Kitabı oku: «Tschapka», sayfa 3

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Kaportzkes Regeln waren zehn an der Zahl. Wie die zehn Gebote von Moses. Nur mit dem entscheidenden Unterschied, dass Kaportzkes Regeln die Ausgeburt der Hölle waren. Jede einzelne Regel triefte nur so vor Hass und Niedertracht. Spätestens jetzt war mir klar: Jeder in diesem Saal war nichts anderes als ein kleiner mieser Drücker und Kaportzke der Anführer dieser Horde. Mit nichts anderem hatte ich es hier zu tun. Ich war kaum drei Schritte von der Tür zur Hotellobby entfernt, ein Sprung, dann nur noch Laufen, irgendwann die Hotelrechnung bezahlen. Doch unser Einpeitscher war schon dermaßen von allen guten Geistern verlassen, er hätte mich wohl wild entschlossen wieder einfangen lassen. Dann ballte Kaportzke eine Faust, hob sie zur Decke empor, so als ob er direkten Kontakt zum Teufel aufnehmen wollte, obwohl ich die Hölle genau dort nicht vermutete, und sprach: „Nicht die Vorteile für den Kunden interessieren uns, nicht das Produkt interessiert uns, nur wir sind von Interesse. Es geht nur um unsere Vorteile und um unser Geld. Und denkt daran, wir fallen unbarmherzig in die Städte ein wie Wanderheuschrecken! Wir durchfressen uns von Süd nach Nord, von West nach Ost, wir zernagen und zerkauen unsere Kunden und unter unserer Chitinschicht sammeln wir Aufträge, bis unsere Panzerungen zu platzen drohen!“

Dann brüllte er fragend in die Menge: „Was sind wir?“

Die Kolonne hauchte in zartem Ton zurück: „Wanderheuschrecken!“

„So wie ihr es von euch gebt, seid ihr keine Wanderheuschrecken, sondern nur lächerliche Stubenfliegen. Also, was seid ihr?“

„Waaaanderheuschreeecken!“

So ist gut, Männer, genau das seid ihr! Und wie machen wir unseren Job? Wie beim … ? Wie beim … ?“

Nichts rührte sich, Kaportzke musste selbst nachlegen und einmal mehr seine eigene Frage beantworten.

„Wie beim Katzenficken! Mensch, ihr Idioten, wie oft muss ich euch das denn immer wieder an den Latz knallen! Schnell müsst ihr sein, so schnell wie beim Katzenficken, verdammte Scheiße!“

Mal abgesehen davon, dass ich „Wanderheuschrecken“ weder hauchte noch schrie, stellte ich mir drei Fragen: Erstens, Kaportzke sprach vom Zernagen. Nagen Wanderheuschrecken? Ist es nicht eher ein Abfressen, wie das Abfressen von beispielsweise Weizenhalmen? Zweitens, wie viele Aufträge mögen unter einer Panzerung Platz finden? Nehmen wir beispielsweise einmal Kreisches angeblichen Panzer, der, kaum sichtbar, längst das Weite in seinem Knochengerüst gesucht und gefunden haben musste. Folglich konnte seine dürre Gestalt wenig Raum für das Sammeln von Aufträgen bieten. Drittens, und das war meine eigentliche geistige Irrfahrt: Katzenficken? Brachte Kaportzke hier nicht ein weiteres Mal etwas aus der Tierwelt durcheinander? Ich hatte vorher nie, nach dieser obskuren Veranstaltung allerdings auch nicht, kopulierende Katzen beobachtet, ging aber davon aus, dass Kaportzke von Hasen sprechen musste, vom allseits bekannten wilden Rammler. Ich wusste, wovon ich sprach, hatte mir doch vor Jahren in Berlin eine reichlich korpulente Studentin beim Kopulieren den Vorwurf gemacht, ich würde mich bewegen wie ein durchgeknallter Rammler. Da ich damals dachte, alles richtig gemacht zu haben, bedankte ich mich sogar für diesen Vergleich. Aber Katzenficken? Ich drehte mich kurz zu Kreische und fragte: „Katzenficken?“ „Ja, alles schnell.“ Dabei schlug er mit der Handinnenfläche dreimal ganz schnell gegen die andere Hand, mit der er Daumen und Zeigefinger kreisrund zu einem Loch formte. Ach so. Ach so geht das hier. Keine weiteren Fragen. Doch eine noch, die ich mir, nicht ihm, stellte. Warum sehe ich hier keine einzige Frau? Nicht einmal eine Frau war unter den sicherlich fünfzig Drückern auszumachen. Möglich, dass vor mir mal eine, so wie ich, hier reinschnupperte, nur um schon vor der ersten Kaffeepause von diesem Ort des Irrsinns zu flüchten. Der Irrsinn war nichts anderes als Kaportzkes persönlicher Höllenritt vor seiner Bande von traumatisierten, ausweglosen Vagabunden. Die Maske eines über seinen Schädel gezogenen, feuerspeienden Totenkopfes hätte seinen Auftritt sicher stilistisch einwandfrei abrunden können. Ein kleiner Inszenierungsmakel. Eigentlich schade. Zum wortgewaltigen, krönenden Abschluss streckte sich Kaportzke auf sagenhafte zwei Meter fünfundsiebzig empor, um dann mit weitgeöffneten Armen seine wahre Prophezeiung in den Raum zu speien. „Schon Morgen werdet ihr, wie nie zuvor, mir zeigen, dass ihr die besten katzenfickenden Wanderheuschrecken seid, die diese Firma je gesehen hat. Ihr werdet Aufträge einheimsen, als würde es kein Übermorgen geben. Und Übermorgen werdet ihr euch von den Erfolgen des ersten Tages noch hungriger durch die Stadt fressen, als gäbe es kein Überübermorgen. Und am Abend des dritten und letzten Tages werdet ihr mit Stolz in eure Aktenkoffer blicken, reichlich Beute zählen und unser Raubzug wird bis zum Morgengrauen des vierten Tages in einer Orgie der Überschwänglichkeit gebührend gefeiert. Dankt mir! Dankt mir dafür, dass ich euch dahin bringen werde. Die Stadt gehört nun euch!“

Ahmen, Herr Kaportzke. Dann fing Kaportzke an zu applaudieren und alle anderen äfften ihm nach. Außer Kreische und mir. Als die Meute sich wie vollends Benommene sogar dazu hinreißen ließ, im Stehen weiter sich die Hände wund zu klatschen, verzogen Kreische und ich uns an die Hotelbar. Wir verbrachten geschlagene sechs Stunden dort an der Bar, und immer wieder schnarrte mir Kreische ins Ohr, dass er in den nächsten drei Tagen zwanzig Aufträge machen werde. Ganz sicher zwanzig, wenn nicht sogar fünfundzwanzig oder dreißig, mal sehen. Mal sehen, wie es läuft und wie er drauf sein wird. Kreisches Problem war, wie er mir auch ohne Umschweife erzählte, dass er nur den Vormittag gut durchstehen kann. Am Vormittag wirke der Restalkohol noch, ab Mittag nicht mehr, wie er erklärte. Deshalb muss er mittags immer einen Kiosk oder einen Laden anfahren, um seinen Pegel wieder zu korrigieren, anzupassen, aufzuladen. Tut er es nicht, würden ihm am Nachmittag beim Kundengespräch die Augen zufallen. Ich verstand.

Gegen Mitternacht machten sich Kreische, Kaportzke und ein paar andere auf den Weg in die Lido-Bar. Da mir nicht danach war, Kaportzke und auch nicht Kreische, in Handtüchern um die Lenden gewickelt, durch die Lido-Bar umherwandern zu sehen, blieb ich an der Bar zurück und trank einen letzten irgendwas und dachte an den privaten Kaportzke. Ohne Höllenritt und dem arg vermissten Totenschädel. Er war sicherlich ein treusorgender Familienvater, der mit seinen Kindern im Vorschulalter Bauklotztürme baut und bei den ersten Gehversuchen im Lesen sich nützlich und pädagogisch liebevoll einzubringen weiß. Seine geliebte Gattin verwöhnt er an den Wochenenden mit zärtlichen Liebkosungen und nachts schläft er mit ihr regelmäßig ordentlich, ohne auch nur einen Moment an Katzenfickerei zu denken, oder das ein solch schnelles Kopulieren ihn übermannen könnte. Doch da war noch der andere Kaportzke. Der animalische Sektenführer, die selbst ernannte Oberheuschrecke. Ich war mir sicher, seine Frau hatte keine Ahnung von seinem zweiten Ich. Sollte sie ihn jemals posaunend vor seiner Kolonne erleben dürfen oder müssen, sie würde wohl die Kinder vor ihm wegsperren. Und sich selbst auch. Und was die Lido-Bar angeht – klingt doch eigentlich ganz harmlos nach einer Strandbar in Rimini –, jede Stadt hat eine Lido-Bar, mindestens eine, und Kaportzke kannte bestimmt alle. Doppelleben. Er hatte eines und somit zwei Leben. Hat nicht jeder, kann nicht jeder. Ich hatte ein solches nicht vorzuweisen. Ich überlegte, was das zweite Leben in meinem Fall für eines sein könnte. Tagsüber ein Nichts, nachts ein Doppelnichts? Tagsüber Bier, nachts Rotwein? Meine Kreativität ließ weiter nach und ich verzog mich auf Zimmer 102. Dann ging ich die Treppe hoch zu Zimmer 201. Mein Zimmer war 201. Ein kleiner Fall von Doppelleben, Ronny?

Am nächsten Morgen im Frühstücksraum, inmitten vieler aus der Kolonne, war die Welt wie ausgetauscht, wie eine ganz andere. Sämtliche Kolonnenmitglieder verhielten sich so, als wären sie dem Tode nahe, und egal, zu welchem Tisch ich meinen Blick schweifen ließ, von fressenden Wanderheuschrecken waren diese ausgelaugten Gestalten so immens weit entfernt, dass ich mir kaum vorstellen konnte, nur einer dieser tauben Tröpfe könne einen einzigen Auftrag an Land ziehen. Einige waren derart zittrig, dass sie nicht einmal ihr Frühstücksei vernünftig köpfen konnten. Einer schlug dreimal daneben, um dann schließlich aufzugeben und das Ei beiseitezuschieben. Der Einzige, der gut bei der Sache war, war Kreische. Der Restalkohol durchspülte in bester Stunde zur Frühstückszeit Kreisches Körper und Geist mit einer ungestümen Wildheit, die ihn pausenlos in unüberhörbare Selbstgespräche verstrickte. Mal waren seine Gedanken und Auswürfe in der Lido-Bar, mal schleuderte er seine persönliche Meinung über Kaportzke durch den Raum, was er lieber sein gelassen hätte, denn während seiner Arien nahm Kaportzke direkt am Tisch hinter uns Platz. Natürlich bekam er alles mit, wie alle im Umkreis von zehn Metern, doch Kaportzke ließ sich nichts anmerken und blieb ruhig. So ist das eben, wenn das Gehirn, wie in dieser Situation bei Kreische, nicht in Gehirnflüssigkeit, sondern noch in Rum schwimmt. Die meisten waren entweder an seinen unüberlegten Beschimpfungen längst gewöhnt oder zu stark mitgenommen, oder beides. Sie waren damit beschäftigt ihre Köpfe aufrechtzuhalten und nicht auf die geschmierten Marmeladenbrötchenhälften fallen zu lassen. Ich war gespannt auf den Tag, auf meine praktische Übung. Auf das Mitfahren bei einem der Wanderheuschrecken.

Als ich den Raum verlassen wollte und Kaportzkes Tisch streifte, griff er kurz zu. Er zog mich ganz nah fest an sich ran, sicherlich war sein Handgriff auch seinem Restalkohol geschuldet, und ich roch, dass er in der Früh wohl in Rasier- oder Toilettenwasser gebadet haben musste. Kaportzke roch, als wäre er sprungbereit für einen neuerlichen Besuch in der Lido-Bar.

„Luschke, du brauchst noch einen, bei dem du mitfahren kannst. Ich such dir einen aus, warte …“ Kaportzke ging ein paar Tische weiter zu einem Typen, der mir bisher nicht sonderlich auffiel. Ich konnte sehen, wie er mit ihm sprach und mit dem Finger auf mich zeigte. Dann kam er zu mir zurück.

„Du fährst mit Manfred mit. Luschke, hat dir einer schon mal gesagt, was rauskommt, wenn man Luschke ohne - K - ausspricht?“

„Nein, keine Ahnung Herr Kaportzke.“

„Na, Luschke, ist doch nicht schwierig, na, was ist es dann, na?“

„Ich habe keine Ahnung Herr Kaportzke, wirklich nicht.“ Dann wurde er richtig laut, damit es auch jeder im Frühstücksraum hören konnte.

„Mensch Luschke, Luschke ohne - K - ist Lusche! Komm, ist doch nur ein kleiner Spaß unter uns.“

„Ja, Herr Kaportzke, ein ausgesprochen guter Spaß, danke sehr.“ Einige der Heuschrecken lachten herzhaft, halt ein typisches Witzchen vom Chef.

„Und auch wichtig Luschke, bei den Kunden sind Sie einer vom Innendienst, sagen wir mal aus dem Controlling, der nur mal so mitfährt, um zu erleben, wie es draußen an der Front ist, klar?“

„Klar, Herr Kaportzke, Controlling, natürlich.“

Auf dem Hotelparkplatz wartete Manfred bereits auf mich. Er war dabei, sein Verdeck nach hinten umzuklappen, die Sonne schien, es war morgens schon warm und dem Manfred war nach offen fahren. Ich war mir nicht sicher, dachte jedoch, Manfreds erster Fehler war, mit einem offenen, tiefergelegten, breiten Wagen, Spoiler hier und dort, auf Kundenfang gehen zu wollen. Manfreds zweiter Fehler war seine Sonnenbrille. Keine für die Augen, eine für die komplette obere Kopfhälfte. Es war ihm sofort anzusehen, wie wenig stilsicher Manfred im Umgang mit Sonnenbrillen war. Die dritte Merkwürdigkeit, die ich an ihm erkannte war seine Krawatte. Eine dünne, ungemein lange rote Lederkrawatte, die in Manfreds kauernder Position hinter dem Lenkrad, sogar soweit hinab reichte, dass sie beulenartig über dem Reißverschluss seiner ebenfalls roten Stoffhose lag. Seine Krawatte verstand es, sich auf seiner Hose fast unsichtbar zu machen. Wie der Kopf einer roten Natter lag die Krawattenspitze über seinem Hosenschlitz, so als ob sie sich ihren Weg ins Innere suchen wollte. Ich war mir nicht sicher, ob diese Art Krawatte nun der letzte Schrei zwischen Paderborn und Bielefeld war oder einfach nur auf eine Fehlleitung des Trägers zurückzuführen war. Letztlich war es sein persönliches, sehr eigenes Entree. Ich hoffte nur, dass er wusste was er tat, doch er wusste es nicht. Er war sich die Wirkung seines belämmerten Auftritts überhaupt nicht im Klaren. Sein Ausdruck war streng und zugleich dumm und ich dachte, für manche sicherlich auch stark angsteinflößend. Wenn er wenigstens gegrinst hätte, als er mich durch seine Skibrille anschaute, dann hätte ich den Spaß verstanden, doch Manfred blieb währenddessen totsterbensernst. Er meinte es so und war sich sicher, alles richtig zu machen. Für mich wirkte es alles in allem ziemlich billig, doch Manfred kommentierte seinen Aufzug nur mit: „Wegen der Seriosität.“

Acht Stunden später war mir klar, dies war längst nicht die einzig unpassende Auffälligkeit von Manfred. Rückblendend betrachtet war dieser Tag mit den schrägsten Erlebnissen gespickt, die ich in meinem Leben durchstehen musste. Bevor wir losgurkten, übergab mir Manfred eine kleine Hartplastikbox, in der sich fünfzig Kärtchen befanden. Auf jedem Kärtchen waren ein Name, eine Adresse sowie eine Uhrzeit niedergeschrieben. Name, Adresse und Uhrzeit ergaben zusammen einen Termin. Wir fuhren folglich nicht einfach so ins Blaue an irgendwelche Mietsblöcke heran, wir hatten feste Termine, die der Innendienst vorher für die Wanderheuschrecken vereinbarte. Wir wurden also erwartet. Irgendjemand wartete auf uns. Herr Gott, wenn die wüssten!

An der ersten Ampel fragte ich Manfred, was es mit dem immer wiederkehrenden Song aus dem Kassettenrecorder auf sich habe. Bis zu diesem Zeitpunkt hörte ich dreimal „Eye of the Tiger“. Rocky lies grüßen. Manfred antwortete mir kurz und bündig: „Um mich auf Touren zu bringen.“ Ansonsten blieb Manfred ausgesprochen stumm und ich hatte meine Mühe zu erkennen, dass der Song, so oft er auch gedudelt wurde, irgendeine Reaktion bei ihm hervorrief, geschweige denn ihn auf irgendwelche Touren brachte. Die Wirkung von „Eye of the Tiger“ musste von sehr subtiler Art bei ihm gewesen sein.

Auf dem Rücksitz lag sein Aktenkoffer. Mir war längst klar, dass ich mich mit Fragen über Wasser halten musste, ansonsten wären wir stumm wie zwei Auftragskiller durch die Stadt gefahren. Auf meine zweite Frage hin, ob ich mir einmal den Katalog anschauen dürfe, griff Manfred während eines Gangwechsels mit der rechten Hand hinter seinen Sitz und schleuderte seinen Aktenkoffer zu uns nach vorn, wobei zuerst mein Hinterkopf, im weiteren Flug das scharfkantige Teil fast noch „Eye of the Tiger“ im Kassettenschacht traf. Der Song hatte offensichtlich mehr in Manfred ausgelöst, als mir lieb war, nur irgendwie sehr abrupt, wie eine große Eruption aus dem Nichts. Sein Koffer lag auf meinem Schoß und Manfred – nicht etwa ich – öffnete ihn, klappte ihn nach vorn, und kramte in seinen Unterlagen rum. Hin und wieder blickte er über das Armaturenbrett, kurze Gegenlenkmanöver, alles in allem blieben wir jedoch stets in unserer Fahrspur. Da Manfred nicht zu seiner Zufriedenheit alles fand, wonach er kramte, beugte er sich an der nächsten Ampel erneut tief mit dem Kopf in seinen Koffer hinein. Nur was ich wusste, war der, rechts neben mir stehenden, älteren Dame im Kleinwagen keineswegs klar. Als sie bemerkte, wie sich Manfreds Kopf aus meinem Schoss in ihr Blickfeld schob, wechselte ihr anfänglich freundlicher Blick in einen sehr irritierten. Natürlich, für sie war es sonniger Oralverkehr während eine Rotlichtphase, ich hätte es an ihrer Stelle auch gedacht, es sah schon danach aus. Manfred wurde schließlich fündig, wedelte mit dem Hausprospekt in der warmen Morgenluft, nach dem ich griff, als Manfred seine Doppelauspuffanlage wieder übermäßig losdröhnen ließ.

Guru Kaportzke sprach am Vortag an die Heuschrecken kein Wort über das, was die Kolonne den Leuten anzudrehen hatte. Natürlich nicht, jeder wusste Bescheid und wie ich Kaportzke verstand, war ihm das Produkt sowieso vollkommen egal. Am Abend zuvor, als Kaportzke und ich zu unserem Zweiergespräch in der Lobby zusammensaßen, erzählte er mir die Geschichte von einem neuartigen Lexikon, verpackt und hineinverschlüsselt auf eine kleine Diskette, welche sich die Leute in ihre Computer stecken können. Kaportzke sprach von etwas revolutionärem, etwas, was die Welt vorher noch nie zu Gesicht bekam. Niemand braucht mehr ein zwei Meter großes Bücherregal, um von A bis Z alles unterzubringen, nur diese kleine Scheibe war der Schlüssel zur Allgemeinbildung von Menschen, die etwas auf Allgemeinbildung setzen. Während er das sagte, drehte er die kleine, bei Licht in Regenbogenfarben schimmernde Scheibe im mittigen Loch immer wieder um den Zeigefinger, sowie man es mit einem hölzernen Spielzeug machen würde.

Meine kleine Ausfahrt fand am 09. Mai 1992 statt und an diesem Tag, wie auch an den Tagen zuvor und danach, wusste ich nicht allzu viel von Computern. Was ich wusste, war, die NASA hatte einen, auch der israelische Geheimdienst, mein ehemaliger Professor an der Uni, der mich durchrasseln ließ, und einen sah ich mal in einem Kopiershop in Berlin. Ein Mitstudent aus Berliner Zeiten sagte mir kurz vor meinem Verlassen der Stadt, schon in zehn Jahren werden die Computer über die Menschen herrschen, hörst du Ronny? Ich hörte und pulte mir unterdessen in dem Lokal, in dem wir saßen, den Strandsand vom Wannsee aus den Zehenzwischenräumen. Sollten die Computer tatsächlich – und nun waren es nur noch acht, nicht mehr zehn Jahre – die Herrschaft des Planeten Erde an sich reißen, würden sie bestimmt Gehirnwäschen mäßig oder sensorimplantierend mit Manfred beginnen. Sozusagen als ersten Testlauf, nur um zu schauen, ob, angefangen bei einem einfachen Exemplar unserer Spezies, alles glatt läuft.

Ich blätterte während der weiteren Fahrt durch den Prospekt und versuchte krampfhaft den pädagogisch wertvollen Beitrag des Produktes, speziell gemünzt für Familien, deren Kinder und Kindeskinder, mit dem neben mir fahrenden Manfred in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Die Frage, die letzten Endes vollkommen unbeantwortet blieb: Warum ausgerechnet Manfred? War er tatsächlich derjenige, der auserkoren war, das Gut der Allgemeinbildung derer dort draußen, mit pädagogischem Feingefühl und strotzend vor Wissen, auf ein neues Niveau zu bugsieren? Warum sitzt kein Lehrerehepaar hinter dem Steuer, was ich für um einiges angebrachter hielt. Die jedoch größten Probleme hatte ich damit, mir Kreisches geistigen Zugang zu diesem, sagen wir mal, Bildungsprodukt vorzustellen. Doch vielleicht lag ich auch komplett falsch und Manfred würde sich schon während unseres ersten Besuchs als wandelndes Lexikon entpuppen, fernab jeglicher persönlicher Geldgier und stets um das Wohl eines jeden Käufers besorgt. Doch warum sollte er sich so entwickeln, war Manfred doch einer von Kaportzkes Drückern und ich hörte Kaportzkes Worte nur zu oft in meinem Ohr.

Zirka fünf Minuten später forderte Manfred mich auf, die erste Karte laut vorzulesen, was ich auch tat. Wir standen bereits vor einem Häuserblock, nur zweistöckig, dafür aber ganz massiv in die Länge gebaut, dieses Mietshaus.

„Rita Perlheimer, Adresse …na wir stehen ja schon hier, wir haben´s ja gefunden.“

„Alles laut vorlesen, Luschke!“

„Okay, Manfred, Rita Perlheimer, Leipziger Straße 45, … und hier steht noch, Großmutter, Witwe und alleinstehend, eine Tochter und zwei Enkelkinder.“

Es gab einen kurzen Moment der Stille im Wagen, sicher war es eine Denkpause Manfreds, gefolgt von einer Bestätigung seinerseits: „Verstanden!“ Er sprach das „Verstanden“ so aus, als hätte er eine überlebenswichtige Information erhalten. „Manfred, wir möchten, dass du das zweite Triebwerk erst nach Wiedereintritt in die Atmosphäre zündest.“ „Verstanden!“ Wahrscheinlich war seine Denkpause überhaupt keine Denkpause, er tat nur so, um mir das Gefühl zu geben, er würde sich über die Informationen von Frau Perlheimer Gedanken machen. Was sagte noch Kaportzke? Sollten nicht alle Drücker einen Scheiß auf diejenigen geben, die wir zu besuchen hatten? Nachdem ich mich aus dem tiefkauernden Cabriolet herausgezogen hatte und einen Moment am Wagen stand, zog Manfred ausgesprochen beeindruckend mit nur einem Arm, einen langen Bogen machend, das Verdeck zu. Ich war erstaunt der kleinen Vorführung, was ihm nicht entging und dazu veranlasste, die ganze, auch wenn kurze Präsentation, nochmals für mich zu zelebrieren. Mein Gott, wenn die Computer wüssten, auf wen sie sich hier als Testobjekt einlassen würden.

Ich fragte Manfred, ob ich an der Tür läuten darf. Ich durfte. Die vielen Sekunden, die vergingen, bis sich Ritas Tür öffnete, verbrachte ich damit zu verstehen, warum der Typ neben mir seine Skibrille nicht absetzen wollte. Wäre ich an Frau Perlheimers Stelle gewesen, ich hätte beim ersten Blick auf Manfred auf dem Hacken kehrtgemacht, die schwere Schublade der Wäschekommode aufgeschoben, den geladenen Trommelrevolver herausgenommen, zurück zur Tür gegangen, die Waffe in Richtung Skibrille gehalten und nur gesagt: „Sie verschwinden sofort!“

Die Haustür öffnete sich und Rita Perlheimer lächelte uns an. Ich lächelte zurück, legte freundlich meinen Kopf etwas zur Seite und reichte ihr zur Begrüßung meine Hand in die offene Tür hinein. Fehlende Abstimmung zwischen Manfred und mir führte nun dazu, dass er, noch immer wie eine Gestalt aus einer fremden Galaxie hinter seiner verspiegelten, großflächigen Fassade versteckt, einen Schritt nach vorn machte, sich die in meiner Hand sanft schlummernden Hand von Frau Perlheimer griff und ein paarmal an dieser zog und schüttelte. Er tat es so unhöflich und rüde, als wollte er von Beginn an uns, der guten Frau Perlheimer und mir, demonstrieren, wer hier der Platzhirsch in unserem Trio ist. „Frau Perlheimer, wir sind ihr Termin, lassen Sie uns beginnen.“ Stimmlage und Emotionslosigkeit erinnerten mich nun an einen dieser Spezialagenten, die unangemeldet vor deiner Haustür stehen, weil du eine merkwürdige Erscheinung am Himmel gesehen hast. Nur in einer derartigen Situation hätte sein Aufzug mit der Skibrille Sinn gemacht, die sich hinter Frau Perlheimer in der gläsernen Flurtür spiegelte. Er wäre um einiges glaubwürdiger gewesen, hätte er unseren Termin entweder als Auftakt einer feindlichen Übernahme durch eine fremde Lebensform angekündigt, oder andersrum, uns als genau eine solche Spezialeinheit vorgestellt, die auf der Suche nach fremden Lebensformen war. Doch so wirkte sein Spiegelbild nur absurd und tatsächlich beängstigend zugleich. Und in dieser Kleinstadt war Frau Perlheimer an diesem Morgen die erste auf unserer Tour, die leider dran war. Erst als Manfred nach Betreten ihrer Wohnung merkte, dass dort die Sonne nicht ganz so geißelnd schien wie draußen auf den Straßen, reagierte er und schob sich sein Monstrum aus dem Gesicht. Einige Male blinzelte er mit den Augen kräftig durch, musste sich an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnen, verständlich, sah er doch die Welt an diesem Morgen bisher in einem anderen Licht.

Frau Perlheimer war eine überaus freundliche, zuvorkommende und adrette Person, ich tippte auf zwischen siebzig und achtzig Jahren, weißhaarig und großzügig gelockt, dazu dezent geschminkt und im modernen blauen Hosenanzug wippte sie voran in ihre Wohnstube. Sie war nicht eine von diesen älteren Damen, die in Kittelschürze und Wollsocken mit einem Schrubber bewaffnet vor einem stehen. Ihre Ausdrucksweise war galant, höflich und aus bestem Hause: „Mögen die Herren etwas trinken? Ein wenig Wasser, Kaffee oder einen Schluck Limonade?“ Manfred winkte mit den Worten „…nee, lassen Sie mal, sind für Geschäfte hier …“ ab. Ich bestellte Kaffee, worauf Frau Perlheimer kurz in die Küche ging, sich eine Thermoskanne mit heißem frischen griff, welchen wir beide anschließend mit etwas Trockengebäck und freundlich zugewandten Blicken genossen. Unterdessen schob Manfred seinen Aktenkoffer auf dem Esstisch in die richtige Position, ließ die Verschlüsse aufspringen und holte all die wichtigen Dinge hervor, die er benötigte, um Frau Perlheimer so richtig über den Tisch ziehen zu können. Sodann begann sein Verhör.

„Frau Perlheimer, wie wir wissen, haben Sie zwei Enkel und es gibt für Sie bestimmt nichts Wichtigeres, als das diese Kinder, ich sage mal, allgemeinbildungsmäßig nicht hinten runter rutschen sollten, und genau dafür haben wir das passende … Teil … Instrument … Ding. Ein vollkommen neues Lexikon hier auf dieser kleinen Scheibe, da ist alles drauf, da können die Kleinen ganz schnell alles finden und sind ganz schnell nicht mehr die Deppen in der Schule.“ Er ließ nun vor unseren erstaunten Augen die kleine Diskette in seinen Fingern kreisen, so, wie er es von Kaportzke gelernt hatte. Er zelebrierte es noch besser, wie ein Zauberkünstler, der im nächsten Moment ein kleines Küchentuch darüberlegen würde, um dann Schwupps und von Manfreds magischer Hand, das Teil verschwinden zu lassen.

„Nun mein Herr, ganz so ist es nicht. Meine Enkel sind keineswegs die, wie sie es ausdrücken, Deppen in der Schule. Sie besitzen durchaus eine gute Allgemeinbildung. Es wäre schön, wenn Sie von solchen Unterstellungen Abstand nehmen würden. Für mich stellt sich die Frage, was ihre kleine Scheibe denn zusätzlich an Möglichkeiten bieten würde, um, wie sie richtigerweise sagen, schnell an Antworten auf Fragen sämtlicher Themen auf dieser Welt zu kommen. Ich nenne es mal einen Wissenstransfer schnell und unkompliziert gemacht. Sehe ich das richtig?“

Während ihrer präzisen Ausführungen bekam Frau Perlheimer von mir immerzu ein zustimmendes Kopfnicken und damit war für sie und mich bereits klar, auf welche Seite ich mich schon nach den ersten Minuten geschlagen hatte. Manfred haderte mit ihren Kommentaren und sein Nicken, gepaart mit beginnendem leichten Zucken seiner Oberlippe, sprach eine ganz andere Sprache: Wenn die mir so kommen will, dann kann sie es haben!

„Ja, Frau Perlheimer, schnell an Wissen rankommen, darum geht`s hier. Die Diskette wird nur schnell in den Computer geschoben und los geht’s. T wie Tierversuche, nur eingeben und schon kommt´s raus, K wie krumme Dinger drehen genauso, und so weiter. Klasse, ne? Ich an ihrer Stelle würde nicht lang fackeln und gleich unter-schreiben, das Ding geht nämlich weg wie warme Semmeln, nicht mehr viel da, also wenn nicht jetzt, dann kann es schon zu spät sein.“

Wir waren erst zehn Minuten zusammen und ich dachte mir: Läuft hier etwas nur schief oder doch total verkehrt? Wie kann der Kerl nur so ungelenk versuchen der Frau Perlheimer beizukommen? Er war ihr haushoch geistig unterlegen, was ihn aber nur weiter anspornte, sie auf billigste Art und Weise zu bearbeiten.

„Frau Perlheimer, wollen Sie allen Ernstes, dass ihre Enkel aufgrund mangelnder Allgemeinbildung für immer durch den Rost fallen und als Obdachlose enden? Als Bettler? Nur weil Sie heut und hier nicht den Vertrag unterschrieben haben? Ich glaub es nicht, was ist hier denn los?“

Manfred hatte nun gänzlich die Kontrolle über sein Rest-Hirn verloren, ganz eindeutig. Frau Perlheimer saß mit offenem Mund da und rang um Fassung und ich überlegte, einzuschreiten oder auch nicht. Ich tat es nicht. Ich wollte sehen wie es weitergehen, wie es richtig zu eskalieren beginnen würde. Letzten Endes könnten Frau Perlheimer und ich ihm immer noch eine Porzellanschüssel über den Kopf ziehen, sozusagen als unsere letzte Rettung.

„Sie entschuldigen mich bitte, meine Herren!“ Frau Perlheimer verließ das Wohnzimmer. Kopfschüttelnd und wankend vor Entsetzung. Von ihrem wippenden Gang war nichts mehr zu sehen. Ich dachte an 110 und Manfred sagte, als sie aus unserem Blickfeld entschwand, dass sie echt einen an der Waffel haben muss. Es war mir ein Rätsel, wie dieser Typ bisher überhaupt an Aufträge rankam. Aber es gab sie, also hatte er des Öfteren einfaches Spiel mit seinen kleinen, dämlichen Überrumpelungen gehabt. Nach Momenten des gemeinsamen Anschweigens am Tisch, kam Frau Perlheimer zurück zu uns und Manfred baute sich auf. Er zog sich an der Tischkante hoch und ging in eine neuerliche Angriffsposition.

„Und nun sage ich Ihnen was, Frau …, Frau …, ich gebe Ihnen bei sofortiger Unterschrift zehn Prozent Rabatt auf die Diskette, das ist ne ganze Menge, mach ich sonst ganz selten, nein, eigentlich nie, aber dafür schreiben Sie mir jetzt schön ihren Namen hier über diesen Strich.“

Frau Perlheimer, kaum dass sie saß, stand wieder auf und verschwand erneut. Dieses Mal war ich mir sicher, sie würde telefonieren, einen Hilferuf absetzen, ihren Schwiegersohn im Büro anrufen, oder tatsächlich die 110. Manfred hatte es komplett versaut. „Luschke, ich gebe der sogar fünfzehn Prozent! Mann, wenn´s hart wird, dann sogar zwanzig! Du wirst sehen, wenn sie zurückkommt, gibt´s eine letzte Massage und dann unterschreibt sie.“

Ich konnte diesem massivem Idioten des ausgehenden 20sten Jahrhunderts nicht mehr reden hören, verließ ebenfalls den Raum und ließ Manfred einfach allein am Tisch zurück. Ich stand einen Moment im Flur vor der Badezimmertür, da hörte ich genau von dort Geräusche, auch die Klospülung vernahm ich, vielleicht musste sie sich schon übergeben. Frau Perlheimer. Wer sonst. Ich zog einen Stift und ein Blatt Papier aus meinem Jackett und begann zu schreiben. Ich schrieb: „Frau Perlheimer, ich bin´s, unterschreiben Sie diesem Kerl bloß nichts!“

Ich schob den Zettel unter der Tür ins Badezimmer durch. Und wartete. Ich riskierte einen kleinen Blick, am Wandvorsprung vorbei, hinüber zum Esstisch, doch Manfred drehte nur gelangweilt an seiner schimmernden Scheibe. Gut so. Dann sah ich, wie der Zettel unter der Tür wieder zurückkam. Darauf stand: „Sind Sie der Nette, der mit mir Kaffee trank?“ Ich schrieb: „Ja das bin ich! Sie haben was zum Schreiben im Badezimmer?“ Und retour zu Frau Perlheimer und etwas später wieder zurück zu mir. „Ich schreibe doch mit meinem Kajalstift! Ich werde natürlich nichts unterschreiben, nicht bei diesem ungehobelten Kerl!“ Unsere stille Postkommunikation nahm ihren Lauf und kam in Fahrt. „Gut so! Was machen wir jetzt? Schreiben Sie auf der Rückseite bitte weiter. Und betätigen Sie bitte noch einmal die Spülung, nur zur Sicherheit!“ Frau Perlheimer spülte kräftig durch, was aber auch den Nachteil hatte, dass ich Manfred nicht mehr hörte. Er hätte sich womöglich auf leisen Sohlen annähern können. Sei auf der Hut Ronny, und komm zu Potte, verdammt. Der Zettel kam zurück. Auf der Rückseite stand: „Gehen Sie in die Küche, nehmen Sie den Besenstiel und erschlagen Sie bitte den Kerl, nein, nur Spaß, sagen Sie ihm, mir ist schlecht geworden, was ja auch stimmt, und verschwinden Sie beide dann bitte. Ich bleibe hier drin!“ Meine letzte Antwort war – es gab kaum noch Platz auf dem Stück Papier –: „So machen wir das, machen Sie es gut Frau Perlheimer.“

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9783748592488
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