ihn da erst gefunden hat. Als ich es gelesen habe, habe ich mich sogar daran erinnert. Ich war damals ziemlich geschockt gewesen. Irgendein krankes Arschloch hatte das Tier, einen Golden Retriever, in der Mitte aufgeschnitten und sämtliche Eingeweide rausgenommen. Und ihn dann mit roten Plastikrosen gefüllt und wieder zugenäht. War bei uns nur eine kleine Meldung, vor allem weil wir den zahlenden Kunden die ekligen Einzelheiten lieber nicht auftischen wollten. ALLES wollen die auch nicht wissen. Ich habe dann ein bisschen rückwärts recherchiert. Mitte und Ende März hatten wir eine Anzeige drin. Einer Familie war ein Hund namens Bobby weggelaufen. Dachten sie. Ein Golden Retriever. Ich denke jetzt, dass Bobby der Anfang der Serie war. Dann kam der kleine Junge, dann der Mann, dann die Frau in Opladen, dann die Dietrich-Zwillinge. Ich habe noch einmal zurückgeblättert – es passt zu dem Traum.
Und jetzt ist wieder etwas passiert, das dazu passt. Wieder ein Mord.
Sie haben ein Pärchen gefunden, im Block. Ein Mann und eine Frau aus Köln, Mitte zwanzig beide, seit vorletzter Woche vermisst gemeldet. Man hat sie stranguliert, vermutlich mit ihren eigenen Gürteln. Sie sind beide vorher vergewaltigt und im Gesicht verstümmelt worden. Wieder ganz anders als die anderen fünf. Wenn ich damit zu Schümer gehe, hole ich mir nur wieder eine Abfuhr, also lasse ich es besser. Und recherchiere noch etwas auf eigene Faust, inzwischen habe ich ja eine Menge Kontakte. Die Gerichtsmediziner meinen, dass die beiden wahrscheinlich vor etwa zehn Tagen ermordet worden sind. Das würde passen mit dem 21. Juni. Und sie sind auch nicht dort ermordet worden, wo man sie gefunden hat, sondern nachträglich dahin gebracht worden.
Wie die anderen.
Wie gesagt, es gibt ein paar Gemeinsamkeiten, wenn man sie sehen will. Auch das mit den Verstümmelungen. Wenn man es so sehen will.
Ich bin immer noch nicht sicher, ich habe das Gefühl, ich biege mir das alles zurecht. Und andererseits WEISS ich, dass ich Recht habe. Ich weiß es. Ich will es nur nicht wissen. Und es passt zu dem Traum, oder?
Der verdammte Traum. Nach den Zwillingen kam ein Paar, das sich an den Händen hielt, und das habe ich VORHER geträumt.
Zufall? Ist das Zufall? Drehe ich durch?
Irgendwas stimmt hier nicht. Bloß – WAS stimmt nicht?
Das Nächste wäre, nach dem Traum, wieder ein Paar, und dann ein Mädchen und ein Baby.
Oktober und Dezember.
Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich habe das Gefühl jemanden warnen zu müssen, aber was soll ich sagen? Ich habe geträumt, dass im Oktober der nächste Mord geschieht? Ich wäre nicht die Erste, die auf diese Art im Irrenhaus landet. Am Ende bin ich dann verdächtig. Oh Gott, ich habe keine Ahnung, was ich tun soll, und ich habe niemanden, dem ich mich anvertrauen kann. Ich habe mich noch nie so alleine gefühlt.
Sonntag, 2. Juli, 2.45 Uhr nachts
Ich konnte nicht mehr, also habe ich Hannah angerufen. Vor drei Stunden. Schwesterlein war sehr verständnisvoll, vor allem für diese Uhrzeit. Und sie fand mich gar nicht so dumm, wie ich mir vorkomme. Sie hat mir Mut gemacht, gesagt, ich soll da weitermachen. Sie kennt einen von den Polizisten, die bei den Dietrich-Zwillingen ermittelt haben. Ermitteln, ist ja noch nicht aufgeklärt. Kriminalirgendwaskommissar Schneider. Das muss der sein, der nie zu sprechen war. Die haben damals ziemlich gemauert. Wie hieß noch der andere. Irgendwie türkisch, mal nachsehen. Genau: Kriminalkommissar Hakan Aydin. Und sein Kollege heißt Marco Schneider. Pressefreundlich wie der Kreml. Aber Hannah sagt, wenn ich ihr den Bericht über die Riverboat-Shuffle der Polizei abnehme, legt sie ein gutes Wort für mich ein. Deal.
Und sie hat gesagt, ich soll das mit dem Dämon namens Reudh vergessen. Der sei kein Dämon, nur ein Arsch. Hat sie wohl Recht.
Recha muss ins Bett. Aber Recha geht’s jetzt besser. Gute Nacht, Tagebuch.
8
Als Volker Hye am frühen Nachmittag nach Hause kam, trug er in jeder Hand eine schwere Plastiktüte. Pfeifend schloss er die Haustür auf, nahm die Plastiktüten wieder auf, federte die drei Stufen zu seiner Wohnungstür hinauf, setzte die Tüten wieder ab, steckte den Schlüssel ins Schloss und hielt einen Moment inne. Dies würde ein schöner Abend werden! Genau wie gestern. Er drehte den Schlüssel im Schloss, der Riegel rastete aus, er nahm die Plastiktüten auf und wollte die Tür mit dem Fuß weiter aufdrücken. In diesem Moment wurde sie von innen aufgerissen, ein Arm schoss heraus, packte ihn an der Jacke und zog ihn herein. Er stolperte über die Schwelle, die Tüten fielen ihm aus den Händen, und er selbst flog hinterher, als ihm die Beine weggetreten wurden. Er hörte die Tür ins Schloss fallen. Er wollte sich aufrappeln, aber etwas Schweres traf ihn in die Rippen und raubte ihm die Luft. Dann packte ihn jemand an den Haaren und riss seinen Kopf zur Seite. Die letzte Information, die an sein Hirn gelangte, bevor es Nacht um ihn wurde, war, dass eine Gemüsezwiebel an seinen Augen vorbeirollte. Und dass er hart am Hals getroffen wurde.
Er wachte auf und tauchte in ein Bad aus Schmerzen. Seine Rippen schmerzten. Auf der linken Seite. Himmel, das würde einen riesengroßen blauen Fleck geben. Was würde Karin dazu sagen? Karin. An Karin denken. Karin …
Aber die Schmerzen. In den Armen. Seine Arme waren an seinem Kopf vorbei nach hinten gestreckt. Er konnte sie ein wenig bewegen, aber das tat weh. Seine Beine taten auch weh. Und es war feucht unter seinen Knien. Ja, an den Knien war es besonders schlimm. Er versuchte, die Beine anzuziehen, sich ein wenig zusammenzurollen, aber das ging nicht. Seine Beine machten einfach nicht, was er wollte. Sie zuckten nur ein paar Zentimeter nach oben und fielen wieder hinunter. Und es tat weh. So weh.
„Ich habe die Sehnen in deinen Kniegelenken durchschnitten. Deshalb kannst du die Beine nicht bewegen.“
Er öffnete die Augen und war erleichtert. Es war nur wieder der Traum. Realistischer als sonst vielleicht, aber der Traum. Er saß in der Diele seiner Wohnung, seine Hände nach hinten gefesselt, an die Heizung. Unter seinen Beinen war Blut. Ihm gegenüber an die Wand gelehnt, die Beine leicht angewinkelt, die Füße neben seinen blutenden Knien, saß der Tod und sah ihn an.
Der Tod sah ein wenig anders aus als sonst in seinen Träumen. Er war wie immer ganz in Schwarz gekleidet, aber er trug einen Mantel, keinen Umhang. Und er hatte auch keinen Totenschädel. Sein Gesicht war schmal und blass, und anstelle der Kapuze hatte er schwarze Haare. Einige Strähnen fielen ihm auf die bleiche Stirn. Der Tod strich sie zurück und Volker sah, dass sich über die Stirn eine hässliche Narbe zog. Aber es war der Tod. Und seine Sense war anders als sonst in dem Traum. Sie war ganz, ganz klein. Er hielt sie in der Rechten und spielte mit dem Zeigefinger der Linken leicht an der Oberseite des rechteckigen Sensenblattes. Das Sensenblatt funkelte im Sonnenlicht, das durch das Küchenfenster und die offene Küchentür hereinfiel. Der Tod hatte keine Knochenhand, sondern lange, schlanke Finger. Das konnte Volker trotz der dünnen, schwarzen Lederhandschuhe sehen. Sein Blick wanderte an der Gestalt entlang, über die langen Beine, die in einer schwarzen Cargo-Hose steckten, zu den Füßen. Halbhohe Schuhe. Schwarz. Der Tod trug Reeboks.
„Sieh mich an.“
Er hob den Blick und sah dem Tod in die Augen. Das war der größte Unterschied. Sonst hatte der Tod ihn immer aus leeren Augenhöhlen angesehen, kurz bevor Volker mit einem Schrei erwacht war. Diesmal sah der Tod ihn aus harten Augen an, die wie heiße, schwarze Steine in dem blassen Gesicht brannten. Und Volker erwachte nicht.
„Weißt du, wer ich bin?“
Er wollte nicken, aber seine Halsmuskeln schmerzten auch höllisch. Er schloss die Augen und versuchte den Schmerz ein wenig wegzuatmen. Karin hatte ihm doch gestern etwas von Atemtechnik erzählt. Nachdem sie sich geliebt hatten. Sie hatten beide gelacht. Den Schmerz wegatmen …
Es klappte ein kleines bisschen. Er öffnete die Augen wieder. Der Tod sah ihn immer noch an. Ausdruckslos.
„Du bist der Tod.“
Eine Empfindung schien sich in das Antlitz des Todes zu stehlen. Irgendetwas zwischen Belustigung und Erstaunen.
„Nicht eigentlich richtig, aber auch nicht ganz falsch.“ Die Finger der linken Hand klopften auf dem kleinen Sensenblatt einen unhörbaren Rhythmus.
Der Schmerz kam zurück in Volker Hyes Welt, wie dicker, bunter Morast von allen Seiten. Er begann, darin zu versinken. Irgendwie hatte das mit der Atemtechnik doch nicht geklappt. Er lieferte sich dem Schmerz aus, und ein Schleier legte sich über seine Sinne. Er schloss die Augen. Bald würde er ganz in diesem zähen Schlamm aus grellen Farben der Qual versunken sein, er würde wieder schlafen. Und dann würde er wieder aufwachen. War dies die Nacht von Freitag auf Samstag? Hatte er den ganzen Tag geträumt? Würde er vielleicht aufwachen und Karin würde noch neben ihm liegen? Der Abend war kein Traum gewesen, das wusste er. Aber vielleicht war sie gar nicht gefahren, vielleicht hatte er von da an geträumt. Dann wäre sie noch da, er würde sich krankmelden, er war ja sonst nie krank, und sie hätten den ganzen Tag für sich, nur sie beide, sie würden …
Ein anderer Schmerz, heiß, scharf, hart und präsent, holte ihn aus den Gedanken und vertrieb den saugenden Morast für einen Moment. Er hörte das Klatschen verspätet, seine linke Wange brannte. Er riss die Augen auf. Der Tod lehnte sich gerade wieder zurück in seine alte Position.
„Bleib bei mir, mein Freund.“
„Ich will schlafen“, sagte Volker leise, „nicht mehr träumen. Karin …“
„Du träumst nicht“, sagte der Tod.
„Bist du gekommen, um mich zu holen?“
„Ja.“
Volker lächelte. Natürlich. Der Tod mochte anders aussehen, aber es war immer dasselbe. „Immer derselbe Traum“, flüsterte er.
Der Tod lächelte, hob den rechten Fuß und ließ die Ferse mit Wucht auf Volkers Schienbein fallen. Der Schmerz raste an seinem Bein hoch, und mit Urgewalt donnerte er durch seinen Körper. Volker warf den Kopf nach hinten, aber aus seiner trockenen Kehle kam nur ein Keuchen.
„Fühlt sich das wie ein Traum an?“, fragte der Tod, immer noch lächelnd.
Volker nahm ihn durch einen Schleier aus Tränen wahr. Aber er würde sich nicht täuschen lassen. Er hatte das sichere Gefühl, dass alles gut würde, wenn er nur weiter daran festhielt. „Traum“, keuchte er, „nur ein Traum.“
Der Tod schüttelte nachsichtig den Kopf und verzichtete auf weitere Überzeugungsversuche.
„Wie du meinst.“ Er spielte mit der kleinen Sense und sah irgendwie nachdenklich aus. Er schien auf etwas zu warten. Volker dachte ebenfalls nach. In keinem der Träume bisher hatte er sich mit dem Tod unterhalten. Er hustete trocken, und natürlich tat es weh. Alles tat weh.
„Warum träume ich … immer … von dir.“
Der Tod legte den Kopf schief und schaute ihn freundlich und nachdenklich an.
„Ich weiß nicht, warum du von mir träumst. Ich kann dir nur sagen, warum ich hier bin.“
„Ja. Bitte.“
Der Tod legte die kleine Sense neben sich. Dort lagen, wie Volker jetzt erst sah, auch ein Hammer und mehrere große Stahlnadeln mit runden Köpfen. Der Tod rieb sich das Kinn und sah fast aus wie ein Freund. „Erinnerst du dich an den Zirkel?“
Der Zirkel. Das war es also. Musste er jetzt doch noch dafür büßen? Wie all die anderen? Er konnte sich kaum noch dieser Zeit entsinnen, alle Erinnerungen lagen wie hinter einer großen Gummiwand. Ein Mann war in die Stadt gekommen. Ein faszinierender Mann, mit großen Ideen. Eine neue Welt. Und er hatte dabei sein dürfen. Bis dahin war er ein Nichts gewesen, keine Freunde, keine Frauen, kein Job. Er hatte bei seinen Eltern gewohnt. Dann waren sie gestorben, kurz nachdem der Mann in die Stadt gekommen war. Er hatte sich gänzlich verloren gefühlt, alleine auf der Welt, und ER war zu ihm gekommen und hatte sich seiner angenommen. Ihn aufgebaut. Ihm gesagt, dass er ein guter Mann sei. Ein starker Mann. Was für eine wichtige Rolle er in seinen Plänen spielen würde. ER hatte ihn in den Zirkel aufgenommen. Was hatten sie gemacht, in dem Zirkel? Es war groß gewesen und wichtig, das wusste er noch. Sie hatten jemanden gesucht. Wen? Er wusste es nicht mehr. Hatten sie ihn gefunden? Ja, sie hatten ihn gefunden. Und dann hatte ER ihnen gesagt, sie sollten zu der Frau gehen. Sie waren zu der Frau gefahren. Aber dann war ihm klar geworden, was die anderen mit der Frau machen wollten, und je weiter sie sich von dem großen Haus entfernten, in dem ER gewohnt hatte, desto irrsinniger war ihm alles vorgekommen. Volker hatte gesagt, sie sollten ihn rauslassen, er müsse mal pinkeln. Er hatte sich versteckt und sie hatten ihn nicht lange gesucht, die Zeit war knapp gewesen … Er hatte überlegt, ob er die Frau anrufen, sie warnen sollte, aber er hatte es gelassen. Er wollte nichts mehr damit zu tun haben. Und er fürchtete SEINEN Zorn.
Er hatte sich bei seiner Schwester versteckt. In München. Der Tod der Frau war durch alle Medien gegangen.
Bald war Volker mit gestärktem Mut zurückgekehrt, der Gedanke an IHN und den Zirkel schien verblasst, mit dem Mord hatte er nichts zu tun. Mit dem Geld, das seine Eltern ihm hinterlassen hatten, kaufte er sich eine gute Wohnung. Er fand gute Arbeit. Alles wurde gut. Nur am Rande bekam er mit, dass ein Mitglied des Zirkels nach dem anderen ermordet wurde. Es geschah ihnen recht, fand er. Warum hatten sie der armen Frau das auch angetan. Er jedenfalls wollte nichts mehr damit zu tun haben. Dann wurde der Mann gefasst, der die Mitglieder des Zirkels umgebracht hatte. Es war der Ehemann der Frau gewesen. Der Mann kam in eine Anstalt, hauptsächlich, weil ihm niemand die Sache mit dem Zirkel glaubte. Und er war wohl auch sehr grausam gewesen. Volker hätte das aufklären können, aber wozu. Er hatte nichts mehr damit zu tun. War der Mann nicht vor ein paar Jahren aus der Anstalt entwischt? Ja genau, während eines Brandes …
„Ich sehe, du erinnerst dich“, sagte der Tod sanft.
Er schaute auf und erschrak. In den Augen, die eben noch fast freundlich gewesen waren, lag nun nichts als Grausamkeit. Der Frost, der von ihnen ausging, brannte quälender als die Schmerzen.
„Ich hatte nichts damit zu tun“, entfuhr es ihm.
Der Tod lächelte ein schmales Lächeln.
„Das höre ich immer. Immer und immer und immer. Ihr wart sechsundzwanzig. Davon siebzehn Männer. Zwei haben sich, nach allem, was ich weiß, zumindest etwas – zurückgehalten. Glaubst du mir, dass alle diese beiden sein wollten?“
Wovon sprach er? Langsam dämmerte es Volker. Es ging um die Frau. Er sah seine Chance. Wenn er den Tod überzeugen konnte.
„Ich war nicht dabei“, flüsterte er. „Ich bin vorher abgehauen.“
Ein Anflug von Menschlichkeit kehrte zurück in das Antlitz des Todes. Eine winzige Spur. Nachdenklichkeit. Der Tod sah ihn lange an.
„Das könnte sogar stimmen“, sagte er schließlich. „Es gab immer ein paar lose Enden.“
Mit einer plötzlichen Bewegung schnellte der Tod hoch, ging vor Volker in die Hocke, packte dessen Kinn und zwang das Gesicht nach oben. Schmerzen. Schmerzen. Der Tod brachte sein Gesicht ganz nah an Volkers, und sein Blick floss in ihn und fraß in ihm, in seiner Seele und seinem Herzen. Er dachte wieder an Karin. Wenn er nur aufwachte …
Der Tod ließ das Gesicht los und stand auf.
„Ich glaube dir.“
Volker sah ihn an. „Werden die Träume jetzt aufhören?“
Der Tod hatte ihm den Rücken zugedreht, hob die Nadeln auf, zog ein Futteral aus der Tasche, legte die Nadeln hinein und steckte sie weg. Dann hob er den Hammer auf und ließ ihn in der Manteltasche verschwinden. Zuletzt nahm er die ganz kleine Sense und drehte sich wieder um.
„Ja, das werden sie.“ Der Tod ging wieder vor ihm in die Hocke.
„Du musst wissen“, sagte der Tod, und etwas von der Kälte war verschwunden, „dass du trotzdem schuldig bist. Du hast dem Zirkel angehört. Nichts kann dich retten. Aber es wird schnell gehen. Das ist mein Geschenk für dich. Weil du nicht Hand an sie gelegt hast. Mehr kann ich nicht für dich tun.“
Volker nickte ergeben. Gleich würde der Traum vorbei sein. Der Tod packte Volkers Haare, zog den Kopf nach hinten und zog langsam und kraftvoll die ganz kleine Sense über den offenliegenden Hals. Es tat fast gar nicht weh. Etwas Warmes begann aus dem Hals zu fließen. Und zu spritzen. Der Tod sah ihm noch einmal in die Augen. Ja, da war Menschlichkeit in den schwarzen Steinen. Ein wenig. Fast nichts.
„Dies“, sagte der Tod langsam, und jedes Wort wurde Gewissheit, „ist kein Traum.“
Und während der Tod sich abwandte, spülte die Verzweiflung der Erkenntnis Volker Hye fort. Kein Traum. Kein Traum. Alles verloren. Nichts würde gut werden. Karin, Karin, Karin, Karin …
Das Dunkel erreichte ihn gnädig schnell. Sein Kopf fiel zur Seite, und das Letzte, was er sah, war die große Gemüsezwiebel.
Gemüsezwiebeln.
Er musste Karin die Gemüsezwiebeln bringen.
Heute Abend wollte sie für ihn kochen.
Er hatte die Zutaten gekauft.
Sie wollte kochen.
Für ihn.
Heute.
9
E-Mail Erin Simpsons an Sonja von Tramp, 1. Juli
Hi Sonny!
Vielen Dank für das liebe Angebot, aber ich kann heute leider nicht. Ich gehe heute Abend mit meinen neuen Kollegen essen! Die Firma bezahlt – das heißt Dirk, mein Chef. Obwohl er gar nicht da sein wird, er ist immer noch in den Staaten. Aber die anderen sind auch alle ganz nett. Ich freue mich schon darauf.
Ich rufe morgen mal an, vielleicht machen wir ja dann was zusammen.
See you
Erin
10
Die Jagd war vorbei. Für dieses Mal. Ich saß vor dem Metzger und wartete, bis er tot war. Es war ein gutes Gefühl zu sehen, wie ein weiterer Teil des Zirkels verging. Sie alle hatten gewusst, was ihnen geschah, warum und von wem. Sie hatten an eine Macht geglaubt, die sie beschützte, und hatten erleben müssen, dass es keinen Schutz gab. Diese Momente waren meine größte Befriedigung. Die Schreie um Hilfe, die niemals gehört wurden. Die Reue, die keine Erlösung brachte, die Reue aus entsetzlichster Verzweiflung. Ihre sterbenden, verzweifelten, gebrochenen Augen brachten mir Ruhe.
Die Jagd bedeutete Lust.
Der Tod bedeutete Friede.
Der Metzger hatte die Wahrheit gesagt. Er war nicht dabei gewesen, er hatte Sarah nie gesehen. Das hatte ihm meine Fragen erspart und meine Wut. Er hatte dem Zirkel angehört, er hatte an den Ritualen teilgenommen, er hatte an der Suche teilgenommen. Aber in der letzten Sekunde hatte er den Mut gehabt, dem Zirkel den Rücken zu kehren. Wäre es nach ihm gegangen, das hatte ich erkannt, hätten sie sie verschont. Und aus diesem Grund hatte ich ihn ebenfalls verschont. Natürlich musste er sterben. Aber eine andere Qual als die Gewissheit wollte ich ihn nicht erdulden lassen.
Als er tot war, stand ich auf. Ich hatte sorgfältig darauf geachtet, sauber zu bleiben, und ich musste einige komische Verrenkungen machen, um jetzt nicht in eine der Blutlachen zu treten, die der Teppich nicht mehr aufsaugen konnte. Ich ging ins Bad, wusch das Rasiermesser gründlich ab, rieb es trocken und steckte es in die Manteltasche. Dann ging ich ins Wohnzimmer, um meine Tasche zu holen, in der sich neben meinem Fernglas auch Kleidung zum Wechseln befand. Ich hatte nicht mit dieser Entwicklung gerechnet, normalerweise gelang es mir nicht, ein Treffen mit einem Mitglied des Zirkels abzuschließen, ohne mich schmutzig zu machen. Gut, die Handschuhe hatten etwas abbekommen, aber das war nicht zu vermeiden. Ich steckte gerade die Handschuhe in die Tasche, als das Telefon klingelte. Ich ging langsam zu dem Tisch hinüber. Nach dem dritten Klingeln sprang der Anrufbeantworter an. Der Metzger nannte seinen Namen, erklärte, dass er im Moment verhindert sei – was zweifelsohne zutraf –, und bat, eine Nachricht zu hinterlassen, er würde bald zurückrufen. Das wiederum war zweifelsohne falsch. Das konnte allerdings die Besitzerin der Frauenstimme nicht wissen, die nach dem Pfeifton zu sprechen begann. Sie nannte sich Karin, gurrte und lachte, erklärte dem Metzger, dass sie den Abend kaum erwarten könne und dass sie sich auf ihn freue und so weiter, und so weiter. Und natürlich erklärte sie zum Schluss, wie sehr sie ihn liebte. Ich vermutete, dass es die Frau von gestern Abend war, mehrere traute ich dem Metzger nicht zu. Fast tat mir diese Frau namens Karin leid. Andererseits – sie würde etwas Besseres finden.
Ich wollte mich gerade vom Schreibtisch abwenden, als mein Blick auf ein kleines Holzkästchen fiel, das neben dem Telefon lag. Ein geschnitzter Würfel aus dunkelbraunem Holz, vielleicht zehn Zentimeter Kantenlänge. Das Kästchen war es, das mich angezogen hatte, nicht das Telefon. Ich spürte den heftigen und irrationalen Wunsch, es an mich zu nehmen, wie etwas, das ich lange vermisst und endlich gefunden hatte. Ich hob es auf und betrachtete es verwundert. Es war rundum mit vielen geschnitzten Mustern verziert, ineinander verschlungene Bänder, etwas, das wie fremdartige, gekreuzte Schwerter aussah, Kronen, Sterne, einige der Muster erinnerten an Schachfiguren, Pferde, Türme, dazu noch eine Menge Symbole, die ich nicht kannte oder verstand. Der Deckel zeigte eine kunstvolle, aber etwas beunruhigende Schnitzerei: ein Kreis aus Skeletten, die in einer ewigen Reihe hintereinander hergingen. Jedes hielt ein Schwert in der Hand, welches es dem vor ihm Gehenden von hinten durch die Rippen stieß, und also wurde auch jedes von einem Schwert durchbohrt. Aus dem Kreis blickte ein Totenkopf. Ich betrachtete das Bild lange und fuhr nachdenklich mit dem Finger über die winzigen, meisterhaft geschnitzten Figuren. Wo hatte ich dieses Bild schon einmal gesehen? Ich war sicher, dass ich es kannte, konnte es aber mit nichts in Zusammenhang bringen, keiner Zeit, keinem Ort, keiner Empfindung. Grübelnd öffnete ich das Kästchen und sah hinein. Es war üppig mit roter und weißer Seide ausgeschlagen. In der Mitte ruhte ein Kartenspiel. Die oberste Karte, offenbar ein Deckblatt, zeigte dasselbe Bild wie der Deckel, den Kreis aus Skeletten und den Totenschädel. Dieses Bild aber war farbig, und wenn die Karten auch sichtbar alt waren, so waren die Farben doch gut zu erkennen. Am Rand entlang zog sich eine Borte aus gelben Sternen. Der Bildhintergrund war ein tiefes Ultramarin, die Skelette im Wechsel weiß und rot. Der Totenkopf war von einem so tiefen Schwarz, dass er alles Licht zu schlucken schien und die Farben rundherum stumpf und matt erscheinen ließ. Ich widerstand der Versuchung, mir alle Karten anzusehen, ich schloss das Kästchen wieder, legte es in meine Tasche und ging hinaus. Im Flur stieg ich über die Leiche und die Blutlachen, die Handschellen, mit denen ich den Metzger an die Heizung gefesselt hatte, ließ ich zurück. Aufgrund der untypischen Vorgehensweise würden sie vermutlich sowieso nicht auf mich als Täter schließen, also konnte ich darauf verzichten. Und wenn sie herausfanden, dass der Metzger eine Verbindung zu den anderen Mitgliedern des Zirkels hatte, brauchten sie die Handschellen nicht, um auf mich zu kommen. Ich ließ den Ärmel des Mantels über meine Hand rutschen, drückte die Klinke der Wohnungstür hinunter, öffnete sie einen Spalt und lauschte hinaus.
Schnupperte.
Lauschte.
Spähte vorsichtig um die Tür.
Nichts.
Mit ein paar Schritten war ich die kurze Treppe hinunter und an der Haustür, stahl mich hinaus, ging die Steinplatten zum Bürgersteig hinunter, bog nach rechts ab und war auf dem Weg zum Bus.