Kitabı oku: «Jenseits der Zeit - Historischer Mystery-Thriller», sayfa 7

Yazı tipi:

Jacob las »Don Kichote de la Mantzscha« auf dem Buchdeckel. Das berühmte Werk, das es bereits so lange gab. Doch von Elmendorff stellte es schon wieder zurück.

»Oder das hier?« Jetzt zog er ganz vorsichtig ein kunstvoll verziertes Buch heraus, und als er es aufschlug, sah Jacob detaillierte Kupferdrucke zwischen dem Text. »‚Robinson Crusoe‘ von Daniel Defoe, eines meiner Lieblingswerke. Aber wir wollen unsere deutschen Meister nicht vergessen.« Er stellte »Defoe« ins Regal zurück und ging zu der Stelle, wo Jacob den ersten Titel gelesen hatte. »Unser Friedrich Schiller hat uns schließlich ‚Kabale und Liebe‘ geschenkt. Das hier ist die Erstausgabe von 1784.« Stolz schwang in seiner Stimme mit. Doch das Buch stellte er schon wieder zurück und entnahm ein weiteres. »Aber allem voran natürlich ‚Die Leiden des jungen Werther‘«

»Goethe«, rief Jacob. Sein Vorbild! Er steckte schnell »Gulliver« an seinen Platz und eilte zu von Elmendorff, der ihm schmunzelnd das Meisterwerk überließ.

Herold, dessen Anwesenheit gar nicht mehr zu bemerken gewesen war, räusperte sich.

»Herr von Elmendorff, darf ich zu dem Anlass unseres Besuches kommen?«, fragte er.

»Aber natürlich, erzählt mir, wie ich zu der Ehre komme, die erwachsenen Söhne meines alten Freundes kennenzulernen.«

Von Elmendorff ging wieder zu seinem Sessel zurück und ließ sich hineinplumpsen. Mit einer Handbewegung bot er Herold einen Platz auf einem Stuhl an. Herold setzte sich.

Jacob stellte fest, dass der »Werther« drei Mal im Regal stand. Warum kaufte sich jemand das gleiche Buch mehrfach?

»Wir betreiben die Nordmühle«, fing Herold an zu erzählen und von Elmendorff nickte, als wusste er das bereits. »Vor einigen Tagen wurde sie zerstört, ohne unser Verschulden. Wir verdächtigen zwei Männer, mit denen wir einen Streit hatten, können aber nichts beweisen. Die Stadt Oldenburg, der die Mühle gehört, hat uns auferlegt, sie zu reparieren, aber weiterhin müssen wir den Pachtzins zahlen. Deshalb suchen wir einen Geldgeber. Ich erinnerte mich an Sie und dachte, dass Sie vielleicht interessiert wären.«

Ein Klopfen ließ, obwohl es leise war, die Glasscheiben in der Tür erzittern. Von Elmendorff bat einzutreten und die Haushälterin kam mit einem gefüllten Tablett in die Bibliothek.

»Warum glaubst du, dass ich daran interessiert sein könnte?«, fragte von Elmendorff.

»Es wäre ein gutes Geschäft für Sie. Das Geld erhalten Sie mit Zinsen zurück. Und wir können auch noch über eine Gewinnbeteiligung reden«, antwortete Herold.

Die Haushälterin deckte das Tischchen mit einer Kaffeekanne, drei Porzellantassen, Behältern mit Milch und Zucker, kleinen Löffeln sowie einem Teller mit Gebäck.

»Hm, ein gutes Geschäft, sagst du.« Von Elmendorff linste zu dem Gebäckteller. »Aber gute Geschäfte mache ich zu Hunderten und fast alle sind weniger riskant, als dieses wäre. Wie ist denn sichergestellt, dass ich mein Geld überhaupt zurückbekomme, geschweige denn die Zinsen oder eine Gewinnbeteiligung?«

Jacob stellte den »Werther« ins Regal zurück und setzte sich an den Tisch, um sich dem Kaffee zu widmen, den die Haushälterin in die Tassen goss. Anschließend ließ sie die Männer wieder allein.

Herold schilderte von Elmendorff seinen Plan, so wie er ihn schon Jacob geschildert hatte. Nur die Zeichnungen konnte er nicht anfertigen, da er Papier und Tinte nicht zur Verfügung hatte. Aber Jacob hatte den Eindruck, dass von Elmendorff, der sich außerordentlich an dem Gebäck gütlich tat, trotzdem gut verstand, worum es ging. Die Kekse fand Jacob auch sehr köstlich, vom Kaffee war er enttäuscht - er hatte ihn weitaus leckerer in Erinnerung, vielleicht gab es da aber Unterschiede.

Nachdem Herold seine Pläne erläutert hatte, trat ein kurzes Schweigen ein.

»Euer Vorhaben leuchtet mir ein.« Der Herr des Hauses nahm einen Schluck Kaffee und griff zum nächsten Keks, der einseitig mit Schokolade überzogen war. »Das ist ein wirklich guter Plan. Geradezu genial. Ich verstehe ein wenig von diesen technischen Dingen. Und ich teile deine Einschätzung, dass ihr in Zukunft eure Einnahmen mit der Erweiterung der Mühle vergrößern werdet.« Er biss von dem Keks ab und betrachtete ausgiebig die Bissstelle. »Doch es gibt da ein paar Sachen, die ich noch nicht so richtig verstanden habe. Zum einen: Warum müsst ihr den Aufbau einer Mühle finanzieren, die doch nicht euer Eigentum, sondern das der Stadt Oldenburg ist?« Den Rest des Kekses steckte er sich als Ganzes in den Mund.

»Wir waren beim Ratsherrn von Zölder ...«, setzte Herold an.

»Ach, bei dem Zölder wart ihr!« Von Elmendorff lehnte sich im Sessel nach vorn, wodurch die Belastungsprobe der Westenknöpfe auf ein Maximum erhöht wurde. Noch hielten sie, aber Jacob konnte sie fast stöhnen hören.

»Ja«, fuhr Herold offenkundig leicht irritiert fort. »Der Ratsherr macht uns für die Zerstörung verantwortlich und sieht uns in der Pflicht die Mühle wieder aufzubauen.«

Herold gab eine kurze Zusammenfassung der Unterredung mit von Zölder. Währenddessen wurde die Miene von Elmendorffs immer grimmiger und er vergaß sogar die Kekse.

»Aber das braucht ihr so nicht stehen zu lassen«, schimpfte er dann. »Wendet euch an Peter Friedrich Ludwig. Das ist ein gerechter Mann. Oder zumindest an den Bürgermeister. Ich würde euch dabei unterstützen.«

Herold zog die Stirn in Falten und sah zu Boden. Seine unverkennbare Grüblergeste. Jacob wusste, was in ihm vorging.

»Wenn Sie uns diesen Vorschlag vor sechs Tagen gemacht hätten, wäre mein Bruder sicherlich sofort darauf eingegangen. Doch jetzt möchte er seinen genialen Einfall in die Tat umsetzen. Die Mühle ist sein Ein und Alles, auch wenn sie ihm nicht gehört.«

Herold sah wieder auf.

»Ja, aber es ist nicht nur deswegen«, sagte er. »Die Mühle wird durch den Umbau schließlich zukünftig einen höheren Ertrag einbringen. Das haben Sie selber gerade gesagt.«

»Hmm, ... in Ordnung, kommen wir damit zu meiner nächsten Frage: Warum glaubst du, dass man dir den Ertrag lassen wird? Dadurch, dass du die Mühle umbaust, gehört sie immer noch nicht dir.«

»Der Ratsherr hat gesagt, wir sollen die Mühle wieder aufbauen, wie es uns beliebt. Es sei ihm egal, wie wir das anstellen. Wir nehmen ihn beim Wort, handeln also nach seinen Anweisungen. Dafür kann er uns doch nicht die Pacht erhöhen.«

»Oh, er kann so einiges. Nehmt euch vor diesem Mann in acht. Er ist so verschlagen, dass er sicherlich einen Weg finden wird, euch das Geld abzunehmen.«

Von Elmendorff nahm sich wieder einen Keks und lehnte sich im Sessel zurück. Anders als vorher biss er immer nur ein kleines Stück ab, mümmelte darauf herum und starrte ins Leere. Das war dann wohl seine Art, über etwas nachzudenken.

Schließlich sah er Jacob und Herold abwechselnd an.

»In Ordnung. An welche Summe habt ihr denn gedacht?«

Herold machte einen verlegenen Eindruck, da er nun den Betrag nennen sollte.

»Nun, ja, wir haben ausgerechnet, dass wir etwa 90 Reichstaler bräuchten, um uns und die Arbeitskräfte zu versorgen und Ersatzteile und Material zu kaufen.«

Jacob beobachtete von Elmendorff mit angehaltener Luft, doch der zuckte mit keiner Wimper, als er den Betrag hörte. Er wirkte, als würde er im Kopf rechnen.

»Also gut«, sagte er nach einem Augenblick. »Ich leihe euch 60 Reichstaler und nicht einen Schwaren mehr. Der Zinssatz soll 10 Prozent aufs Jahr betragen, aber dafür verzichte ich auf eine Gewinnbeteiligung.«

Jacob glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu können. Das waren ja nur zwei Drittel von dem, was sie brauchten.

»Aber wir brauchen doch 90 Reichstaler. Wie sollen wir das denn mit 60 Reichstalern schaffen?«, platzte er heraus.

»Jacob!«, schalt Herold ihn.

Von Elmendorff begann zu lachen, dass sein Bauch wippte und sein Doppelkinn nur so schwabbelte.

»Junge, du bist ja ganz wie dein Vater vor 30 Jahren. Und ihm habt ihr es zu verdanken, dass ich euch das Geld überhaupt leihe, jeden anderen hätte ich zum Teufel gejagt.« Er wurde wieder ernst. »Versteht mich nicht falsch. Ich glaube, dass euer Vorhaben gut ist, und ich besitze genug Menschenkenntnis, um zu wissen, dass ihr das hinbekommt und durchsteht. Die neue Mühle wird funktionieren und ihr werdet letztendlich mehr Einnahmen haben, davon bin ich überzeugt. Wovon ich aber nicht überzeugt bin, ist, ob man euch das Geld lassen wird. Denn ich kenne auch von Zölder. Bisher hat er immer Mittel und Wege gefunden, seinen Willen durchzusetzen. Deshalb bin ich nicht bereit, mehr zu riskieren, und ihr solltet es auch nicht sein. Seht zu, dass ihr es mit 60 Reichstalern schafft.«

Jacob war verwirrt. Was sollte das bedeuten? Dass er ihnen zu ihrem eigenen Besten weniger Geld leihen wollte? Und was hatte es immer mit diesem Gefallen auf sich, den ihr Vater ihm getan hatte?

»Warum reden Sie immer von diesem Gefallen? Was hat er Ihnen denn für einen Gefallen getan?«, brauste er weiter auf.

Erneut musste sich von Elmendorff den Bauch halten vor Lachen, bevor er antwortete, was Jacob noch mehr in Aufruhr versetzte, weil er sich ausgelacht fühlte.

»Die alten Geschichten sollte man nicht wieder aufwärmen. Vielleicht erzähle ich euch irgendwann einmal davon, aber im Moment soll es mal gut sein.« Er wischte sich Tränen aus den Augenwinkeln. »Es ist nur so, dass ich immer sehr bedauert habe, was damals geschehen ist und welches Ende Diether nahm, und ich freue mich, dass ich jetzt auf diese Weise seinen Söhnen helfen kann. Vorausgesetzt, ihr wollt meine Hilfe annehmen.«

Er sah Herold an.

»Ja, sehr gerne, vielen Dank«, entgegnete dieser auf der Stelle.

»Dann lasse ich bis morgen von meinem Advokaten einen Vertrag aufsetzen und das Geld besorgen. Kommt am besten morgen um die gleiche Zeit wieder her, damit wir den Rest regeln können.«

Anschließend ging alles sehr schnell. Herold gab von Elmendorff die Hand und verabschiedete sich, und als hätte sie auf ein Stichwort gewartet, stand die Haushälterin im Raum, um sie hinauszubegleiten. Dabei hätte Jacob noch so viele Fragen gehabt. Sehnsüchtig warf er einen letzten Blick auf die Bücher, als sie die Bibliothek verließen. Und kurze Zeit später waren sie wieder vor dem Haus auf der Straße.

Herold marschierte strammen Schrittes in Richtung Norden. Jacob hatte Mühe, hinterherzukommen. Wollte sein Bruder ihm etwa ausweichen? Ahnte er vielleicht, dass Jacob nicht nur verwirrt, sondern auch verärgert war? Alle Welt sprach von Dingen, die ihn etwas angingen, aber niemand wollte ihm diese Dinge näher ausführen. Jeder Dahergelaufene schien mehr über Jacobs Familie und deren Vergangenheit zu wissen, als er selbst. Das konnte er nicht länger auf sich beruhen lassen.

»Nun warte doch mal«, keuchte er Herold hinterher, doch der dachte gar nicht daran. »Was meinte von Elmendorff gerade damit? Von welchen Ereignissen hat er gesprochen? Was soll Vater geschehen sein? Und was für einen Gefallen hat Vater ihm getan?«

Herold hob sein Tempo eher noch an, als er von der Ritterstraße in die Achternstraße rechts einbog. Warum musste er immer so stur sein? Diese Halsstarrigkeit brachte Jacob zur Raserei. Und dieses Hinterhergehetze! Davon hatte er jetzt genug. Er blieb stehen.

»Verdammt noch mal, nun erzähle mir endlich, was mit unserer Familie los ist!«, brüllte er Herold hinterher, so laut, dass sich diverse Passanten zu ihm umdrehten.

Herold hielt ebenfalls an und schaute sich verlegen nach den Passanten um, die anfingen, miteinander zu tuscheln. Er ging die Schritte zurück, die ihn von Jacob trennten, packte ihn am Handgelenk und zog ihn mit sich, nun nicht ganz so eilig wie vorher.

»Musst du hier so rumschreien? Es muss ja nicht jeder unsere Angelegenheiten mitbekommen.« Sein Griff war so stark, dass Jacobs Handgelenk schmerzte. Er riss sich los und blieb wieder stehen.

»Dann erzähl mir endlich, was mit unserer Familie los ist«, giftete er Herold an.

»Ja, in Ordnung, aber komm mit. Die Leute zeigen ja schon auf uns.« Er ging voraus, wesentlich langsamer, und Jacob folgte ihm. »Was diesen Gefallen angeht, weiß ich genauso wenig wie du. Ich habe keine Ahnung, welchen Gefallen Vater ihm getan hat.«

»Und was ist mit den anderen Dingen?«

»Welchen anderen Dingen?«

»Nun stell dich nicht dumm. Diese Häufung von Andeutungen über unsere Familie ist ja wohl äußerst merkwürdig. Zuerst die Bemerkung dieser Raufbolde in der Gastwirtschaft: Der Rest würde uns auch noch genommen werden. Der Rest wovon? Heißt das, uns wurde schon mal etwas genommen?« Herold sagte nichts. Sie überschritten jetzt den Marktplatz, die Silhouette der Gebäude glitt an ihnen vorüber: die Lambertikirche, das Rathaus. Normalerweise genoss Jacob das, doch heute hatte er andere Dinge im Kopf. »Dann von Zölder, ich wäre genauso wie Vater vor 20 Jahren. Kannte er ihn damals?«

Herold räusperte sich.

»Naja, 20 Jahre ist eine lange Zeit ...«, antwortete er ausweichend.

Jacob schüttelte den Kopf. Sein Bruder wollte ihm schon wieder keine Antworten liefern.

»Und jetzt spricht von Elmendorff von irgendwelchen Ereignissen und sagt, dass er bedauere, was damals geschehen ist.« Erneut blieb er stehen und wurde wieder lauter. »Verdammt, nun rücke schon raus mit der Sprache.«

Herold packte ihn abermals am Handgelenk und zog ihn mit.

»Ja, es stimmt«, raunte er. »Es ist damals etwas geschehen, wodurch sich unser Leben verändert hat. Ich war damals jedoch noch ein Kind und habe daher auch nicht alles mitbekommen. Das, was ich weiß, werde ich dir erzählen. Aber nicht jetzt.«

»Warum nicht?«

»Weil wir jetzt da sind, wo wir hinwollen.«

Herold wies auf das Gebäude, vor dem sie standen.

»Was willst du denn hier?«

»Na, was will man schon bei der Post«, sagte Herold und stieg die Stufen zum Eingang hoch. »Einen Brief versenden.«

»Einen Brief? Wem willst du denn einen Brief schicken?«

Herold drehte sich auf der obersten Stufe zu ihm um.

»Nachdem ich diesen Einfall für den Umbau der Mühle hatte, habe ich mich daran erinnert, dass bei uns vor einiger Zeit ein Müller auf der Durchreise übernachtet hatte. Der hatte mir damals von einer Wassermühle in Hamburg erzählt, die wohl die modernste und beste Wassermühle ist, die er kennt. Den Bauherrn dieser Wassermühle will ich einstellen. Deshalb brauche ich seinen Namen und seine Adresse, und um die zu erfragen, sende ich dem Müller von damals diesen Brief.«

Herold drehte sich um und betrat das Postgebäude.

Jacob unten an der Treppe schüttelte lächelnd den Kopf. Sein Bruder! Wahrscheinlich hatte er schon den ganzen Mühlenumbau komplett durchgeplant.

Die nächste Gelegenheit, Herold zu den Ereignissen in ihrer beider Kindheit zu befragen, ergab sich am folgenden Tag in der Frühstückspause. Herold machte gerade ein grüblerisches Gesicht und schaffte es, dabei glückselig zu lächeln. Als Jacob ihn wieder drängte, von den Geschehnissen zu erzählen, verschwand das Lächeln.

»Na gut«, brummte Herold. »Du gibst sonst ja doch keine Ruhe.«

Er sah zum See, dachte kurz nach und begann dann.

»Ich erinnere mich an unsere Eltern so, wie man sich als dreißigjähriger Mann an Geschehnisse erinnern kann, bei denen man zehn Jahr alt war oder sogar jünger. An Geschehnisse, die 20 Jahre zurückliegen.« Er räusperte sich. »Unsere Mutter habe ich als unnahbar in Erinnerung. Sie war wenig herzlich, eher kühl und abweisend. Ich weiß nicht, ob sie mich überhaupt jemals in den Arm genommen hat. Als weibliche Bezugsperson hatte ich vielmehr unsere Zugehfrau.«

Jacob traute seinen Ohren nicht.

»Wir hatten eine Zugehfrau? Eine Haushälterin?«

»Ja, aber unterbrich mich nicht. Es fällt mir schwer genug, aus dieser Zeit zu erzählen. Unterbrechungen kann ich nicht gebrauchen. Hinterher kannst du mich fragen, was du willst.«

Herold hatte auf seinem Teller noch einen Bissen Brot. Den steckte er sich jetzt in den Mund. Nachdem er ihn hinuntergeschluckt hatte, fuhr er fort.

»Unser Vater war da ganz anders. Es stimmt, dass er ähnlich war, wie du heute bist, nicht nur äußerlich. Er war immer fröhlich, lustig, herzlich. Er war es, der mich in den Arm nahm und mir zeigte, dass er mich liebte. Wir haben viel zusammen gemacht. Als ich zehn wurde, sagte er mir, dass ich langsam ein Mann werde und bald mitkommen könnte zur Jagd. Aber dazu kam es nicht mehr.«

Herold machte eine kurze Pause, in der er wieder auf den See schaute.

»Dann kam der Tag, an dem er schwermütig wurde. Er hatte irgendwelche Sorgen, aber ich wusste nicht, was für welche. Als ich unsere Zugehfrau danach fragte, sie hieß übrigens Duretta, meinte sie, dass das schon vorbeigehen würde und ich mir keine Sorgen machen sollte. Aber so kam es nicht, es wurde sogar schlimmer. Unser Vater lachte kaum noch und hatte tiefe Ringe unter den Augen, als würde er kaum noch schlafen. Dann kam alles ganz schnell hintereinander. Zuerst starb unsere Mutter bei einem Unfall. Unseren Vater habe ich danach nur noch einmal gesehen, wie er das Haus verlassen hatte. Er war so aufgelöst, dass er mich nicht einmal bemerkt hatte, obwohl er mich umgerannt hätte, wenn ich nicht schnell zur Seite gesprungen wäre. Das war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Meine Fragen nach seinem Verbleib wurden mir nicht beantwortet und kurze Zeit später sagte man mir, dass auch er tot sei.«

Herolds Stimme brach bei den letzten Worten. Jacob sah ihn an und bemerkte, dass er Tränen in den Augen hatte. Auch Jacob wurde ganz beklommen und er musste schlucken, um den Kloß im Hals loszuwerden.

Nach einer Weile fuhr Herold fort, die Stimme immer noch brüchig.

»Wie es zum Tod unserer Eltern kam, hat man mir nie erzählt. Es dauerte auch nicht lange und wir mussten unser Haus verlassen. Wir sind zu unseren Stiefeltern gekommen, dem alten Müllerehepaar Bernhard und Martha. Sie zog dich auf und ich musste Bernhard in der Mühle mithelfen. Den Rest kennst du.«

Beide schwiegen eine Weile. Der eine musste sich erholen, so wie es Jacob schien, und er selber musste das Gehörte verarbeiten. Eigentlich hätte er Herold jetzt gerne in Ruhe gelassen, aber ein paar Dinge musste er unbedingt wissen.

»Du sagst, wir hatten ein Haus?«

»Oh, ja, und was für eines. Ein großes, schönes Haus. Ich hatte ein eigenes Zimmer. Alles war prunkvoll eingerichtet. Und wir hatten Stallungen und Pferde. Soweit ich weiß, hatten wir auch viele Ländereien. Aber das wurde uns alles weggenommen. Ich weiß nicht, warum. Mir als Zehnjährigen hatte man das nicht erzählt und Bernhard wusste es auch nicht. Heute weiß ich nicht mal mehr, wo sich unser Haus befand und ob ich es heute wiedererkennen würde, wenn ich es sähe.« Er kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. »Woran ich mich erinnern kann, ist eine weiße Pferdeskulptur, ein aufbäumendes Pferd aus Stein. Darauf hat Vater mich manchmal gesetzt.«

»Und wir hatten eine Zugehfrau?«

»Nicht nur das. Wir hatten noch mehr Personal. Jemanden, der sich um die Stallungen kümmerte, einen Gärtner, ich hatte einen privaten Lehrer. Die habe ich alle später nie wieder gesehen.«

»Das heißt, wir hatten einmal viel Geld?«

»Ja, Geld und Ansehen. Die anderen Menschen begegneten unserem Vater immer mit viel Respekt. ‚Herr von Riekhen dieses‘ und ‚Herr von Riekhen jenes‘ ...«

»Was? Wieso ‚Herr von Riekhen‘?«

»Weil wir früher einen Adelstitel führten. Unser Vater war Freiherr von Riekhen.«

1768

Das Pferd preschte über die Wiesen. Das Wasser aus den Pfützen, die sie durchritten, spritzte auf, selbst Diethers Gesicht war bereits nass. Doch es machte ihm nichts, er genoss es. Sie galoppierten am Rande eines Waldes entlang, setzten über einen liegenden Baumstamm. Er rang schon ebenso nach Luft wie sein Hengst. Am Ende des Waldes zog er die Zügel straff und brachte ihn zum Stehen. Lobend tätschelte er den Hals des stolzen Tieres, während beide wieder zu Atem kamen.

Es würde gleich beginnen, dunkel zu werden. Er sollte sich auf den Heimweg machen. Dafür wollte er eine andere Route einschlagen. Er zog am linken Zügel und wendete sein Pferd, um gemäßigter zurück zu reiten.

Etwa eine Stunde später ritt er in seine Stallungen und übergab den Hengst zum Abzäumen und zur Pflege an Klatti, seinem Stallknecht. Er selbst begab sich ins Haus, um sich frisch zu machen. Bald würde das Abendessen gereicht werden. Sicherlich würde es wieder Braten geben, von dem Fleisch des Hirsches, den er vor einigen Tagen erlegt hatte.

Als er kurze Zeit später den Speiseraum betrat, kam ihm der köstliche Duft der Speisen entgegen. Im Kamin loderte ein schönes Feuer, was bei dem recht fortgeschrittenen Herbst wohl angebracht war. Alheyt und Herold saßen bereits an der langen Tafel und erwarteten schweigend seine Ankunft.

»Ah, ihr wartet schon auf mich«, sagte Diether gut gelaunt zur Begrüßung.

Sein Sohn lächelte ihm zu, aber seine Frau zeigte keine Regung.

Diether ging an der Tafel entlang und strich dabei mit den Fingern über die weiße Tischdecke. In der Mitte standen dampfend große Porzellanplatten mit verschiedenen Gemüsen und Kartoffeln. Als er an Herold vorbeikam, strubbelte er ihm über das Haar. Zu Alheyt bückte er sich zum Kusse und sie hielt ihm ihre blasse Wange entgegen. Sie saß nicht sehr dicht am Tisch, weil ihr dicker Bauch es unmöglich machte. Nicht mehr lange bis Diether das zweite Mal Vater werden würde.

Er schritt an der anderen Seite der Tafel entlang, zurück zu seinem Platz, und kaum hatte er sich niedergelassen, betrat Duretta mit der Bratenplatte den Raum. Sie begrüßte ihn, stellte die Platte ab und begann damit, die Speisen und den Wein zu servieren.

Der Hirschbraten schmeckte vorzüglich. Diether ließ sich zwei Mal nachgeben. Die Nachspeise war eine Kombination aus geschlagener Sahne und Äpfeln. Eine sehr süße Angelegenheit, die er kaum anrührte, dem Rest seiner Familie aber zu schmecken schien. Sollte Herold doch seine Schale bekommen.

»Wie war der Unterricht heute?«, fragte er seinen Sohn, den stummen Teil des Abends beendend.

»Hervorragend!« Herold strahlte über das ganze Gesicht. »Jedenfalls nachdem wir mit dem leidigen Lesen fertig waren und uns der Mathematik zugewandt hatten.«

Ja, dachte Diether, ein Dichter würde sein Sohn wohl nicht werden, dann schon eher ein Wissenschaftler. Aber er musste nichts von beidem. Irgendwann würde er das Vermögen erben, von dem seine Familie seit Generationen lebte. Nichtsdestotrotz war Bildung wichtig, weshalb Diether den besten Privatlehrer beschäftigte, den er finden konnte.

Herold berichtete weiter vom Unterricht und davon, was er am Nachmittag draußen unternommen hatte, was er geschnitzt hatte, dass er in den Stallungen geholfen hatte und was ein Zehnjähriger sonst alles erlebte. Diether hörte ihm wohl zu, aber seine halbe Aufmerksamkeit galt Alheyt. In ihrer Schwangerschaft war sie sogar schöner als ohnehin schon. Er musste sie fortwährend anschauen, doch sie erwiderte seinen Blick nicht ein einziges Mal. Die ganze Zeit waren ihre Lider gesenkt und die Augen auf den Teppich gerichtet, als hätte sie dessen Muster zuvor nie gesehen. So verhielt sie sich nicht erst seit heute, sondern bereits eine geraume Weile. Das tat Diether weh. Sicher, sie wurden sehr früh verheiratet, Alheyt war sechzehn und er zwanzig Jahre alt. Aber er hatte sie damals schon geliebt und er liebte sie immer noch, wenn auch auf eine andere Weise. Heute war die Liebe nicht mehr leidenschaftlich, sie war zur Gewohnheit geworden. Seit vielen Wochen hatten sie nicht das Bett geteilt. Er nahm sich vor, das heute Abend zu ändern. Die Schwangerschaft machte ihm dabei nichts aus.

Kurz vor der Schlafenszeit schlüpfte er zu ihr ins Schlafzimmer. Sie saß an der Frisierkommode und bürstete ihr langes blondes Haar. Überrascht sah sie auf, als sie die Tür hörte, und unterbrach das Bürsten. Sie sah ihn erst verwirrt an, doch schnell dämmerte ihr sein Anliegen.

»Was willst du denn noch hier?«, fragte sie trotzdem.

Diether hatte sich vorher nicht überlegt, wie er vorgehen wollte. Er hatte einfach den Entschluss gefasst, dass er mal wieder mit seiner Frau zusammensein wollte, und wollte diesen jetzt in die Tat umsetzen. Deshalb war er ein wenig verlegen darum, wie er antworten sollte, ohne sofort auf den Punkt zu kommen.

»Was für eine Frage. Man darf doch wohl noch seine Ehefrau besuchen.«

»Ts!«, machte sie und setzte das Bürsten fort.

Na ja, dachte Diether, leicht hatte er es noch nie bei ihr gehabt. Ein wenig sanftes Drängen war schon immer nötig gewesen.

Er ging zu ihr und umfasste von hinten ihre Schultern. Sie hatte bereits ihr Nachthemd an, ein dünner Hauch von Stoff, der sich an ihren Körper schmiegte. Mächtig trat der Bauch darin hervor. Er betrachtete sie in dem zweiten Spiegel mit dem verzierten Holzrahmen, der seitlich von ihr stand. Wie sie dort saß mit ihren offenen Haaren, zum Bürsten seitlich nach vorne geholt, war sie einfach wunderschön. Er begann, ihre Schultern zu streicheln. Ihr zarter Nacken bot sich ihm dar, sodass er nicht widerstehen konnte: Er bückte sich und hauchte einen Kuss auf ihre Haut. Alheyt wich dem nach vorne aus.

»Bitte lass mich meine Haare bürsten«, sagte sie und arbeitete sich weiter mit der Bürste vor.

Diether umrundete den Stuhl, auf dem sie saß, nahm ihr die Bürste aus der Hand und legte sie auf die Kommode. Er fasste sie unter Beine und Rücken, hob sie hoch, was aufgrund ihres Zusatzgewichts nicht einfach war, und brachte sie zum Bett. Dort legte er sie ab und schmiegte sich sogleich an ihre Seite. Er öffnete die Schleife ihres Nachthemds und küsste sie seitlich auf Hals und Schultern.

Doch dann merkte er, wie sie dalag: stocksteif, mit geöffneten Augen und zusammengepressten Lippen. Ihre Hände hielten die offenen Seiten des Nachthemds, damit sie nicht wegrutschten und ihre Brust entblößten.

»Was ist mit dir?«, fragte er.

Sie raffte das Nachthemd noch weiter zusammen.

»Glaubst du wirklich, dass das eine so gute Idee ist?«

Ihre Stimme klang schneidend.

»Was meinst du?«

»Denkst du wirklich, dass das, was du vorhast, in meinem Zustand ratsam ist?«

»Aber warum denn nicht? Wir haben es schon so lange nicht mehr gemacht. Und ich werde wirklich vorsichtig sein.« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Weißt du, ich liebe dich doch, und wir waren uns in letzter Zeit nicht besonders nahe.«

»Das liegt vielleicht daran, dass ich dein Kind austragen muss«, sagte sie kalt.

Er stützte sich auf seinen Ellenbogen, um ihr ins Gesicht sehen zu können, doch sie drehte den Kopf zur anderen Seite.

»Aber was sagst du denn da? Mein Kind? Es ist doch unser Kind.« Darauf gab sie keine Erwiderung. »Unser Kind, das aus Liebe entstanden ist. Wir haben es doch gezeugt, weil wir uns lieben.«

»Du hast es gezeugt. Ich war nur dabei.«

Diether bekam einen Kloß im Hals. Er konnte nicht verhindern, dass ihm Tränen in die Augen stiegen. Er wartete einen Moment, denn er wusste, dass seine Stimme brechen würde, wenn er jetzt sprechen würde. Doch als er dachte, es ging wieder, tat sie es trotzdem.

»Liebst du mich denn gar nicht mehr?«

Er wartete ein paar Minuten vergeblich auf eine Antwort. Sie lag weiterhin steif und mit abgewandtem Gesicht da und schwieg.

Inzwischen rannen Diether die Tränen über das Gesicht. Er löste sich von ihr und verließ leise ihr Schlafzimmer. Auf dem Korridor lehnte er sich an ihre Tür und wischte sich mit den Fingern die Wangen trocken. Er dachte an frühere Zeiten, in denen sie sich noch geliebt hatten. Sie waren jung gewesen, äußerst jung. Sie waren leidenschaftlich. Ja, damals hatte er sie sehr geliebt. Aber hatte sie ihn auch geliebt? Oder war sie nur jung und schüchtern und ihm deshalb ergeben?

Er wusste es nicht.

In Diethers Schlafzimmer war es einsam. Und langweilig. Er ging deshalb bald zu Bett, doch er konnte nicht einschlafen. Immer wieder musste er darüber nachdenken, was denn in seiner Ehe fehlgelaufen war. Er fragte sich, was er falsch gemacht haben könnte, dass es so gekommen war, und wälzte sich von einer Seite auf die andere.

Irgendwann hatte er davon genug: Er stand wieder auf. Vielleicht ließ sich in der Küche noch etwas von dem Braten ergattern. Danach war es mit dem Schlafen bestimmt einfacher. Mit bloßen Füßen stieg er die Treppe hinunter. Er versuchte, möglichst wenig Geräusche zu machen, da der Rest der Hausbewohner vermutlich schlief. Auf dem Weg zur Küche ging er an den Räumen der Bediensteten vorbei. Die Türen waren alle verschlossen, und es war kein Lichtschein mehr in den Spalten zu sehen. Doch dann kam er bei dem letzten Raum vor der Küche an, Durettas Zimmer. Diese Tür stand ein Stück offen und drinnen brannte Licht. Diether trat heran und öffnete die Tür weiter. Auf einem Schemel sah er Durettas Arbeitskleidung liegen, aber sie selbst war nicht anwesend.

Diether setzte seinen Weg zur Küche fort und hörte bald scheppernde und klappernde Geräusche. Nanu, war sie noch am Arbeiten? Und tatsächlich: Er betrat leise die Küche und sah Duretta, wie sie Töpfe und andere Kochgegenstände wegräumte. Ihre Haare hatte sie offen. Sie war barfuß, wie er, und trug nur ein leichtes Nachthemd. Das war nicht so hübsch und fein wie das seiner Frau, aber der ansehnliche Körper, der darin steckte, machte diesen Nachteil mehr als wett. Durch den dünnen Stoff konnte er sehen, wie die Brüste bei ihren Bewegungen hin und her schaukelten.

»Du räumst noch auf?«

Duretta hatte ihn nicht reinkommen gehört, und als er sie nun ansprach, erschrak sie dermaßen, dass sie am ganzen Körper zusammenzuckte. Sie fasste sich ans Herz, wodurch die Rundung unter dem Nachthemd noch entzückender aussah. Ihr Haar war durch die plötzliche Bewegung so stark durcheinandergeraten, dass es ihr halb ins Gesicht hing. Was für ein hinreißend süßer Anblick das war! Diether musste schmunzeln.

»Haben Sie mich erschreckt«, keuchte sie. Der Schreck hatte ihr den Atem genommen. »Ja, mir fiel noch ein, dass ich vergessen habe, das hier wegzuräumen. Bitte entschuldigen Sie, aber ich dachte, dass alle schon schlafen würden.«

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
650 s. 1 illüstrasyon
ISBN:
9783753180083
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi: