Kitabı oku: «Jenseits der Zeit - Historischer Mystery-Thriller», sayfa 6
Herold schwieg, während Jacob eine ganze Weile auf die Zeichnung starren musste, bis er glaubte, alles verstanden zu haben. Die Königswelle reichte bis nach unten, dort wandelten Zahnräder die senkrechte in eine waagerechte Drehbewegung um, die wiederum das Rad vom Becherwerk antrieb.
»In Ordnung. Soweit habe ich begriffen. Jetzt musst du mir aber noch verraten, wozu es gut sein soll, das Wasser da oben auszuschütten. Willst du einen Gemüsegarten bewässern und zukünftig Kartoffeln und Wurzeln auf dem Markt verkaufen?«
Herold lachte.
»Wir haben doch den Hügel bei der Mühle. Dort hinauf bringen wir das Wasser«, sagte er.
»Willst du dort oben dein Gemüse anbauen?«
»Nein, dort oben bauen wir ein Becken, in dem wir das Wasser sammeln, wenn wir Wind haben.«
Jacob sah Herold mit offenem Mund an.
»Und wozu soll das wieder gut sein? Wenn du schwimmen willst, kannst du es doch auch direkt im See tun, ohne diesen Aufwand zu betreiben.«
Wieder lachte Herold.
»Weißt du denn immer noch nicht, was ich vorhabe? Wir hatten doch bisher oft Zeiten, in denen kein Wind wehte und die Mühle still stand. Das ist in Zukunft vorbei, zumindest so lange wir Wasser in dem Becken haben. Denn wenn wir nicht genug Wind haben, lassen wir einfach das gesammelte Wasser wieder den Hügel herunterlaufen und treiben damit die Mühle an.«
»Mit dem Wasser? Aber wir haben doch eine Windmühle.«
»Ja, das wird der schwierigste Teil. Dazu brauchen wir zusätzlich ein Wasserrad. Auf der einen Seite der Mühle holen wir das Wasser mit dem Becherwerk aus dem See und auf der anderen Seite führen wir es dem See wieder zu und treiben damit das Wasserrad an, welches den Mühlstein bewegt.«
Einen Moment herrschte Schweigen. Jacob brauchte wieder eine Weile, bis er alles begriffen hatte.
»Verstehst du denn nicht?« Herold wurde langsam ungeduldig. »In Zukunft können wir bei Flaute mahlen, was bedeutet, dass wir unseren Ertrag erhöhen können.«
Jetzt war es Jacob, der lachen musste, als er den gesamten Umfang von Herolds Idee endlich verstand.
»Das ist ja grandios«, überschlug er sich. »Herold, du bist ein Genie.«
»Na ja, mal langsam. Diese Umbauten dauern leider viel länger als die einfache Reparatur. Wenn wir nebenbei noch einer Tagelöhnerarbeit nachgehen müssen, haben wir keine Kunden mehr, wenn wir damit fertig sind. Die sind dann zu anderen Mühlen abgewandert.«
Jacob musterte Herold. Er war noch nicht fertig mit seinen Ideen, das sah man ihm an. Irgendetwas hatte er noch auf Lager.
»In Ordnung, raus damit. Wie können wir dieses Problem lösen.«
»Also gut«, fuhr Herold fort. »Ich sagte eingangs, dass diese Idee der Ausweg aus unserer momentanen Situation sein könnte. Es sieht doch so aus, dass wir gerade keine Einnahmen durch die Mühle haben. Ein paar Tage halten wir es noch aus, aber dann müssen wir uns eine andere Arbeit suchen. Und wir müssen nicht nur unseren Lebensunterhalt bestreiten, sondern zusätzlich die Mühlenpacht zahlen und Ersatzteile zur Reparatur kaufen. Das bedeutet, dass wir sehr viel bezahlt arbeiten müssen und nur wenig Zeit für die Reparatur haben. Also wird das alles sehr lange dauern, sodass uns wohl tatsächlich irgendwann die Kunden abwandern.«
Herold machte eine Pause, damit Jacob das Gesagte verarbeiten konnte.
»Na gut«, meinte Jacob. »Wie kommen wir nun aus dieser Situation heraus?«
»Wenn wir die Mühle auf die Art umbauen, wie ich gerade beschrieben habe, werden wir danach mehr Einnahmen haben als bisher. Und diese Mehreinnahmen müssen wir beleihen. Wir müssen jemanden finden, der uns einen Kredit gibt, den wir später mit Zinsen zurückzahlen. Der Kredit muss so hoch sein, dass wir nicht gezwungen sind, eine andere Arbeit anzunehmen und zugleich noch zwei oder drei Hilfskräfte bezahlen können, die uns bei den Umbauten helfen. Auf diese Weise, denke ich, werden wir schneller fertig sein, als ohne Umbauten.«
»Das hört sich doch prima an«, begeisterte sich Jacob, der erleichtert war, keine Knochenarbeit bei den Gerbern verrichten zu müssen. Dann fiel ihm jedoch etwas ein. »Aber, die Mühle gehört uns doch nicht. Wir dürfen sie nicht einfach umbauen.«
»Auch darüber habe ich schon nachgedacht«, erwiderte Herold. »Jacob, was genau hat der Ratsherr von Zölder gesagt und geschrieben, wie wir die Mühle wieder aufbauen sollen?«
»Was meinst du?«
»Hier, das Schreiben.« Herold reichte ihm den Brief der Stadt über den Tisch. »Sieh es dir noch mal an. Was steht dort?«
Jacob las sich den Text erneut durch und dann ging ihm ein Licht auf.
»Dort steht, dass es egal ist, wie wir es machen.«
»Genau, der Stadt Oldenburg ist es egal, wie die Mühle aufgebaut wird. Und da nehmen wir den Ratsherrn beim Wort und bauen die Mühle nach unserem Ermessen wieder auf.« Nun zog Herold die Augenbrauen zusammen. »Ich sehe da eher ein anderes Problem: Woher bekommen wir das Geld?«
Jacob fiel ein, dass sie in Oldenburg für solche Zwecke seit zwei Jahren eine Einrichtung besaßen.
»Warum gehen wir nicht einfach zu unserer Ersparungscasse? Wenn ich es richtig verstanden habe, wurde sie für solche Zwecke gegründet.«
»Hmm, daran habe ich noch gar nicht gedacht. Eine gute Idee.« Herold kniff die Augen zusammen und kratzte sich am Kopf. »Wir müssen uns allerdings eine ziemlich große Summe leihen, und das, ohne irgendeine Sicherheit bieten zu können. Ich könnte mir vorstellen, dass ein privater Investor einfacher von unseren Plänen zu überzeugen wäre.«
»Wie viel Geld brauchen wir denn?« Jacob hatte nicht den geringsten Hauch einer Vorstellung, was die Umbauarbeiten kosten könnten.
»Na ja, allein das Wasser-Mühlenrad kostet 18 bis 20 Reichstaler. Dann ist es noch nicht mal zur Mühle transportiert und eingebaut. Die Anschaffung eines Mahlsteins, was ich für einen zweiten Mahlgang erwäge, wird bei etwa 3 Reichstalern liegen.« Während Herold aufzählte, welche Kosten entstehen würden, schrieb er die Zahlen untereinander auf das Papier. »Hinzu kommen die Arbeitslöhne für 2 bis 3 Gehilfen mit etwa 12 Grote je Mann und Tag, deren Verpflegung, unsere Verpflegung und sonstige Bedürfnisse, das alles für einen Zeitraum von schätzungsweise 4 Wochen. Dann brauchen wir noch Material für die Erweiterungen, Ersatzteile und den Pachtzins dürfen wir auch nicht vergessen. Vielleicht sollten wir auch einen kleinen Betrag für unerwartete Ausgaben einplanen.«
Herold hatte nun viele Zahlen untereinander auf dem Papier notiert. Er zog einen Strich darunter und ermittelte die Summe. Obwohl das Rechnen nicht gerade Jacobs bevorzugte Disziplin war, schwante ihm schon bei den Einzelbeträgen Böses, und er erwartete mit Spannung das Ergebnis. Als er es sah, pustete er mit aufgeblähten Wangen die Luft aus.
»90 Reichstaler!«, platzte er heraus, und er merkte selber, dass ihm der Schreck anzuhören war. »Das ist ja der Lohn von einem ganzen Jahr!«
»Wie ich schon erwähnte: Wir brauchen eine große Summe«, sagte Herold.
»Wer käme denn außer dieser Ersparungscasse in Frage, uns einen solchen Betrag zu leihen?«
Herold kratzte sich am Kopf und stand auf.
»Darüber habe ich mindestens genauso lange nachgedacht, wie über die Umbauten der Mühle. Und mir ist jemand eingefallen. Ein früherer Freund unseres Vaters.«
»Ein Freund von Bernhard?«
»Nein, ich meine nicht unseren Stiefvater, sondern unseren leiblichen Vater. Ich war damals noch ziemlich klein, aber wenn ich mich recht erinnere, beteiligte sich dieser Herr an allerlei Geschäften. Ein Versuch wäre es wert.«
Jacob sah seinen Bruder ungläubig an. Er hatte noch nie davon erzählt, dass er frühere Freunde ihres Vaters kannte. Und nun wollten sie einen solchen sogar um Geld bitten. Er war gespannt, wie das enden würde.
Heute
Marko steckte den Putter in die Golfbag, fasste sie am Griff und zog sie über den Rasen hinter sich her. Auf dem Grün hatte er nur noch einen Versuch gebraucht, wodurch er bei dem letzten Loch einen Schlag unter Par geblieben war. So hatte er insgesamt heute 81 Schläge gemacht, also 9 über Par. Damit war er einigermaßen zufrieden.
Endlich bei seinem Porsche angekommen, verstaute er die Golfbag auf dem Rücksitz und zündete sich erst noch eine Zigarette an, bevor er losfuhr. Man kaufte sich keinen Panamera für über zweihunderttausend, um darin zu rauchen.
Er polierte gerade einen Fleck mit dem Ärmel seiner Golfjacke von der Motorhaube, als ein Golfkollege auf ihn zu marschierte. Auch das noch: Der hatte seinen Audi TT direkt neben ihm abgestellt. So war ein Gespräch mit diesem Schwachkopf wohl unvermeidbar. Marko überlegte, ob er schnell ins Auto schlüpfen sollte, bevor er bemerkt wurde, aber dann hätte er die halb aufgerauchte Zigarette wegwerfen müssen. Das kam nicht in Frage.
Also musste er da jetzt durch. Dieser spezielle Blödmann unterschied sich von den anderen Blödmännern im Golfclub dadurch, dass er Marko immer vollschwafelte. Er ließ sich nicht einmal davon abschrecken, dass Marko zu ihm besonders unfreundlich und herablassend war. Wie hieß er noch gleich: Jens, Hans ... na ja, wen interessierte das?
»Oh, hallo Marko.«
Allein wie der schon sprach, mit seiner nasalen Stimme.
»Hallo Jens.«
»Dass du dir meinen Namen auch nie merken kannst.« Er kicherte dümmlich. »Ich heiße doch Werner.«
»Ach ja, Jens ist ja der andere Kleinwagen-Fahrer.«
Werner lachte laut los.
»Immer am Scherzen, was?«
»Wie kommst du darauf?«
Wieder dieses dämliche Lachen. Marko sah ihn an, als wäre er ein Studienobjekt. Interessant, wie dieser Armleuchter reagierte, wenn man ihn verarschte.
»Wo ich dich gerade treffe ...« Oh nein, jetzt ging die Schwafelei erst richtig los. Er warf einen Blick auf seine Zigarette. Noch etwa ein Viertel übrig, nicht einzusehen, sie schon wegzuwerfen. Er nahm einen weiteren Zug. »Wir wollen doch abstimmen, welche Investition als Nächstes im Club getätigt wird: das neue Clubhaus oder ein neues Driving Range. Wofür wirst du stimmen?«
Mein Gott, die sollten ihn mit dieser Kacke in Ruhe lassen, er wollte einfach nur Golf spielen. Er musste ein Gähnen unterdrücken.
»Ich habe mich noch nicht entschieden.« Weil es ihm völlig egal war.
»Nein?« Werner kam näher und beugte seinen Kopf vor, als müsste er ihm etwas Vertrauliches erzählen. Seine Golfbag hatte er hinter seinem Audi gelassen. Sie standen jetzt zwischen den beiden Autos. »Nicht, dass ich dich beeinflussen will, aber soll ich dir verraten, wofür ich bin?«
Eigentlich nicht, dachte Marko.
»Das lässt sich wohl nicht vermeiden«, sagte er stattdessen.
»Ich bin für die neue Driving Range. Die alte ist nicht etwa schlecht, aber wir könnten gut eine zweite gebrauchen, dann hätten wir eine für die Anfänger und eine für die alten Hasen. Und die Kosten dafür lägen voll im Budget und wir bräuchten nichts dazu zahlen, wie bei einem neuen Clubhaus. Was meinst du? Wir könnten endlich ungestört lange Schläge üben.«
Marko nahm den letzten Zug von seiner Zigarette, warf den Stummel auf den Boden und zertrat ihn.
»Was ich meine?« Er öffnete die Fahrertür seines Porsches. »Nun, ich bin dir wirklich dankbar, dass du mir bei meiner Entscheidung geholfen hast.« Auf Werners Gesicht machte sich ein zufriedenes Grinsen breit. »Ich werde für das neue Clubhaus stimmen.«
Das Grinsen verschwand schlagartig und wurde von einem irritierten Stirnrunzeln ersetzt.
»Aber du weißt doch, dass wir ein paar Tausend Euro dazu zahlen müssten.«
Marko setzte sich auf seinen Fahrersitz. Jetzt war es an ihm, zu grinsen. Werners verdattertes Glotzen war zu köstlich.
»Was soll’s. Die sollen mir einfach die Rechnung schicken.«
Er rückte die Ray-Ban zurecht, zog die Tür heran und drückte den Start-Knopf. Der satte Sound des Panamera erzeugte ein wohliges Kitzeln in seinem Magen. Als er losfuhr, hatte er den Schwachkopf schon fast wieder vergessen.
Vor Markos Haus auf dem Parkplatz an der Straße stand ein silber-metallic-farbener S-Klasse-Mercedes. Das konnte nur der Anwalt seines Vaters sein, der zwar immer ein neues Auto fuhr, aber seit einer Ewigkeit das gleiche Modell. Wenn der ihm hier auflauerte, war das Jahr wohl wieder rum. Das fehlte ihm heute noch.
Marko wartete, bis das elektrische Tor die Auffahrt freigab, und fuhr dann hinein. Im Rückspiegel sah er, wie der Alte aus seinem Wagen ausstieg und unbeholfen durch das Tor eilte, bevor es wieder geschlossen war.
»Moin Marko«, rief er ihm schon von Weitem zu, sobald Marko die Fahrzeugtür geöffnet hatte.
»Moin Gerhard. Willst du deine jährliche Pflicht erfüllen?«
Als er näher kam, fiel Marko auf, dass er seit dem letzten Jahr stark gealtert war. Sein weißes Haar war zwar immer noch voll, aber sein Gesicht schien Tausende von Falten dazubekommen zu haben und es machte insgesamt einen müderen Eindruck. Auch die Körperhaltung schien gebückter als früher zu sein. Dabei konnte der langjährige Advokat seiner Familie eigentlich erst Mitte sechzig sein. Er trug immer noch die bunten Fliegen zum grauen Anzug, wie Marko feststellte. Heute war sie grün-pink getupft.
»So lange ich noch praktiziere, werde ich dich und deinen Bruder einmal im Jahr aufsuchen. Und ich habe noch nicht so bald vor, in den Ruhestand zu gehen.«
Er taxierte Marko. In seinem Blick lag die gleiche Scharfsinnigkeit wie eh und je. Rechtsanwalt und Notar Gerhard Breimer, wie Marko ihn von klein auf kannte.
»Du siehst ein wenig matt aus«, sagte Gerhard schließlich. »Hängst du noch an der Flasche?«
Marko wusste nicht, was ihn das anging. Er drehte sich von ihm weg und ging zur Haustür, wohin Gerhard ihm folgte.
»Nein, neuerdings benutze ich Gläser.« Er schloss auf, beide gingen hinein und, nachdem er die Alarmanlage deaktiviert hatte, begaben sie sich ins Wohnzimmer. »Darf ich dir etwas zu trinken anbieten?«
Gerhard reagierte nicht auf sein Angebot.
»Ich muss dir die gleiche Frage stellen, wie jedes Jahr wieder, auch wenn du dich im gegebenen Fall eigentlich von dir aus melden sollst«, begann er unvermittelt, wie es seine Art war. »Ist irgendetwas Außergewöhnliches vorgefallen?«
Marko lachte kurz auf und schüttelte den Kopf. Er drehte eines der Whiskygläser mit der Öffnung nach oben und füllte es zu einem Drittel mit dem unvergleichlichen Connemara Bog Oak. Davon nahm er einen großen Zug und ließ ihn eine Weile auf der Zunge ruhen, bevor er ihn hinunterschluckte. Dann machte er ein ernstes Gesicht und furchte die Stirn.
»Halt, warte mal, da fällt mir doch etwas ein.« Gerhard sah ihn betont gelangweilt an und legte den Kopf schief, sodass die Hängebäckchen und das Doppelkinn stärker zur Geltung kamen. »Wie konnte ich das nur vergessen: Der Golfclub bekommt eine neue Driving Range. Na, wenn das nichts Außergewöhnliches ist, dann weiß ich auch nicht ...«
»Ja, ja, wirklich komisch.« Gerhard setzte sich in einen Sessel. »Ich weiß ja, dass du diese jährliche Befragung nicht ernst nimmst. Ich muss aber wie immer betonen, dass es sehr wichtig ist. Darf ich also deinem Vater berichten, dass du darüber nachgedacht hast und dir nichts eingefallen ist, das im Verlaufe des letzten Jahres irgendwie ungewöhnlich war?«
»Du kannst meinem Vater erzählen, was du willst. Das interessiert mich nicht sonderlich.« Er nahm einen weiteren Schluck und genoss das Brennen in der Kehle.
»Marko, bitte, ich muss es aus deinem Munde hören.«
Marko musterte den Anwalt. Der war zwar seit jeher ein Korinthen-Kacker, aber heute nahm er es noch genauer als sonst. Er gab sich normalerweise mit Markos flapsigen Antworten zufrieden und deutete sie als ein Nein.
»Was ist denn los? Warum so ernst?«
Gerhard schaute erst auf das Bild an der gegenüberliegenden Wand, dann auf eine Stelle des Fußbodens kurz vor seinen Füßen. Schließlich sah er wieder Marko an.
»In deinem Elternhaus sind momentan alle ein wenig nervös. Es ist jemand von dieser Sippschaft aufgetaucht, jemand Neues. Und dieser Jemand wühlt in alten Geschichten rum.«
»Oh, mein Gott, jemand wühlt in alten Geschichten rum«, sagte Marko übertrieben betont. Noch nie hatte er verstanden, warum es um seine Familie eine solche Geheimniskrämerei gab. Er ging zum anderen Sessel und setzte sich hinein. »Jetzt geht das wieder los. Dieses Thema geht mir immer wieder auf die Nerven. Entweder erzählt Vater mir diese Geschichten, oder auch du, oder ihr lasst mich damit in Ruhe. Aber dieses Getue darum ist einfach unerträglich. Was sollen das schon für besondere Dinge sein, die man über uns in Erfahrung bringen könnte?«
»Du weißt ganz genau, dass dein Vater es für besser hält, wenn möglichst wenige Menschen davon wissen. Zu gegebener Zeit wirst du alles erfahren.«
»Zu gegebener Zeit ...« Marko schüttelte den Kopf. »Immer dieselbe Leier. Klemens weiß wahrscheinlich schon längst alles.« Er sah Gerhard prüfend an.
»Dein Bruder wird zum gleichen Zeitpunkt davon erfahren wie du. Seine Nähe zu eurem Vater macht diesbezüglich keinen Unterschied.«
Marko war recht gut darin, einzuschätzen, ob jemand die Wahrheit sagte, und bei Gerhard Breimer war er sich gerade sicher, dass er es tat.
»Ist bei Klemens denn etwas Ungewöhnliches passiert?«
»Nein. Ihn habe ich schon besucht, auch wenn ich bei ihm die Befragung nicht unbedingt durchführen müsste, da seine Bürotür direkt neben der eures Vaters liegt und die beiden sich allein im Geschäftsleben täglich begegnen. Bei dir muss ich es aber schon. Also noch mal: Ist im Verlaufe des letzten Jahres irgendetwas Ungewöhnliches passiert? Und rede jetzt keinen Unsinn, du weißt genau, wie ich das meine.«
»Nein, zum Teufel. Und wenn, wüsste Klemens ja davon. Schließlich sehen wir uns regelmäßig.«
»Nun gut, wenn das so ist.« Gerhard erhob sich aus dem Sessel. »Damit habe ich meine Schuldigkeit getan und kann für heute Feierabend machen. So viel muss man in meinem Alter nicht mehr Arbeiten.«
»Moment mal. Was für eine Person ist das denn, die da in den alten Geschichten herumwühlt?«
»Ich denke, es ist besser, wenn ich dir auch davon nichts erzähle. Könnte sein, dass deinem alten Herrn das nicht recht wäre. Wenn du etwas darüber wissen willst, fragst du am besten ihn.«
»Pff, eher gefriert die Hölle.«
Marko überlegte, wie viele Jahre er mit seinem Vater schon kein Wort mehr gewechselt hatte. Es mussten mindestens fünf sein.
Gerhard war bereits bei der Wohnzimmertür angekommen.
»Bemühe dich nicht«, sagte er und hob die rechte Hand zum Abschied.
Ganz sicher nicht, dachte Marko und nippte an seinem Whisky. Einen Moment später hörte er, wie die Haustür ins Schloss fiel.
Sein Vater machte sich also Sorgen, wegen eines Schnüfflers. Von dieser Sippschaft.
Seit jeher wurde diese andere Familie, von der Marko nicht wusste, welche es war, von seiner Familie nur »Sippschaft« genannt. Der Alte von der Sippschaft machte dieses oder jenes, hieß es dann. Als Kind fand Marko es faszinierend, dass diese Sippschaft existierte: Es gab eine gegnerische Familie, wie zwei verfeindete Indianerstämme. Er stellte sich damals vor, wie sie gegeneinander in den Krieg zogen. Als er erwachsen wurde, fand er das alles ziemlich albern. Er hielt es für ein Hirngespinst seines überdrehten Vaters.
Zuletzt hieß es, der Alte von der Sippschaft sei gestorben, wie Marko von seinem Bruder erfahren hatte. Aber das interessierte ihn, wie so vieles aus seiner Familie, so gut wie gar nicht. Die einzigen Dinge, die ihn noch mit ihr verbanden, waren sein Bruder und der Nachname von Zölder.
Marko nahm den letzten Schluck aus dem Whiskyglas und erhob sich, um duschen zu gehen.
1788
Sie durchschritten durch das Heiligengeisttor die Stadtmauer, so wie sie es meistens taten, da sie von Norden in die Stadt kamen. Auf diese Weise gelangten sie von der Hausvogtei Oldenburg, also dem zu Oldenburg gehörenden Teil außerhalb der Stadtmauern, in die Stadt Oldenburg. Sie folgten dem Verlauf der Langen Straße und dann dem der Achternstraße. Kurz bevor diese endete, bogen sie in die Ritterstraße ein. In die feine Gegend, wie Herold immer sagte. Ritter gab es hier allerdings schon lange nicht mehr, eher gut betuchte als gut beschmiedete Bürger. Hier sollte der Herr von Elmendorff wohnen, der Mann, den sie um das Geld zum Aufbau und Umbau der Mühle bitten wollten.
Da standen sie nun zwischen den vornehmen Häusern und schauten sich um. Die Fassaden sahen sich alle sehr ähnlich und es waren nicht wenige. Bei welchem Haus sollten sie anfangen?
Ein Mann mit einem Handwagen kam aus der Richtung des Marktes die Ritterstraße herunter. Als er näherkam, erkannte Jacob, dass er noch einige Äpfel und Pflaumen auf dem Wagen hatte. Den Großteil konnte er wohl auf dem Markt verkaufen.
»Weißt du, in welchem Haus Herr von Elmendorff wohnt?«, fragte Jacob ihn.
Der Mann deutete, ohne ein Wort zu sagen, auf das Haus neben dem, vor dem sie standen, und schlurrte mit seinem Wagen weiter Richtung Stautor. Welch ein Glück, dass gleich der erste Passant den Namen kannte.
Herold schritt zu der Eingangstür und schlug den gusseisernen Türklopfer drei Mal gegen die Platte. Nach kurzem Warten öffnete sich die Tür, und eine ältere Frau mit Kittelschürze und hochgesteckten, grauen Haaren stand darin, die Haushälterin, wie Jacob vermutete. Sie musterte Herold und Jacob von oben bis unten, vermittelte dabei aber nicht den Eindruck, als würde sie sie gering schätzen.
»Ja, bitte?«, fragte sie und wandte sich gleich an Herold.
»Guten Tag«, sagte Herold. »Wir würden gerne den Herrn von Elmendorff sprechen.«
Die Haushälterin sah noch mal zu Jacob, dann wieder zu Herold.
»Herr von Elmendorff hält seine Mittagsruhe. Wer seid ihr denn und was wollt ihr von ihm?«
»Entschuldigen Sie bitte mein Versäumnis.« Herold deutete eine leichte Verbeugung an. »Mein Name ist Herold Riekhen und das ist mein Bruder Jacob. Unser Vater war ein alter Bekannter des Herrn von Elmendorff. Wir wussten nicht, dass der Herr noch schläft. Um welche Uhrzeit kommen wir denn gelegen?«
In dem Moment als Herold ihre Namen nannte, bemerkte Jacob eine leichte Veränderung im Gesicht der Haushälterin. Ihm entging zudem nicht, dass Herold die Angabe des Grundes ihres Besuches geschickt umgangen hatte. Es wäre wahrscheinlich auch nicht sonderlich klug gewesen, schon vor dem Einlass davon zu sprechen, dass sie Geld haben wollten.
»Nun, es ist nicht so, dass er schläft. Zu dieser Zeit pflegt der Herr zu lesen.« Sie zögerte, blickte kurz ins Hausinnere und wirkte, als müsste sie eine Entscheidung treffen. »Also gut, ich denke, dass ich bei euch eine Ausnahme machen kann.«
Sie zog die Eingangstür weiter auf und machte eine einladende Geste. Herold folgte dieser und Jacob sofort hinterdrein. Er war ganz gespannt, denn er würde gleich jemanden kennenlernen, der jeden Tag eine längere Zeit las. Außer seinem Freund, dem Pastor, war er so jemandem noch nie begegnet. Zudem war dieser Jemand früher ein Freund seines Vaters. Offenbar kannte sogar die Haushälterin ihre Namen. Wie sonst ließ sich dieser Wandel ihrer Haltung erklären, der eintrat, als Herold sie vorstellte?
Die Frau führte sie durch einige Flure in den hinteren Teil des Hauses. An den Wänden hingen kostbar wirkende, riesige Wandteppiche, auf denen Landkarten aus verschiedenen Gebieten der Welt abgebildet waren. Jacob kannte sich in Geografie nicht gut aus, aber er erkannte eine Darstellung Italiens und eine Spaniens. Vielleicht war Herr von Elmendorff ein Mann, der viel reiste.
Dann durchquerten sie einen Flur, an dessen Seiten edle Kommoden standen und auf ihnen die schönsten Vasen, die Jacob je zu Gesicht bekommen hatte. Oberhalb der Kommoden hingen Ölgemälde an den Wänden, welche sehr unterschiedliche Motive zeigten, von Landschaften über Gebäuden, von denen Jacob einige aus Oldenburg kannte, bis hin zu Porträts.
»Ich führe euch zur Bibliothek«, informierte die Haushälterin sie, ohne den Schritt zu verlangsamen. »Aber bevor ihr mit reinkommen könnt, muss ich den Herrn fragen, ob ihm euer Besuch recht ist.«
Jacobs Bauch kribbelte vor Aufregung. Eine Bibliothek. Das wurde ja immer besser. Erstaunlich, dass es private Personen gab, die sich so etwas einrichteten. Er war ganz gespannt, welche Bücher sich in von Elmendorffs Sammlung befanden.
Als der Flur um eine Ecke verlief, drehte sich die Haushälterin plötzlich um und erhob die Hand mit der Handfläche voran in seine und Herolds Richtung.
»Wartet kurz hier«, sagte sie und verschwand um die Ecke.
Jacob ging zwei Schritte vor und spähte in den nächsten Gang, der sich hinter der Ecke erstreckte. Dort stand die Frau vor einer zweiflügeligen Tür mit Glasfenstern, die durch Vorhänge verdeckt waren, und klopfte an. Jacob hörte eine Stimme aus dem Zimmer. Er konnte zwar nicht verstehen, was sie sagte, aber dass die Person, der sie gehörte, von der Störung nicht erfreut war, konnte er am Tonfall ausmachen. Die Haushälterin trat daraufhin ein und lehnte die Tür hinter sich an.
Von dem Gespräch war dann hauptsächlich die höhere Stimme der Frau zu vernehmen, doch leider war kein einziges Wort zu verstehen. Gerade wollte Jacob näher an die Tür herangehen, er fing sich schon einen missbilligenden Blick von Herold ein, da kam die Haushälterin wieder heraus. Sie zog die Augenbrauen hoch, als hätte sie ihn beim Lauschen erwischt, dabei hatte er ja noch gar nicht damit angefangen.
»Bitte tretet ein, der Herr möchte euch empfangen«, sagte sie und machte die gleiche einladende Geste wie kurz zuvor.
Das erste, was Jacob in der Bibliothek wahrnahm, war der muffige Geruch. Aber der war für ihn nicht unangenehm, denn er wusste, dass er von den Büchern herrührte. Und davon gab es hier Hunderte, wie er feststellte, bevor er den Herrn von Elmendorff auch nur ansah. Herold dagegen war bereits dabei sie vorzustellen.
»Guten Tag Herr von Elmendorff«, vernahm Jacob nebenbei, während seine Augen hin und her schnellten, in dem Bemühen möglichst alles zu erfassen. Die Bücher reihten sich in Regalen, die sich an drei Zimmerwänden vom Fußboden bis zur Decke erstreckten. Für die oberen Reihen stand eine rollbare Leiter bereit. »Das ist mein Bruder Jacob und ich bin Herold Riekhen, Söhne von Diether Riekhen. Ich dachte mir, dass Sie uns vielleicht anhören würden, wenn wir Ihnen seinen Namen nennen.«
»Ja, das habt ihr richtig vermutet. Schon lange habe ich nicht mehr den Namen meines alten Freundes gehört.«
Als Jacob nun die gutmütige Stimme des Mannes hörte, der seinen Vater einen »Freund« nannte, sah er ihn das erste Mal an. Von Elmendorff war ein mittelgroßer, dicklicher Mann, dessen Arme zu kurz für seinen Körper schienen. Dem schlechten Sitz der weiß gepuderten Perücke nach zu urteilen, hatte er sie sich unmittelbar vor ihrem Eintreten hastig wieder auf dem Kopf platziert. Unter diesem Ungetüm einer Frisur befand sich ein pausbackiges Gesicht, das dafür, dass dessen Besitzer wohl bis vor zwei Minuten in dem wuchtigen Polstersessel hinter ihm gesessen hatte, recht rot war. Auch sein himmelblaues Justeaucorps hatte er sich offenbar schnell übergeworfen, denn nicht nur, dass es nicht zugeknöpft war, der Hemdkragen wurde zudem vom Revers zusammengeknautscht. Die Knöpfe der ebenfalls himmelblauen Weste waren zwar geschlossen, wurden jedoch aus eben diesem Grunde einer harten Probe unterzogen, da der darunter befindliche Bauch kurz davor war, sie zu sprengen. Der Blick von Elmendorffs war ebenso gutmütig und freundlich wie seine Stimme. Er war permanent auf Jacob gerichtet und der Glanz seiner Augen verriet, dass er ebenfalls in Jacob seinen Vater sah und sich in frühere Zeiten zurückwünschte.
Neben dem Sessel stand ein Tischchen, auf dem ein dickes Buch abgelegt war. Den Titel konnte Jacob nicht erkennen. Als gehörte der Wälzer zu einem Gedeck, waren drum herum eine leere Teetasse, eine Teekanne sowie ein kleiner Teller mit Krümeln darauf angeordnet.
»Räume bitte das Geschirr ab«, wies von Elmendorff seine Haushälterin an, als hätte er Jacobs Gedanken gelesen und falsch gedeutet. Sein Tonfall war bestimmend, aber trotzdem freundlich und gar nicht gebieterisch. »Und bring uns bitte Kaffee.«
Kaffee, dachte Jacob. Wann bekam er den schon mal zu trinken? Vielleicht in Zukunft öfter, falls sie mit der neuen Mühlentechnik wohlhabender werden sollten, doch bisher war der für sie zu teuer.
Die Haushälterin sammelte das Geschirr vom Tisch und verließ das Zimmer. Jacob konnte seine Aufmerksamkeit nicht mehr länger von den Büchern fernhalten. Ein ganzer Raum voller Bücher ging eigentlich über sein Fassungsvermögen.
»Die Bücher scheinen dich zu interessieren. Das ist schon mal ein sympathischer Wesenszug«, meinte von Elmendorff.
Jacob machte einen Schritt auf die rechte Regalwand zu.
»Haben Sie die alle gelesen?«
Er konnte sich nicht vorstellen, dass ein Mensch in seinem Leben so viele Bücher lesen konnte.
»Die meisten.«
Etliche der Titel, die er beim Näherkommen entziffern konnte, interessierten Jacob nicht, denn es gab beispielsweise reihenweise Gedichtbände und Reiseberichte. Seine Vorliebe galt den Geschichten. So wurde er eher aufmerksam, als er die »Geschichte des Agathon« von Christoph Martin Wieland entdeckte. Dann sah er ein Buch, von dem er schon gehört hatte und das er gerne einmal lesen würde: »Gullivers Reisen« von Jonathan Swift. Ohne nachzudenken, griff er zu und zog es aus dem Regal.
»Halt, halt, bitte nicht!«, sagte von Elmendorff und bewegte seine Leibesfülle erstaunlich schnell zu ihm herüber. »Lass mich das bitte machen.«
Doch Jacob blätterte bereits in dem Buch und erfreute sich an einigen Formulierungen, die er beim Überfliegen aufschnappte.
»Du magst Abenteuer, ja? Wie wäre es dann hiermit?« Von Elmendorff zog ein Buch heraus, das ein paar Plätze neben der Lücke stand, die »Gulliver« hinterlassen hatte. »Miguel de Cervantes Saavedras amüsante Geschichte eines Möchtegernritters.«