Kitabı oku: «Der wandernde Krieg - Sergej», sayfa 6
4
Der Mann, der in Rechas Gedanken und Träumen eine so große Rolle spielte, dachte nicht an sie oder das, was sie bewegte, wenn sie schlief. Auch in seinem Leben spielten Träume eine große Rolle, seine und die anderer. Träume, die er erhielt, und Träume, die er spendete. Er wusste nicht, was Träume wirklich waren und wo sie herkamen. Aber er kannte ihre Macht, und er wusste sie zu nutzen. In Neurath wurde viel geträumt in letzter Zeit.
Sein ganzes Denken kreiste in diesen Tagen um die sechste Verbindung. Es war alles so mühelos verlaufen bisher, besser noch, als er erwartet hatte. Er hatte sich an das Desaster von damals erinnert und war sehr vorsichtig gewesen. Der Plan war besser diesmal, viel besser. Keine Tricks, keine losen Enden. Ein gerader Weg, direkt zum Ziel. Er mochte das.
Er wanderte ein wenig im Park umher, der seinen Namen nun verdiente. Viele fleißige Hände sorgten dafür, dass er in einer Schönheit und Pracht erblühte, die ihresgleichen suchten. Er freute sich an der Schönheit. Wo er vorbeikam, schlugen die Menschen, die im Park arbeiteten, die Augen nieder. Diese hier waren ganz seine Geschöpfe, er hatte sie so lange mit seinem Geist gefangen gehalten, dass ihre Seelen vertrocknet waren wie Frösche in der Sonne. Sie hatten keinen Willen mehr und kein Selbst. Sie dienten. Aber trotzdem fürchteten sie seinen Blick. Er lachte ihnen zu. Sie zitterten und begannen leise vor sich hin zu murmeln. Er lachte wieder.
Dann ging er ins Haus. Dort warteten die sechs Auserwählten. Sechs für die sechste Verbindung. Drei Frauen, zwei Männer, ein Mädchen. Er hatte sie zufällig ausgewählt unter denen, die zu ihm gekommen waren und darum gebeten hatten, bleiben zu dürfen. Als er den Raum betrat, warfen sie sich vor ihm auf den Boden.
„Die sechste Verbindung“, sagte er. „Heute ist der Tag. Ihr seid die Auserwählten.“
Sie stöhnten dankbar.
„Ist alles bereit? Seid ihr bereit?“
„Ja“, sagte eine der Frauen.
„Dann geht.“
Fünf Minuten später, während er auf seinem Bett vor der Kugel saß, hörte er, wie sie das Haus verließen. Er versenkte seinen Geist in die Kugel und ließ sich ganz von ihrer Dunkelheit durchdringen. Das Heer. Der Meister hinter den Reihen.
Er betete ihn an.
Er berichtete.
Er hörte und lernte.
Er wurde entlassen.
Er legte die Kugel sorgfältig zurück an ihren Platz in der Reisetasche, ging zum Fenster und sah nachdenklich hinaus, auf das Reich, das er sich geschaffen hatte. Gab es doch ein Problem? Nein, kein wirkliches Problem. Aber er würde wachsam sein müssen.
So oder so. Diesmal würde es gelingen.
5
Brief Erin Simpsons an Fletcher Simpson, 21.06.
You want letters in German? EAT THIS!
Lieber Fletch,
es ist etwas seltsam, dir in Deutsch zu schreiben. Aber du lernst so fleißig, da will ich gerne helfen. Du hast mir allerdings nie richtig gesagt, was du damit willst. Halt, ich weiß es – du willst dich aus dem Staub machen, stimmt es? Nur mal eben Zigaretten holen, und ab nach Germany. Es ist auch deine einzige Chance, wenn George irgendwann aufhört, wählen sie dich. Fletcher Simpson aus Grizzland, County-Sheriff, ha ha ha!
Ach Fletch, es geht mir so richtig gut. Sonny hat mich vom Flughafen abgeholt, der Weg von dort zu ihrer Wohnung war ein echtes Abenteuer, sie hat nämlich kein Auto im Moment, und wir mussten die S-Bahn und die U-Bahn nehmen. Und hier ist ja gerade Fußballweltmeisterschaft. In der Theorie war mir das klar, aber wen interessiert Soccer? Okay, als ich 2003/2004 hier war, war ich auch Supporter vom FC Köln, aber nur, weil alle das waren. „Da simma da-by, das is pree-ma, viva colonia!“ Das hat dich genervt damals, oder? Aber eigentlich ist mir Soccer völlig egal, deshalb war mir auch nicht klar, dass die ihre Weltmeisterschaft auch hier in Köln spielen. Und was das bedeutet! Und genau an dem Tag war ein Spiel in Köln: die ganze Stadt voller Menschen, Fahnen, die ich noch nie gesehen habe (Tschechien und Ghana haben gespielt) und dazu diese Hitze … Sonny hat mir eine niedliche Wohnung ganz in der Nähe der Uni besorgt, aber da hinzukommen war schwer. Die Bahnen waren voll (Soccer ist ja hier Sport Nummer 1, und die Deutschen interessieren sich für JEDES Spiel, auch Tschechien gegen Ghana) und sind irgendwann stehen geblieben. Wir mussten das letzte Stück zu Fuß gehen. Allerdings mussten wir meine Taschen nicht schleppen, das haben ein paar Tschechen gemacht. Die waren super nett und super betrunken (schon am Nachmittag) und sie wollten uns unbedingt helfen. Hat auch Vorteile, so eine Weltmeisterschaft. Am Abend sind wir in die City gegangen und haben gefeiert, Ghana hatte gewonnen, die Deutschen waren scheinbar alle für Ghana und haben sich gefreut, ein paar Tschechen und Schweden, die wir getroffen haben, waren auch in guter Stimmung. Und in einer Kneipe haben sie ein Spiel der USA übertragen, gegen Italien (Italien ist sehr gut im Fußball) und ich habe … ein wenig herum gebrüllt. U! S! A! Und da die Deutschen alle gegen Italien sind, hatte ich ganz viele Freunde, ha ha! War ein Tie, 1 : 1. Die Deutschen haben mir gesagt, dass das ein Erfolg für die USA war. Also habe ich es geglaubt und mich gefreut.
Die Wohnung ist klein, aber das ist gut so. Ich brauche ja nicht viel. Nur den Sandsack kann ich nirgendwo aufhängen. Montag war ich an der Uni und habe Professor Nickenich getroffen. Er war tatsächlich froh, mich wiederzusehen. Chris muss ihm eine Menge Mist über mich erzählt haben, und Nickenich hat es wahrscheinlich geglaubt. Dann hat Chris (DOKTOR Chris) Scheiße gebaut, muss eine große Scheiße gewesen sein, und wurde gefeuert. Jedenfalls sagte der Herr Professor, er habe sich sehr gefreut über meinen Brief. Und natürlich könne ich mein Studium wieder aufnehmen. Und es wäre ja alles so ein schreckliches Missverständnis gewesen. Und ob ich schon daran gedacht hätte, auch meinen Doktor zu machen. Er meinte es offenbar ernst, also habe ich Frieden geschlossen. Ich werde wenigstens den Magister machen, dann werden wir weitersehen.
Sonst ist nicht viel passiert, obwohl ich noch keine Zeit hatte, dir zu schreiben. Das liegt daran, dass Sonny Urlaub hat, wir ziehen den ganzen Tag rum, durch die Stadt und die Umgebung, ich besuche Plätze von früher und freue mich, dass alles noch da ist (ich habe das Gefühl, hundert Jahre weg gewesen zu sein, nicht zwei). Morgen werde ich mich in Dirks Büro vorstellen. Es ist lieb von ihm, dass er mich hier auch für sich arbeiten lässt. Ich glaube nicht, dass ich von großem Nutzen bin. Sollte er gerade auf deinem Sofa sitzen, gib ihm einen Kuss von mir. Oder nein – Jan soll das machen.
Das war es eigentlich schon. Viel ist nicht passiert, wie ich sagte. Oder doch. Oh Fletch, etwas habe ich vergessen. Obwohl ich immer wieder dran denken muss. Ich habe am Flughafen einen Mann getroffen. Oder eher – er hat mich getroffen. Er ist mit seinem Gepäckwagen genau in meinen gerannt, es gab einen Riesenknall, alles flog herum und ich habe mir das Knie gestoßen. Ich wollte ihn gerade so anbrüllen, als ich seine Augen sah. OH BOY!!!! Der ganze Typ sah gut aus, groß, schlank, dunkle Haare (unter einer Basecap), aber das war alles Dreck gegen diese Augen. Ich habe keine Ahnung, welche Farbe sie hatten. Irgendwie ganz dunkel. Aber auch ein bisschen hell. Ich kann weder genug Deutsch noch Englisch, um das zu beschreiben. Ja, grins du nur.
Na ja, jedenfalls lag er irgendwie halb und halb über unseren Koffern und starrte mich genauso an wie ich ihn. Dann kam Sonny angelaufen und Freunde von ihm (sie haben ihn Sasha oder so genannt, irgendwie russisch), und er hat mir hochgeholfen. Er hat mir auch mit meinen Koffern geholfen, ich habe ihm die Hand gegeben, er hat sie gehalten, wir haben uns wieder angesehen, und was hat deine dumme Schwester gemacht, Fletch? Ich habe meine Hand weggezogen und sagte „Tschüss“.
Er hätte mir bestimmt seine Telefonnummer gegeben, so wie er mich angesehen hat, hätte er seine Freunde stehen lassen und wäre einfach mit mir gegangen. Aber er hatte mich so erwischt, dass mir nichts einfiel. Ich bin so blöde. Chance vorbei, ich mache es besser, nächstes Mal. Und ich bin zum Studieren hier, nicht um mich zu verlieben. Das ging letztes Mal schon schief.
Das war es für heute, kleiner Bruder. Ganz liebe Grüße an Jan, eine Umarmung und zwei Küsse für Carl und Lisa (hat Dad dich eigentlich enterbt?). Und einen für dich. Was würde ich ohne dich machen?
Bis bald, in Liebe
Your Big Bad Sister
Erin
6
Ich liebe diese Nächte, in denen der Mond so hell scheint, dass man Farben sehen kann. In so einer Nacht bin ich aus der Anstalt geflohen. Und in so einer Nacht saß ich zum letzten Mal in dem Obstgarten, im Schatten eines kleinen Geräteschuppens und beobachtete den Metzger durch das hell erleuchtete Küchenfenster seiner Wohnung. Er sah kaum älter aus, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, und das war immerhin schon mehr als fünf Jahre her. Sein Haar war etwas grauer geworden, aber sonst sah er genauso aus wie damals. Ein mittelgroßer Mann um die vierzig, sehr unauffällig, nicht dick, nicht dünn, nicht hässlich, nicht schön, ein Mann, den man sieht, um ihn sofort wieder zu vergessen. Ich habe ihn nie vergessen. Er hat einen Ehrenplatz in meinem Herzen.
Ich hatte den Obstgarten mit dem Schuppen zwei Tagen zuvor gefunden. Er grenzte von drei Seiten an weitere Gärten, die zu Ein- oder Mehrfamilienhäusern gehörten. Gärten, in denen Planschbecken standen und einzelne Bäume wuchsen, in denen Sandkästen angelegt waren, hier und da auch mal ein Beet, ansonsten viel Rasen. Familiengärten, durch einfache Zäune aus Holz oder Maschendraht abgetrennt. Der Obstgarten selbst gehörte zu keinem dieser Häuser. Er grenzte direkt an eine der vier Straßen, die das ganze Areal mit Häusern und Gärten als großes Karree einschlossen, nur durch eine hohe Hecke nach vorne begrenzt. Der Besitzer kümmerte sich offenbar nicht groß darum. Warum auch, die Äpfel und Pflaumen würden noch bis zum Herbst auf sich warten lassen. Die Kirschen allerdings waren zu einem großen Teil schon reif, sie fielen den Kindern zum Opfer, für die der Obstgarten Durchgangsstraße zwischen den Grundstücken ihrer Familien war. Nachts tat außerdem ich mich an den Kirschen gütlich, während ich den Metzger beobachtete. Tagsüber konnte ich mich wegen der Kinder schlecht hier aufhalten, aber nachts war der Schuppen ein guter Platz. Ich hatte freien Blick auf die Wohnung des Metzgers, auf seine Küche, den Balkon und das große Wohnzimmerfenster.
Das Fernglas hatte ich mir direkt montags gekauft, zwei Tage nachdem ich von Mallorca zurückgekommen war. Auf der gesamten Fahrt vom Flughafen war das Mädchen Thema gewesen, das ich über den Haufen gerannt hatte. Die beiden zogen mich auf, und ich nahm es ihnen zunächst tatsächlich übel. Ich war verwirrt. Es war überhaupt nicht so, dass ich nicht gewusst hätte, was mit mir los war. Ich war nicht zum ersten Mal verliebt. Aber ich hatte sie kaum fünf Minuten gesehen, bevor sie aus meinem Leben verschwunden war, vermutlich für immer. Und außerdem war da war immer noch Sarah, die ich tot mehr liebte als alles Lebende zusammen. Ich hatte mich in den ganzen Jahren seither nicht ernsthaft für eine Frau interessiert. Ines war eine nette Freundin gewesen und wir hatten eine Menge Spaß gehabt. Das war’s.
Und dann stolpere ich über eine Blondine … Lachhaft.
Irgendwann schaffte ich es, nicht mehr beleidigt zu sein. Sie brachten mich zu dem Haus in Leverkusen. Meinem Haus. Es lag in Quettingen, ganz in der Nähe des Bürgerbusches. Ein altes Ziegelhäuschen, in scheußlichem Ocker verklinkert, zwei Stockwerke, insgesamt kaum sechzig Quadratmeter. Dahinter eine große Wiese, die an einen Feldweg grenzte. Dahinter wiederum, auf der anderen Seite, lag eine Weide, und dahinter begann der Wald. Keine direkten Nachbarn, kein Betrieb, Ruhe. Und trotzdem keine zehn Minuten von der Quettinger Straße, von Geschäften und Bushaltestellen, entfernt.
„Und“, fragte Sandra aufgeregt, als wir davor standen, „was sagst du?“
„Ideal“, sagte ich, während ich es anstarrte. Mein Haus. „Es ist ideal.“
„Es war ein Schnäppchen“, sagte Mark.
Ich konnte nichts sagen. „Reingehen“, brachte ich irgendwann heraus.
„Was?“ Mark grinste.
„Hast du die Schlüssel mit? Ich würde gerne mal reingehen.“
„Es ist dein Haus. Natürlich habe ich die Schlüssel mit. Und du kannst jederzeit reingehen, ohne irgendwen zu fragen.“
Es war einfach, ich fand es wunderbar. Eine Küche, ein Bad und ein großer Raum unten, zwei gleich große Räume oben. Sie hatten eine Küche gekauft, sie war genau mein Fall. Ich erinnerte mich, dass ich die beiden früher manchmal bekocht hatte, wenn sie mich besucht hatten, um meine Dunkelheit ein wenig aufzuhellen. Sie kochten beide – freundlich gesagt – schlecht und wussten deshalb ein gutes Essen zu schätzen. Ich kann sehr gut kochen. Sarah hat es mir beigebracht. Von der Küche abgesehen waren alle Räume leer, nur in dem großen Raum unten stand ein Feldbett. Die Wände waren allesamt weiß tapeziert, auf dem Boden lag neues Parkett. Von den Decken hingen nackte Glühbirnen.
„Wir haben gedacht, du richtest es am besten selbst ein“, erklärte Sandra. „Wir wissen ja nicht so genau, was dir gefällt.“
„Oh, die Küche ist jedenfalls super.“
„Ja?“ Ihr Gesicht strahlte vor Freude.
„Ist der Herd auch okay?“, fragte Mark.
„Gerade der Herd.“
„Siehst du“, sie boxte ihm in die Seite, „Was habe ich dir gesagt? Gasherd ist besser.“
„Das hat sie irgendwo mal gelesen“, erklärte Mark.
„Gar nicht! Das hat er selbst mal gesagt. Oder? Das hast du doch mal gesagt?“
Ich musste lachen, obwohl ich tiefer gerührt war, als ich für möglich gehalten hätte.
„Kann sein, dass ich das mal gesagt habe. Es stimmt jedenfalls.“ Ich seufzte und drehte mich zu ihnen. „Ich weiß nicht, warum ihr das für mich tut. Aber ich bin froh, dass ich euch habe.“
Mark nahm mich in den Arm. „Noch mal: Willkommen zu Hause. Wenn du nichts dagegen hast, fahren wir jetzt wieder zu uns. Wir können den Pizzaservice rufen, und Sarah hat etwa sieben Tonnen Möbelkataloge angeschleppt. Und du musst uns von Mallorca erzählen.“
Ich legte meine Arme um ihre Schultern. „Lasst uns abhauen. Ich liebe euch.“
Wir warfen die Tür hinter uns zu und gingen den Weg zurück zu ihrem Subaru. Unterwegs drehte ich mich noch einmal zu dem Haus um. Meinem Haus.
Sarah hätte es gefallen.
„Also“, sagte Mark, als wir Stunden später zwischen den Resten der Pizzabestellung, einigen leeren Flaschen und etwa zwanzig wild verstreuten, aufgeschlagenen Katalogen verschiedener Möbelhäuser saßen, „was hast du jetzt vor?“
„Na, erst mal muss er das Haus einrichten“, lachte Sandra. „musst du doch, oder?“ Sie schaute mich an.
„Klar“, antwortete ich leichthin, „erst mal das Haus.“ Ich sah gedankenverloren aus dem Fenster.
Sandra sah mich lange an. „Du denkst nicht an das Haus, oder?“
Ihre Worte erreichten mich mit ein wenig Verspätung.
„Was?“
„Du denkst gar nicht über das Haus nach, stimmt’s?“
Ich sagte nichts.
„Sergej! Sag mir, dass du nicht wieder damit anfangen wirst. Lass es bitte. Lass Frieden sein. Du brauchst auch Ruhe. Irgendwann brauchst du auch mal Ruhe.“
Ich schüttelte langsam den Kopf. „Ich hatte Ruhe, Sandra. Ich hatte lange Ruhe.“
Sie stöhnte auf. „Oh nein, bitte nicht.“
„Es ist jetzt fast sechs Jahre her, Sergej“, sagte Mark. „Und du hattest deine Rache. Du hast den Zirkel zerschlagen, du hast sie fast alle umgebracht, und du hast sie wahrhaftig leiden lassen, so sehr, wie Sarah gelitten hat, und …“
„Sprich mir nicht davon, wie Sarah gelitten hat!“, zischte ich, und er verstummte sofort. „Es sind noch drei übrig, und die werde ich jagen, und nichts auf der Welt wird mich davon abbringen. Ist das klar?“
Mark stand auf und verließ das Zimmer. Sandra weinte.
Es tat mir leid. Aber was konnte ich tun? Ich saß eine Weile so da und starrte auf die Trümmer des Abends, die Pizzakartons, die Flaschen, die Kataloge, die sie für mich gesammelt hatten.
„Warum bist du so?“, schluchzte sie unter den Händen, die sie vor ihr Gesicht gelegt hatte. „Oh Himmel, warum bist du so?“
Ich legte ihr einen Arm um die Schulter, vorsichtig. Sie zuckte, aber sie stieß mich nicht weg.
„Sandra“, begann ich leise, „ich weiß nicht, was du meinst. Sie haben Sarah ermordet.“
„Das meine ich nicht.“ Sie nahm die Hände von den Augen. Ihr ganzes Gesicht war nass, das bisschen Kajal, das sie um die Augen gehabt hatte, war fleckig über Wangen, Lider und Stirn verschmiert. Sie sah erbarmenswert aus.
„Nein, das meine ich nicht. Aber Sergej – manchmal bist du jemand anderes. Wenn du erzählst, was du tun wirst. Wenn ich weiß, dass du es tun wirst. Es ist nicht, was du sagst. Es ist, wie du dann bist. Es ist in dir, in deinem Gesicht, in deinen Augen. Es ist … ist als ob … Ich weiß es nicht. Und dann habe ich Angst, verstehst du? Angst vor dir. Und ich will vor dir keine Angst haben.“
„Du brauchst keine Angst vor mir zu haben.“
„Es ist etwas in dir, das grausam ist und groß. Und ich habe Angst, dass du eines Tages nicht mehr zurückkommst.“
„Ich bin, wie ich bin.“
Sie schüttelte den Kopf und sah mich direkt an. „Versprich mir, dass es danach vorbei ist. Sag mir, dass du dann aufhörst. Wenn du dir selbst egal bist, dann versprich es mir für Mark und mich.“
Ich drückte sie an mich. „Ich verspreche es.“
Sie rückte auf Armeslänge von mir ab, die Hände auf meinen Schultern. Sie sah immer noch traurig aus. „Wenn du dieses Versprechen nicht hältst“, sagte sie, „wenn du nicht aufhörst, wenn Sarah gerächt ist, dann bist du verloren.“
Ich sah sie lange an. Ja, sie hatte Recht. Dann würde ich verloren sein.
Wir saßen noch eine Weile schweigend da, dann ging sie, um Mark zu holen. Irgendwann verging die Beklemmung, wir kamen auf mein neues Haus zurück. Den Rest der Nacht verbrachten wir über den Katalogen, blätterten, verglichen und schrieben Listen.
Den Sonntag hatten wir ebenfalls zusammen verbracht, und diesmal trübte nichts die Stimmung. Am Montag musste Mark wieder arbeiten, Sandra hatte noch Urlaub, und so klapperten wir zu zweit ein paar Möbelhäuser in der Umgebung ab. Am Abend fuhren wir nach Köln, um Mark abzuholen. Wir schlenderten die Schildergasse entlang, die sich mit sommerlicher Gemächlichkeit zu leeren begann, in Richtung Neumarkt. In einem Fotogeschäft kaufte ich das Fernglas.
Am nächsten Tag begann ich die Jagd.
Jetzt kauerte ich hier in den Schatten und beobachtete mit meinem neuen Fernglas den Metzger beim Kochen. Im Wohnzimmer saß eine Frau, die ich auf Mitte dreißig schätzte, braunhaarig und nicht wirklich hübsch, aber mit einem niedlichen, etwas kindlichen Gesicht. Sie trug ein Deutschland-Trikot und hatte verschmierte Schminke auf den Wangen, schwarzrotgelb. Wahrscheinlich hatten sie am Nachmittag das Viertelfinale gesehen. Gegen Argentinien. Ich hatte keine Ahnung, wie es ausgegangen war, ich hatte Wichtigeres zu tun, als Fußball zu schauen. Anscheinend war das Ergebnis zumindest nicht geeignet gewesen, die Stimmung zu trüben, sie wirkte glücklich und wartete offenbar geduldig, dass der Metzger fertig wurde. Ich hatte keine Ahnung, wer sie war, obwohl ich ihn gut ausrecherchiert hatte. Er war nicht verheiratet und hatte auch keine feste Freundin. Aber nach dem entrückten Lächeln zu schließen, das die beiden unabhängig voneinander im Gesicht trugen, mochte sich da kürzlich etwas geändert haben. Wie heißt es doch? Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben …
Es war fast zu einfach gewesen, ihn zu finden. Er war nur ein paar Städte weiter gezogen und mit Name und Adresse bei der Telefonauskunft gemeldet. Offenbar hatte er keine Angst mehr. Ich hatte den Zirkel damals so schnell aufgerollt, dass kaum eines seiner Mitglieder es geschafft hatte, unterzutauchen. Der Metzger hatte es nie versucht, ich hatte immer gewusst, wo er zu finden war. Aber er stand ziemlich weit unten auf meiner Liste, deshalb war ich nicht mehr dazu gekommen. Nun hatte ich ihn wiedergefunden und etwas über eine Woche lang ausgespäht. Das hatte gereicht. Er hatte ein ziemlich gleichförmiges Leben, einen wie zwangsläufig immer wiederkehrenden Tagesablauf. Morgens gegen halb sechs stand er auf, machte sich fertig, aß eine Schale Cornflakes, manchmal auch ein Brot, ging dann zu Fuß zur Metzgerei. Es war einer dieser alteingesessenen Läden, von denen es in jedem Stadtteil einen bis zwei gibt und die gut davon leben, dass die Einheimischen auf sie schwören. Zwischen fünf und acht kam er nach Hause, das war die einzige größere Unregelmäßigkeit. Mittwochs hatte er am Nachmittag frei, samstags arbeitete er bis mittags. Ich fragte mich, wo er die Frau kennengelernt hatte. Vielleicht war sie eine Kundin oder eine Kollegin. Egal. Ich aß eine Kirsche und warf wieder einen Blick durch das Fernglas. Er war fertig mit seinem Mahl und trug es stolz ins Wohnzimmer. Dann verschwanden die beiden für einige Zeit aus meinem Blickfeld. Mir war es recht, ich aß noch ein paar Kirschen und betrachtete die Sterne. Irgendwann hörte ich die Balkontür und nahm das Fernglas wieder an die Augen. Sie traten Hand in Hand auf den Balkon und ich hörte sie gurren. Er deutete auf die Sterne und sie sah seiner Hand nach. Dann umarmten und küssten sie sich. Die Umarmung wurde inniger, sie begannen sich zu streicheln, die Küsse wurden länger. Seine Hand glitt unter das Trikot, das sie irritierenderweise als Miroslav Klose auswies, und ich legte das Fernglas weg. Ich hörte die Balkontür erneut und wandte mich wieder den Kirschen und den Sternen zu. Sollten sie es genießen.
Ein paar Stunden später hörte ich Schritte auf dem Hof hinter dem Haus. Offenbar blieb sie nicht zum Frühstück. Richtig, sie strebten in inniger Umarmung einem alten Opel zu. Ich konsultierte wieder das Fernglas. Ihrem Gesicht nach zu schließen, war Freund Metzger ein passabler Liebhaber. In seinen Zügen malte sich zärtlicher Erobererstolz. Sie küssten sich lange, dann stieg sie ein und fuhr winkend davon. Er winkte ihr nach, stand dann noch eine Zeitlang dort und schaute in den Nachthimmel. Glücklich, wie das Fernglas mir verriet. Sehr glücklich. Dann ging er vom Hof. Tänzelnd.
Ich blieb ausnahmsweise bis nach Sonnenaufgang an meinem Platz. Pünktlich um halb sechs stand der Metzger auf und zog die Jalousien hoch. Gegen zwanzig nach sechs kletterte ich über die Hecke und ging langsam ums Karree. Die Welt war still und die Straßen leer, als wäre die Menschheit mit einem Mal verschwunden. Ich sah den Metzger das Haus verlassen und beschwingten Schrittes zur Arbeit gehen, passierte ihn auf dem Bürgersteig. Er sah müde aus und er pfiff tatsächlich. Ich ging zu dem Haus, das er soeben verlassen hatte, einem Drei-Parteien-Haus. Der Metzger hatte freundlicherweise die Wohnung im Parterre gemietet. Ich ging vorsichtig um das Haus herum auf den Hof. Meine Vorsicht war unbegründet, es war einfach zu früh, um an einem Samstag auf Publikum zu treffen. Ich schwang mich auf den Balkon, brachte mit einem Glasschneider drei schnelle Schnitte in der Scheibe an, stieß das Glasstück nach innen, wo es auf Teppich fiel, griff mit der Hand durch das Loch, öffnete die Tür und schlüpfte hinein. Von innen passte ich das Bruchstück wieder ein, klebte es mit Scotchguard-Band fest und ließ die Jalousie halb herunter. Das sollte reichen, die Nachbarn nicht neugierig zu machen. Ich schaute auf die Uhr. Zehn vor sieben. Ich machte mich ausführlich mit der Wohnung vertraut und entwarf einen Plan. Dann untersuchte ich das Bücherregal des Metzgers. Ich zog Stephen Kings „Schlaflos“ von seinem Platz, setzte mich aufs Sofa, legte die Füße auf den Tisch und begann zu lesen.
Und zu warten.