Kitabı oku: «Sentry - Die Jack Schilt Saga», sayfa 13

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„Gut möglich“, spielte ich die Sache herunter. „Vielleicht auch nur Fliegendreck. Wie kommst du darauf, dass die Landkarte alt ist? Nur aufgrund ihres schlechten Zustands?“ Plötzlich interessierte mich Lukes Meinung.

„Sieh dir die Brücke an. Fast nicht mehr erkennbar, so gut wie verblichen. Und jetzt wirf einen Blick auf Stoney Creek. Oder Van Dien. Oder auch Cape Travis. Siehst du? Klarere Farben, deutlichere Linien. Nach meinem Dafürhalten sind die Siedlungen viel später in diese Karte eingetragen worden. Womöglich zu einer Zeit, als die alte Brücke schon nicht mehr existierte.“

„Oder ein Spritzer Fett tropfte irgendwann auf diesen Federstrich und löschte ihn halbwegs aus“, hielt ich weiter dagegen.

Luke erweckte für einen Weile immerhin den Anschein, diese Möglichkeit ernsthaft in Erwägung zu ziehen, bevor er den Kopf schüttelte. „Das glaube ich nicht. Sieh einmal hier!“ Und sein Zeigefinger wanderte vom Algon nach Norden in die Bay of Islands. „Die Inselnamen sind allesamt überschrieben worden. Leider lassen sich die ursprünglichen Bezeichnungen nicht mehr entziffern. Sehr schade. Ein weiterer Hinweis, dass die Karte nachträglich verändert wurde.“

Ich nickte langsam. Wieso war mir das noch nicht aufgefallen?

„Wer würde denn eine Brücke am Rande des Niemandslandes bauen?“ meinte nun Krister zweifelnd. „Die nächste Siedlung ist ewig weit entfernt. Welchen Nutzen sollte sie haben?“

Luke zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung. Höchstwahrscheinlich einen Nutzen, den wir aus heutiger Sicht nicht mehr erkennen. Wenn wir wieder zuhause sind, werde ich deinen Vater einmal aufsuchen und ihn auf die Karte ansprechen. Vielleicht weiß er noch, woher er sie einst bekam.“

Der Gedanke an meinen Vater führte mir nicht zum ersten Mal vor Augen, ihm früher oder später den Verlust des Bootes beibringen zu müssen. Da spielte die Tatsache, ihm den Besitz einer fremden Karte angedichtet zu haben, nur eine untergeordnete Rolle. „Ja, tu das“, schloss ich und faltete das alte Pergament betont nebensächlich zusammen. Luke verfolgte jede meiner Bewegungen argwöhnisch, als behandelte ich das Objekt seiner Begierde nicht mit dem nötigen Respekt.

Wir marschierten den Rest des Tages schweigend weiter. Das unwegsame Gelände wollte sich nicht auf eine klare Linie festlegen lassen. Kontinuierlich ging es auf und ab – und auf und wieder ab. Wir orientierten uns so gut es ging am Stand der Sonne, die hier im Landesinneren deutlich an Stärke gewann. Alsbald schwitzte nicht nur ich wie ein Ochse. Die ungewohnte Anstrengung ging unerwartet schnell in die Knochen. Beladen mit sämtlichem Gepäck spürte ich zudem den ächzenden Rücken. Wie hatte ich mir das nur vorgestellt, auf diese Weise bis nach Hyperion zu laufen? Ich musste verrückt gewesen sein! Zu allem Überfluss fing mein ruheloser Geist an, mich auf ganz tückische Art zu quälen. Mit unheimlicher Regelmäßigkeit stellte er mir immer dieselbe Frage: War das alles, was du zu geben bereit warst? Mehrere Male hätte ich heulen mögen über meine innere Zerrissenheit.

Auf dem Rücken eines Höhenzuges machten wir Halt und nahmen eine Mahlzeit ein. Weit unter uns ruhte ein tiefes, dunkel bewaldetes Tal, das bis an den westlichen Horizont reichte. Ein vage erkennbarer Gebirgszug schien es dort zu begrenzen, es konnte sich aber auch um eine optische Täuschung handeln. Von hier oben sah jenes Tal atemberaubend schön und friedlich aus. Es stand aber auch fest, dort hindurch zu müssen. Ein Umstand, der weniger gut gefiel.

Krister deutete den Rand des Grats entlang, auf dem wir rasteten. „Wenn wir hier weitergehen, können wir das Tal vielleicht umrunden und müssen es nicht mühsam durchqueren“, meinte er, meine Gedanken zielsicher erratend.

„Womöglich“, zweifelte ich. Mir schmeckte die Tatsache nicht, zu diesem Zweck die entgegengesetzte Richtung einschlagen zu müssen. Der von Krister vorgeschlagene „Weg“ führte eindeutig zurück in Richtung Küste. Verflucht! Wenn wir Idioten das Boot nicht auf so kreuzdumme Weise verloren hätten, befänden wir uns aller Wahrscheinlichkeit nach schon kurz vor der Hyperion Bay. Ganz nahe am Ziel. Und wo waren wir stattdessen? Irgendwo in der tiefsten Wildnis Ergelads, dort wo ich niemals sein wollte. Ich hätte mich vor Wut über meine Unfähigkeit am liebsten selbst geohrfeigt.

„Dann machen wir das.“ Mein Widerstand bröckelte. „Ich verspüre wenig Lust, die Nacht in den Wäldern da unten zu verbringen. Dann schon lieber irgendwo in luftiger Höhe.“

Krister sah mich mit nur schwer zu interpretierendem Blick an. War es meine kritiklose Bereitwilligkeit gewesen, die Marschrichtung zu ändern? Suggerierte er mir indirekt, meine Entscheidung zu überdenken? Las er in meinen zwiespältigen Zügen wie in einem offenen Buch? Kurz darauf sollte sich der Verdacht bewahrheiten. Mein alter Freund wusste nur zu genau, auf welch tönernen Füßen mein Entschluss stand.

„Jack, ein Wort von dir und wir machen es“, bedeutete er mir bewusst zweideutig.

„Machen was?“ stieß ich hervor, noch nicht gänzlich bereit, aus der Deckung zu kommen.

Krister war noch nie ein Mann großer Worte gewesen. Und von großen Umschweifen hielt er noch viel weniger. Infolgedessen überraschte die schonungslos ehrliche Antwort nur wenig. „Einfach aufgeben ist doch Scheiße, Jack! Und du weißt das!“

Ich musste lächeln. Wie sehr ich ihn für seine zuweilen primitive Art liebte, die Dinge auf den Punkt zu bringen.

„Der Verlust des Bootes war ein schwerer Schlag, das gebe ich zu“, fuhr er fort. „Aber dies zum Anlass zu nehmen, alles hinzuschmeißen, halte ich für falsch. Luke sprach es gestern schon aus. Ich finde er hat Recht. Du solltest Robs Schicksal nicht von dem des dummen Kahns abhängig machen.“

Mein Blick wanderte zu dem Zitierten. Er stand reglos da, mich beschwichtigend ansehend. Ein winziges Lächeln lag auf seinem Gesicht, als er sprach: „An mir liegt es mit Sicherheit nicht! Ich bin mehr als bereit, mit euch überall hinzugehen. Meinetwegen bis in die tiefsten Tiefen des Eisgebirges und wenn es sein muss, auch hindurch.“

In diesem befreienden Moment spürte ich, wie unsere noch junge Gemeinschaft gänzlich zusammenwuchs. Mein Herz glühte vor Freude. Ich war mächtig stolz auf Krister, meinen alten, unerschütterlichen Vertrauten – und natürlich auf Luke, einen neu gewonnen Freund. Konnte ich mir etwas Schöneres wünschen, als zwei treue Gefährten, die allen Widrigkeiten zum Trotz fest an meiner Seite standen? Nein. Es gab augenblicklich kein schöneres Gefühl auf dieser Welt.

Als wir den Weg nach Osten einschlugen, das dunkle tiefe Tal in unserem Rücken lassend, versicherte mir eine Stimme aus meinem unergründlichen Inneren, das Richtige zu tun.

08 SKELETTFLUSS

Die folgenden Tage führten mich an die Grenze der körperlichen Belastbarkeit. Wir wanderten von Sonnenaufgang bis in die Dämmerung und unterbrachen den Gewaltmarsch lediglich für die Nahrungsaufnahme. Unterwegs hieß es konstant Augen und Ohren offen halten. Jedes unvorsichtige Wildtier, das nicht schleunigst Reißaus nahm, stand auf dem Speisezettel. Mein Bogen kam mehrmals zum Einsatz, verfehlte aber zu oft seine Bestimmung, was ich weniger meiner Schießkunst als der hohen Aufmerksamkeit der anvisierten Ziele ankreidete. Die Viecher ließen uns keine Sekunde zu nahe heran.

Ich versuchte es trotzdem.

Der Pfeil verfehlte den halbwüchsigen Moa knapp. Selbst wenn er getroffen hätte, würde er aller Wahrscheinlichkeit nicht tödlich gewesen sein, dazu befand sich der stattliche Laufvogel einfach zu weit entfernt. Der sirrende Pfeil vermochte das stolze Tier nicht einmal zu verjagen, aber mein frustrierter Schrei tat es. Die vergebliche Suche nach dem verschossenen Projektil sorgte für zusätzliche Verdrossenheit, ließen sie sich doch augenblicklich nur schwer ersetzen.

Umso mehr kam uns Lukes umfangreiches Wissen über die Flora Gondwanalands zugute. Zuweilen ging er in die Knie und las mal dieses mal jenes auf, eine Tätigkeit, der Krister und ich nur anfangs Interesse zollten. Was auch immer er aus der Erde zog und in seinen Rucksack packte, spätestens bei der folgenden Mahlzeit tauchte es wieder auf, sei es als Beilage zu Röstkaninchen, gebratenem Golbat oder – je nach Jagdglück – auch als Hauptgericht. Auf diese Weise lernte ich die Namen von bislang unbekanntem Wildgemüse kennen wie die nach längerem Kauen zuckersüße Hirschmöhre, die im offenen Feuer geröstet sogar noch besser schmeckte. Ein weiteres Mal zauberte Luke grüne, faustgroße Knollen hervor, die er wer weiß wo dem Erdboden entrissen hatte und Brotsamen nannte.

„Woher kennst du all dieses merkwürdige Zeug?“ fragte ich ihn beim Verspeisen meiner Ration bitter schmeckenden Brotsamens. Die gestrigen Hirschmöhren wären mir lieber gewesen. Oder jene Erdbirnen, die so sehr an Kartoffeln erinnerten. Wir nahmen uns zum ersten Mal seit Tagen etwas mehr Zeit für den mittäglichen Aufenthalt. Ein weiser Entschluss. Das Tempo der vorangegangenen Tage ließ sich beim besten Willen nicht weiter einhalten.

„Mein Vater lehrte mich früh, die Geschenke der Natur zu erkennen“, antwortete Luke nach kurzem Zögern. „Dafür bin ich ihm noch heute dankbar.“

Zum ersten Mal sprach Luke über seinen Vater. Da ich mir nicht sicher war, darauf gefahrlos eingehen zu dürfen, nickte ich nur knapp. Meine Augen nahmen dafür eine plötzliche Bewegung in Lukes Gepäck wahr, ein willkommener Anlass, das Thema zu wechseln.

„Entweder entwickelt dein Rucksack gerade ein erstaunliches Eigenleben oder du hast uns einen Teil des Mittagessens unterschlagen.“

Lukes Blick folgte umgehend meinem ausgestreckten Zeigefinger. In diesem Moment lugte auch schon ein fellbesetztes Köpfchen vorwitzig heraus.

„Du hast einen Fego gefunden?“ fragte ich, meine Überraschung wenig unterdrückend.

„Nicht gefunden“, verbesserte mich Luke.

Zunächst verstand ich nicht genau, was er damit sagen wollte, doch als das Tierchen freudig schnatternd aus dem Rucksack direkt in Lukes dargebotene Handfläche hüpfte, wurden mir die Zusammenhänge klarer.

Fegos gehörten zu den wenigen Nagetieren Gondwanalands, die sich als Haustiere eignen – und sie erfreuen sich bei Kindern großer Beliebtheit. Mich erinnern sie stets an zu groß geratene Ratten, weswegen ich ihnen noch nie sehr viel abgewinnen konnte. Als kleiner Junge besaß ich eine getigerte Katze, die dummerweise Fegos zum Fressen gern hatte. Diese Tatsache machte Tapps verständlicherweise in der Nachbarschaft äußerst unbeliebt, zumal er sich das Herumstreunen nie abgewöhnen ließ. Irgendwann im Spätherbst kehrte Tapps nicht mehr heim. Nach der Schneeschmelze im darauffolgenden Frühling fand Rob am Waldrand unweit unseres Hauses die verwesenden Reste einer von mehreren Pfeilen durchbohrten Katze. Bis heute bin ich überzeugt, dass es sich bei dem Kadaver um Tapps handelte, der der unseligen Koalition fegoliebender Nachbarsjungen zum Opfer gefallen war. Von diesem Tag an wollte ich Fegos nicht mehr leiden.

„Du schleppst das Vieh mit dir herum?“ schaltete sich Krister ein. „Ich kann es nicht glauben!“

„Was sollte ich denn sonst mit Teddy tun?“ wehrte sich Luke schwach. „Ihn zuhause verhungern lassen?“

Teddy...!

Luke sank in meinem Ansehen wieder auf die Stufe eines Kindes herab. Ich wollte ebenso wenig wie Krister verstehen, warum ein so gut wie erwachsener Mann ein ganz und gar unnützes Tier mit sich herumschleppte.

„Die paar Tage hättest du ihn ja den Svenssons geben können. Die haben doch selber einen Haufen Fegos, soviel ich weiß.“

Einen Moment sah es so aus, als begänne Luke sich auch noch wie ein Kind zu verteidigen. Doch er unterließ es und beschränkte sich darauf, das dunkelgraue Fell des vor Wonne grunzenden Nagers zärtlich zu streicheln.

„Teddy ist zu sehr an mich gewöhnt“, sagte er nur leise.

Ich gab es ungern zu, aber es schien zu stimmen. Als Wiedergutmachung für meine anfängliche Abneigung streckte ich eine Hand aus, um Teddy ein paar freundschaftliche Streicheleinheiten zukommen zu lassen. Meines Wissens ließen sich Fegos von allem anfassen und streicheln, egal wer oder was da des Weges kam. Wahrscheinlich waren sie sogar vor Tapps in die Duldungsstarre verfallen. Nicht so Teddy. Laut protestierend hopste das fiepende Fellbündel zurück in den Rucksack und kam nicht wieder hervor.

„Tja“, grinste Luke verschmitzt. „Wie du siehst haben auch Fegos einen gewissen Anspruch.“

Nach fünf beschwerlichen Tagesreisen durch die menschenleere Wildnis Ergelads erreichten wir ihn endlich, den sagenumwobenen Skelettfluss, das Ende der uns bekannten und gestatteten Welt. Demütig standen wir an seinem Ufer und blickten hinaus auf den breiten, tiefblauen Strom. Auf der anderen Seite, etwa hundert Meter entfernt, begann Laurussia. Es war also soweit. Zum wiederholten Male wünschte ich mir, wir hätten das Boot nicht eingebüßt und müssten das Land der Opreju nicht an einem so symbolträchtigen Ort betreten. Wie viel einfacher wäre es gewesen, Hyperion auf dem Seeweg anzusteuern. Es hätte nicht so gänzlich nach etwas Verbotenem ausgesehen.

„Sieht dort drüben auch nicht anders aus als hier“, spielte Krister den ehrerbietigen Moment herunter, als hätte er meine Gedanken erraten. „Wir könnten auch am Algon oder am Sawyer stehen. Kein Unterschied.“

„Und doch sind es weder Algon noch Sawyer“, entgegnete ich, den respektabnötigenden Charakter des geräuschvoll fließenden Grenzflusses zwischen zwei Welten aus welchem Grund auch immer verteidigend. „Es ist der Skeleton, verdammt! Wir sind da. Wir sind wirklich da.“

Irgendwie konnte ich es noch immer nicht fassen. Nun, an seinem üppig grünen Ufer stehend, so kurz davor, das Tabu zu brechen, war ich mir nicht mehr sicher, dazu imstande zu sein.

Krister sah mich skeptisch von der Seite an. „Du willst doch jetzt nicht kneifen, oder?“

Nicht völlig überzeugt antwortete ich vielleicht einen Tick zu schnell.

„Natürlich nicht. Ein Zurück ist ausgeschlossen!“

Wir sahen einander skeptisch an. Las ich nicht auch eine Spur Zweifel in seinem sorgfältig entschlossenen Gesichtsausdruck? Kein Wunder, keiner von uns dreien wusste, was uns auf der anderen Seite erwartete. Waren wir am Ende vielleicht wirklich drauf und dran, den größten Fehler unseres Lebens zu begehen? Begaben wir uns nicht wissentlich in unberechenbare Gefahr?

„Und wie wollen wir übersetzen?“ Lukes nüchterne Frage, die in ihrer Unschuld herrlich harmlos klang, relativierte meine Befürchtungen. Seine unbeirrbare Geradlinigkeit brachte mich auf den Boden der Realität zurück. „Der Fluss erscheint mir hier etwas breit... vielleicht sollten wir weiter stromaufwärts nach einer engeren Stelle suchen.“

Krister nickte zustimmend.

„Ja, an so etwas dachte ich auch gerade. Wir müssen ohnehin in südlicher Richtung weiter, um die Hyperion Bay nicht zu weit nördlich zu erreichen.“

„Diesen Umweg sollten wir uns sparen“, stimmte ich zu. „Mit dem Boot wären ein paar Meilen kein Problem gewesen, aber zu Fuß macht das schon einen Unterschied.“

Wir setzten die Reise also entlang des Westufers des Skelettflusses fort. Widerspenstiges Buschwerk versperrte mancherorts den Weg. Das Durchkommen erwies sich nicht immer als einfach. Wir hielten uns so gut es ging direkt am Wasser, darauf achtend, nicht zu weit abzudriften.

Am späteren Nachmittag, ich hatte den Gedanken an ein Übersetzen noch am heutigen Tag bereits aufgegeben, erhielten wir den Lohn für unsere Mühen.

„Sehr nur!“ Luke, der einige Längen vorausgegangen war, deutete auf den Fluss hinaus. „Eine Insel!“

Aus der Flussmitte heraus ragte ein kleines, wild umflutetes, mit stattlichen alten Bäumen bewachsenes Stückchen Land. Somit konnten wir die Überquerung des schnell fließenden Gewässers in zwei Etappen angehen, wenn wir wollten, und auf der Insel eine Pause einlegen. Wir standen vor der ersten Flussüberquerung und zögerten naturgemäß. Keiner verspürte rechte Lust, so kurz vor Sonnenuntergang noch pitschnass zu werden. Noch viel weniger gefiel mir die Tatsache, das Gepäck nicht vor der Feuchtigkeit schützen zu können. Doch es ließ sich wohl nicht umgehen.

„Heute noch rüber heißt auf nassen Decken schlafen“, argwöhnte ich. „Keine gute Idee. Wir sollten das auf morgen verschieben, was haltet ihr davon?“

Wir vertagten es also auf den kommenden Tag, was nicht hieß, sich kein ausgiebiges Bad im Skelettfluss zu gönnen. Das wohltemperierte Wasser entpuppte sich als eine Wohltat für erschöpfte Beine und schmerzende Füße. Träge ließ ich mich im Uferbereich fernab der Strömung treiben, die noch wärmenden Strahlen der sich neigenden Sonne genießend.

Krister und Luke zeigten sich agiler. Sie schwammen hinüber zur Flussinsel. Ohne störendes Gepäck legten sie die gut fünfzig Meter in Nullkommanichts zurück und nahmen das winzige Eiland in Besitz. Ich überlegte, ob sie damit bereits das Territorium Laurussias betreten hatten, schlug die Insel jedoch großzügig Aotearoa zu.

Die kleine Flussinsel bestand lediglich aus einer Gruppe von Laubbäumen, imposanten Kauris von beeindruckender Größe. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit waren auch sie es, die dem kleinen Stück Land halfen, sich mitten im Strom zu behaupten. Das Wurzelwerk der grünen Riesen musste tief reichen, tief genug, um der Insel die nötige Standhaftigkeit zu verleihen.

Krister erklomm das von knorrigen Baumwurzeln umklammerte Stück Land, richtete sich zu seiner ganzen Größe auf und rief etwas Undefinierbares zu mir herüber. Luke riss die Arme hoch und stimmte in das Geheul ein. Wie drei Krieg spielende Kinder johlten wir schließlich alle um die Wette. Ich sah Luke springen und kurz darauf schwebte er an einer Liane hängend zwischen Himmel und Erde, gab sich immer mehr Schwung und landete endlich laut klatschend im Wasser. Krister tat es ihm gleich, mit einem kühnen Schrei auf den Lippen stieß er sich ab und ließ sich weit auf den Fluss hinaus tragen, bevor er mit dem Kopf voran in den Fluten des Skeleton verschwand.

Wie ein wohlwollender Vater beobachtete ich die beiden lächelnd aus der Ferne, verspürte selbst aber nur geringe Lust, in das allgemeine Tohuwabohu einzustimmen. Jedoch konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen, als Luke und Krister gleichzeitig an der heftig schwingenden Liane hingen und lachend und schreiend versuchten, einander abzuwerfen. Schließlich war es Krister, der mit einem lauten Aufschrei den Halt verlor und ins Wasser klatschte. Jauchzend vor Freude schwang der Gewinner hin und her und genoss seinen Sieg in diesem brüderlichen Duell.

Krister verlor als erster das Interesse an der Liane. Er ließ sich von der Strömung ans Ufer treiben und watete durch das halbhohe Schilf zurück. Ich schickte mich an, irgendeine kluge Bemerkung über Erwachsene und Kinderspiele zum Besten zu geben, als mir Krister zurief: „Sieht so aus, als seien wir nicht die ersten, die hier verweilen.“

Ich horchte auf. „Wie meinst du das?“

Krister zog sich die Böschung hoch und warf sich neben mich. Ein kühler Tropfenschauer prasselte hernieder. „Nun ja, meinst du, das Seil ist von selbst an diesem Baum gewachsen?“

Meine Augen verengten sich. „Ein Seil? Ich nahm an, es sei eine Liane oder irgendein anderes Klettergewächs.“

Er lachte. „Von weitem sieht es auch tatsächlich so aus. Aber es ist keine. Es handelt sich um ein richtiges, aus Fasern zusammengedrehtes Kletterseil. Hängt da wohl schon länger rum, aber wie auch immer: das Tabu scheint nicht jeden abzuschrecken.“

Ich setzte mich auf und warf einen verwirrten Blick auf Luke, der immer noch hin und her pendelnd an der vermeintlichen Liane hing, die nun doch keine war.

„Was könnte jemanden veranlassen, an dieser Stelle ein Seil zu befestigen? Warum gerade hier? Die nächste Siedlung ist Ewigkeiten entfernt.“

Krister fuhr sich mit allen zehn Fingern langsam durchs nasse Haar.

„Ich wette, drüben finden wir das andere Ende des Seils. Meiner Meinung nach ist es vor noch gar nicht all zu langer Zeit durchtrennt worden, die Schnittstelle sieht jedenfalls frisch aus. Es stellte sicher einmal eine Verbindung von hier auf die andere Seite dar. Vielleicht um trockenen Fußes hinüber zu gelangen. Vielleicht um Ware welcher Art auch immer über den Skeleton zu befördern. Was weiß ich. Aber irgendeinen ähnlichen Zweck wird es wohl gehabt haben.“

Er sah mich prüfend von der Seite an.

„Glaubst du etwa immer noch, wir seien die ersten, die dabei sind, das Tabu zu brechen?“

„Nein, natürlich nicht.“ Ich verfolgte einen gänzlich anderen Gedankengang. „Wie alt schätzt du dieses Seil nochmal?“

Krister zuckte mit den Achseln. „Es hängt sicherlich schon lange hier, beginnt schon zu verwittern. Ein Jahr, vielleicht zwei.“

„Womöglich hat Rob an dieser Stelle übergesetzt.“

„Das halte ich für ausgeschlossen.“

„Was macht dich so sicher?“

„Rob hat eine gute Woche Vorsprung, eher etwas mehr. Das Seil ist auf jeden Fall vor deutlich längerer Zeit hier befestigt worden. Rob hat damit nichts zu tun, davon bin ich überzeugt.“

„Er muss es ja nicht hier angebracht haben, verstehst du? Vielleicht hat er es genau wie wir zufällig gefunden, benutzt und anschließend durchgeschnitten. Sagtest du nicht eben, die Schnittstelle sähe frisch aus?“

„Ja, sie sah so aus. Aber warum sollte er das tun?“

„Möglicherweise, um seine Spur zu verwischen.“

„Zu verwischen? Vor wem denn?“

Nun war ich ratlos. „Keine Ahnung... aber ich werde das Gefühl nicht los, er war hier. Genau an dieser Stelle.“

Es gab nicht den geringsten Beweis dafür, doch tief in mir bestätigte eine wissende Stimme jene aus der Luft gegriffene Theorie. Plötzlich fühlte ich mich hier am Ufer des Grenzflusses zwischen Aotearoa und Laurussia schutzloser denn je. Eine nicht greifbare Bedrohung senkte sich wie ein rätselhafter Schatten auf meine Sinne herab.

„Ich halte es für besser, die Nacht auf der Flussinsel zu verbringen“, hörte ich mich sagen, während ich noch darüber nachdachte.

„Also doch auf nassen Decken schlafen?“

„Frag nicht warum. Tun wir es einfach!“

Krister nickte billigend. „Gut, tun wir es. Sieht sowieso nach einer warmen Nacht aus, wir werden die Decken womöglich gar nicht brauchen.“

In jener Nacht wollte sich kein erholsamer Schlaf einstellen. Immer wieder schreckte ich von hektischen Träumen geplagt hoch, nicht wissend wo ich mich befand. Mit unruhig klopfendem Herzen spähte ich von unerklärlicher Besorgnis befallen lange Zeit hinüber auf das tief im Dunkel ruhende Aotearoa. Mehr als einmal war ich überzeugt, gedrungene schwarze Schatten auszumachen, die bis an die Wasserlinie vordrangen, dort aber Halt machten. Allein, zu keiner Zeit vernahm ich einen anderen Laut als das immerwährende Rauschen des strömenden Flusses.

Schon von Kindesbeinen an verspürte ich wenig Furcht vor der Finsternis. Aber diese Nacht ließ mich ahnen, was in ihr lauern konnte. Die Anwesenheit meiner ruhig schlafenden Gefährten half mir, nicht den Verstand zu verlieren. Was auch immer mich so aufwühlte, das Unbegreifliche ließ sich nicht einfach hinfort wischen. Erfolglos versuchte ich meine Unruhe auf die schlechten Träume zurückzuführen. Allerdings straften die schleichenden Bewegungen im Uferbereich, welche ich überzeugt war gesehen zu haben, meine Bemühungen Lügen.

Endlich übermannte mich pure Erschöpfung. Tief wie der Tod war der Schlaf in den wenigen Stunden vor Morgengrauen, in denen er mir vergönnt war.

Im hellen Licht des neuen Tages schämte ich mich für die Panik der vergangenen Nacht. Darum erwähnte ich sie mit keinem Wort. Welchen Sinn konnte es machen, auch die anderen zu verunsichern? Nichtsdestotrotz schwamm ich noch einmal zurück ans Ufer, nach Aotearoa, um nach verräterischen Spuren zu suchen, fand jedoch nichts, was die Existenz nächtlicher Schatten hätte untermauern können. Ich war bereit, an eine Halluzination zu glauben.

Wir betraten Laurussias Gestade noch am frühen Morgen, einen Landstrich, der auf der Karte mit dem Namen „Lavonia“ vermerkt worden war. Nunmehr war es also geschehen, das Tabu gebrochen... mit einer Leichtigkeit, die ich mir nicht hätte träumen lassen. Was auch immer ich erwartet hatte – oder was uns in der Kindheit vermittelt wurde – in der Realität empfand ich nichts davon. Allein die Tatsache, sich in einer verbotenen Welt zu befinden, ließ dem ganzen etwas Erregendes anhaften. Sonst nichts. Lavonia sah genau so aus und fühlte sich keinen Deut anders an als Ergelad, das nun hinter uns lag.

Krister deutete ins Geäst eines ufernahen Baumes.

„Siehst du, Jack? Ganz wie ich vermutete. Das andere Ende des Seils. Es war also wirklich einmal über den Fluss gespannt gewesen.“

Ich warf einen Blick auf das leise im Wind schaukelnde Tauende.

„Aber es ist nur ein Reststück. Wo sind die anderen fünfzig Meter?“

Krister reagierte mit einer Geste des Bedauerns.

„Ich wollte, ich wüsste es. Es spielt aber auch keine Rolle, oder? Als viel wichtiger erachte ich die Tatsache, dass wir nicht die ersten sind, die den Skeleton überqueren. Ich sag dir was: das Tabu ist nichts weiter als eine schwachköpfige Lüge.“

Er sprach aus, was wir alle bereits vermuteten. Ich wusste nicht, was mich im Moment mehr erschreckte; die Tatsache, den Fluss überquert und damit ein ungeschriebenes Gebot gebrochen zu haben, oder die diffuse Ungewissheit, welche Wahrheiten sich noch in Lügen zu verwandeln gedachten. Dennoch erschien es mir zu früh, um ein Urteil zu fällen. Es passte vieles nicht zusammen, das stand fest. Mich beschäftigte jedoch eine ganz andere Frage: Wenn es so einfach war, das Tabu als Schwindel zu entlarven, zu welchem Zweck beschränkten sich die Menschen seit Generationen auf Aotearoa und mieden so hartnäckig das weite Land östlich des Skelettflusses?

Einen Pfad, der uns hätte weiterführen können, suchten wir vergebens. Irgendwo mussten die Menschen, die an dieser Stelle den Fluss überquert hatten, schließlich weitergegangen sein. Doch uns erwartete dichter, unberührter Dschungel. Nirgendwo auch nur das kleinste Anzeichen eines Weges. Sollte Rob in der Tat hier übergesetzt haben, waren seine Spuren längst verwischt.

Für den Rest des Tages ging es weiter stromaufwärts. Nur diesmal auf laurussischem Gebiet. Mir war ganz wohl dabei. Bei Gefahr konnten wir jederzeit in den Fluss flüchten und den Rückzug nach Aotearoa antreten.

Anfangs erwartete ich bei jedem unbekannten Geräusch aus allen Richtungen heranstürmende Opreju, die uns den Garaus machen wollten, da wir es gewagt hatten, ihr Herrschaftsgebiet zu betreten. Doch auch diese Befürchtung bewahrheitete sich nicht. Es ging dafür stundenlang durch nahezu undurchdringliches Dickicht. Mit Hilfe meines Stabes kamen wir zwar den Umständen entsprechend flott vorwärts, dennoch erwies sich das ständige um sich schlagen als äußerst lästig. Und es schien zudem kein Ende nehmen zu wollen. Krister erkundigte sich irgendwann, wie lange ich mich noch am Fluss entlang voranzukämpfen gedachte. Er schien mein Zaudern zu ahnen, unwiderruflich ins Unbekannte vorzudringen.

„Irgendwann müssen wir ja doch“, gab er zu bedenken.

„Dessen bin ich mir bewusst“, erwiderte ich zögernd. „Ich befürchte nur, wir erreichen zu früh die Hyperion Bay und verlieren zuviel Zeit mit ihrer Umrundung.“

Krister durchschaute den Vorwand sofort.

„Nicht, wenn wir leicht südöstlichen Kurs einschlagen. Außerdem wäre mir wohler, so schnell wie möglich wieder das Meer zu erreichen.“

Dem stimmte ich zu. Küstenmenschen, die wir nun einmal waren, wussten nur wenig anzufangen mit Wäldern und Bergen. Wir einigten uns darauf, dem Fluss bis zum Einbruch der Dunkelheit zu folgen, einen Lagerplatz für die Nacht zu suchen und vom kommenden Tag an ins Innere Laurussias vorzustoßen.

Viel zu bald stellte sich mächtiger Hunger ein. Kein Wunder, die Nahrungsaufnahme hatte an diesem Tag noch wenig im Mittelpunkt gestanden. Körperliche Anstrengung gepaart mit hoher Aufmerksamkeit forderten jedoch schlussendlich widerspruchslosen Tribut. Zu unserer Freude fanden sich auf einer sonnenbeschienenen Lichtung Unmengen leuchtend weißer Trichterlinge, die wie zeitige Schneeflocken im späten Herbstgrün anmuteten. Wir nahmen das Geschenk der Natur dankbar an und legten eine Rast ein. Angebraten im ausgelassenen Fett des glücklosen Kaninchens von vorgestern Abend nahmen die Pilze eine pechschwarze Färbung an und wirkten weit weniger appetitlich. Doch das tat ihrem Geschmack keinen Abbruch, er entsprach allerhöchsten Erwartungen. Luke war einigermaßen erstaunt, so viele Trichterlinge auf einem Haufen gefunden zu haben, vor allem so früh im Jahr.

„Wieder ein Beweis für die Abwesenheit von Menschen“, führte er an. „Niemand würde diese Leckereien ungepflückt stehen lassen! Niemand!“

Ich lächelte. „Nun ja, du wirst zugeben müssen, dass es sich hier um ein wirklich abgelegenes Gebiet handelt, und wir die Pilze letzten Endes auch nur zufällig entdeckt haben. Und was ist das jetzt?“

Luke fügte dem auf dem Feuer schmorenden Gericht grob zerkleinertes Grünzeug hinzu, welches einen scharfen Zwiebelgeruch verbreitete.

„Ramslauk natürlich. Wilder Agghia wäre natürlich noch besser, aber leider habe ich keinen gefunden. Aber der Ramslauk wird es auch tun, selbst wenn er natürlich nicht das verwegene Aroma von Agghia erreicht. Das Zeug wächst unten am Fluss in Massen.“

„Aha.“ Ich hatte weder von der einen noch von der anderen Pflanze jemals gehört. Aber ich ließ Luke machen, in dieser Hinsicht durften wir ihm vertrauen. Das schmackhafte Pilzgericht reihte sich dann auch nahtlos in die Reihe kulinarischer Köstlichkeiten ein, die Luke stets im Vorbeigehen zu finden wusste. So mussten keine Angelruten ausgeworfen werden, um ein paar unvorsichtige Fische aus dem Skelettfluss zu ziehen.

Noch vor Einbruch der Dunkelheit löschten wir das Feuer. Jetzt, da wir uns unwiderruflich im „Feindesland“ befanden, galten erhöhte Vorsichtsmaßnahmen. Von nun an mussten wir auch nachts auf der Hut sein, konnten uns nicht den Fehler erlauben, im Schlaf überrascht zu werden. Ich erklärte mich bereit, die erste Wache zu übernehmen, nicht zuletzt wegen der Furcht vor meinem unruhigen Geist und seiner Eigenschaft, friedlose Träume zu produzieren. Doch unsere erste Nacht auf dem Boden Laurussias verlief ohne besondere Vorkommnisse.