Kitabı oku: «Tschapka», sayfa 4
Ich ging zurück zu Manfred, der mittlerweile nervös um den Esstisch kreiste.
„Mann, wo bist du denn gewesen und wo in aller Welt ist diese Frau? Ich brauch meinen ersten Auftrag. Jetzt! Hier!“
„Manfred, das wird wohl nichts, der Frau Perlheimer geht es schlecht, sie ist im Badezimmer und hat sich wohl auch schon übergeben, was Schlechtes gegessen vermutlich. Konnte es auf dem Weg zur Gästetoilette hören.“
„Scheiße Mann, der Tag geht nicht gut los, las uns abhauen, nicht das die Oma uns noch dafür noch verantwortlich macht, dass sie kotzen muss.“
Als wir am Badezimmer vorbei zur Haustür gingen, rief ich noch ein „Alles Gute Frau Perlheimer“ gegen die Tür, hinter der sie möglicherweise schon ihren Kajalstift für seinen eigentlichen Zweck nutzte und sich die Augen machte.
Auf der Fahrt zum nächsten Kunden sprachen Manfred und ich zum ersten Mal übers Geschäft. Über sein Geschäft. Er war merklich in Rage, auch äußerst nervös und vergaß sogar sein Verdeck zu öffnen und sich seine Skibrille aufzusetzen.
„Luschke, ich brauch ab jetzt verdammt noch mal Aufträge, so was darf uns heute nicht noch mal passieren. Aber denk dran, du hast die Fresse zu halten, klar? Kaportzke dreht mir den Hals um, wenn ich nichts an Land ziehe, kapiert?“
„Alles kapiert und ich halte schön meine Fresse, kein Problem.“
„Mann Luschke, das ist hier reines Rein-Raus-Geschäft. Rein, Auftrag, raus, so muss die Chose laufen, für alles andere haben wir keine Zeit. Du kennst doch Rein-Raus, oder?“
„Natürlich Manfred, wie du schon sagt: Rein-Raus.“
Soweit zum geschäftlichen Teil unserer Unterhaltung. Wie ich im Laufe des Tages feststellen durfte, gab es eine gewisse kleine mathematische Wahrscheinlichkeit. Die Wahrscheinlichkeit, wie viel Besuche nötig waren, um einen Auftrag zu bekommen, rein theoretisch wohlgemerkt. Das war allerdings noch nicht alles. Erschwerend war, dass auf einen tatsächlichen Besuch, immer zwei bis drei folgten, die gar keine waren. Wir standen vor verschlossenen Türen und die Leute ließen einfach den Termin platzen. Manfred wusste dies, ein Umstand, der ihm mehr und mehr zusetzte. Der Druck auf Manfred wurde mit jeder Stunde immer größer, mit der logischen Folge, dass seine Nervosität ins Unermessliche zu steigen schien. Nur, auf der anderen Seite, schon nach unserem ersten Besuch bei Frau Perlheimer hatte ich ausgesprochen großes Verständnis dafür, wenn die Leute vor uns Reißaus nahmen. Ich konnte es ihnen nicht verübeln. Sie hatten sicherlich eine Vorahnung, dass nicht irgendwer, sondern eine schräge, einfach gestrickte Wanderheuschrecke zusammen mit einem gewissen Ronny Luschke als stumme Begleitperson, vor ihren Türen aufkreuzen würden, um sodann zum Schlüsselbund zu hechten und so schnell es ging aus ihren Wohnungen zu laufen.
Auf der vierten Karte – die Personen hinter den Karten Nummer zwei und drei waren ausgeflogen – las ich: „Frau Judith Krämer, Mitte Dreißig, Mutter von zwei Kindern“. Vermutlich hatte sich die Judith gesagt, lieber warte ich den ganzen Morgen im Auto vor dem Kindergarten, als dass ich mich mit diesem Typen an einen Tisch setze. Mit diesem vierten Kärtchen hatten wir wieder Glück, wobei sich unser Glück nur auf die Anwesenheit von Judith Krämer bezog. Judith war von attraktiver, schlanker Gestalt mit herbem Kurzhaarschnitt und hatte einen cleveren Trick, uns während unserer Besuchszeit bei ihr zu umgehen. Judith Krämer ließ uns geschickt ins Leere laufen. Sie kochte und sie tat dies unentwegt. Während wir am Küchentisch saßen und Manfred ständig versuchte, mit ihrem Hinterkopf Kontakt aufzunehmen, fuchtelte sie mit den Töpfen und Pfannen hin und her, dass einem schwindelig wurde. Als ich dachte, das Gericht wäre fertig zubereitet, kochte sie einfach weiter. Etwas Neues. Jetzt sollte gedünsteter Fisch mit gedünstetem Gemüse folgen. Und wenn uns das nicht in die Knie zwingen würde, käme noch ein Wackel-Pudding mit Vanillesoße hinterher. Alles nur, um geschickt ihr Desinteresse und uns dabei ihr Hinterteil zu zeigen.
Ihre Taktik ging vollends auf. Als sie begann den Brokkoli zu putzen, drehte sie sich kurz zu uns um und fragte mit einem Augenaufschlag, der mir wunderbar gespielte Naivität zeigte: „Was haben Sie gesagt? Ich glaube, ich habe kaum etwas mitbekommen, von dem, was Sie erzählten. Also, was wollen Sie?“ Manfred blickte kurz zu mir rüber: „Komm Luschke, las uns hier abhauen, hier läuft nichts.“ Wir hatten Judith eine geschlagene halbe Stunde bei ihrer Koch-Show zugesehen, was bitte schön hätte da laufen sollen? Hatte Manfred noch auf eine Stripshow gewartet? Er hatte sich abblitzen lassen, hatte Judith nichts entgegenzusetzen, sammelte letztendlich seine kleinen Scheiben, leere Auftragsformulare und bunte Prospekte vom Tisch wieder ein und stampfte mit abfälligen Bemerkungen aus der Wohnung. Ich hinterher, nicht ohne noch ein Kompliment für Judiths Kochkünste zu hinterlassen.
Es wurde Mittag und ich hungrig. Manfred durstig. Wir fuhren einen Schnellimbiss an, verdrückten ein paar Currywürste im Stehen und Manfred orderte danach für sich noch ein Bier. Ein Bier sollte ihn runterbringen, dachte und hoffte ich. Im Auto kramte er dann nach Kaugummi, fand nichts und so stieg er wieder aus und ging zurück zum Imbiss. Was er für sich mitbrachte, waren, neben Kaugummistreifen, eine Dose Cola und zwei kleine Fläschchen Wodka. Das Kaugummi schmiss er in das Handschuhfach. Er nahm ein paar Schlucke aus der Cola-Dose und füllte sie dann mit Wodka auf. Er trank wieder dreimal kräftig, füllte wieder nach und atmete tief mehrmals durch. Wie ein komplett Erschöpfter. Wie eine erschöpfte Wanderheuschrecke, die ermattet am Wegesrand den anderen Heuschrecken nur noch nachschauen kann.
„Okay, Luschke, der Nachmittag wird´s rausreißen, jetzt gebe ich alles!“
„Nur Manfred, wenn meine Berechnungen stimmen, wären jetzt wieder mindestens zwei Leerfahrten dran, was ich natürlich nicht hoffe. Ganz im Gegenteil, auch ich wünsche mir nichts mehr, als ein paar Aufträge auf unserer Nachmittagstour.“
Die Heuschrecken mussten ganz nebenbei für Kaportzke immer auch ein Tagesprotokoll schreiben. Während wir noch vor dem Imbiss parkten, begann Manfred zu schreiben. Ein Schluck Cola-Wodka, ein Blick in den Himmel, dann eine Notiz. Hinter jedem Namen unserer Tagestour musste etwas stehen und Manfred schrieb hinter jedem einen ganz speziellen Kommentar: „Bin nah dran“, auch dort, wo wir niemanden antrafen. Ich hatte meine Zweifel, ob ein Kaportzke sich mit einem lapidaren „Bin nah dran“ zufriedengeben würde, aber das war nicht mein Bier. Manfreds Bier. Bei Betrachtung unseres bisherigen Besuchsrhythmus waren gemäß der mathematischen Gesetzmäßigkeiten also wieder Leerfahrten dran. Ausflüge ins Nichts. Um Manfred jedoch nicht noch tiefer in einen Strudel endloser Demotivation zu ziehen, behielt ich meine kleine rechnerische Abfolge von Erfolg und Misserfolg für mich. Nur den Fuß in eine fremde Wohnung zu setzen, wertete ich ab diesem Moment bereits als einen großen Bim-Bam. Erfolg auf ganzer Linie, immer gezuckert mit einem „Bin nah dran“, so fest niedergeschrieben, als ob es wirklich so gewesen wäre. Für Manfred war alles nah dran. Bei jeder Leerfahrt, sogar bei jedem Schluck Cola-Wodka schien er mir nah dran zu sein.
Nach einer weiteren Stunde Fahrt durch die Stadt – das kurze, erfolglose Bimmeln an zwei Haustüren war währenddessen kaum der Rede wert –, hielt ich den Moment für gekommen, dass uns die hohe Mathematik dieses Mal wieder einen echten Besuch bereithalten würde. Doch ich lernte, dass auch die hohe Wahrscheinlichkeitsrechnung mal Fehler machen konnte. Wir mussten zwei weitere Klingelmanöver an Haustüren durchstehen, die wieder im Nichts verendeten. Der Nachmittag ging für Manfred denkbar schlecht los und genauso schlecht weiter. Wir kamen jetzt auf vier Leerfahrten und ich dachte einen kurzen Moment, Manfred würde am Steuer zu Weinen beginnen. „Herr Schlüter, Mitte Sechzig, Großvater“, las ich und was mich verwunderte, auf dem Zettel stand noch der Hinweis „Gehfehler, kann nicht richtig laufen“. Was die Leute doch am Telefon alles über sich erzählen. Oder aber die Anrufer der Firma fragen Dinge wie: „Gibt es bei Ihnen irgendwelche Besonderheiten, die wir wissen sollten?“
Manfred läutete bei Herrn Schlüter im Zehnsekundentakt, ohne das sich was rührte und erklärte mir unterdessen: „Wenn der Mann nicht richtig laufen kann, dauert es halt, bis er sich zur Tür schleppt.“ Dann folgte, er war schon nervlich ziemlich durchgeschüttelt, von ihm echtes Sturmklingeln. Als das nichts half, schlug er gegen die Eingangstür des Wohnblockes. Wie ein Irrer.
„Ich muss mit Herrn Schlüter reden, ich muss von Schlüter einen Auftrag bekommen, jetzt!“, schrie Manfred gegen die geschlossene Eingangstür. Es war ein letztes Aufbäumen, dann legte er seinen Kopf gegen die Tür und war in sich gekehrt. Verstummt im Angesicht der erneuten Niederlage. Er drehte ab und gab auf. Ich fühlte mich dabei ziemlich schlecht, dachte kurz an aufbauende Bemerkungen wie „beim Nächsten reißen wir es wirklich“, doch war ich mir unsicher, wie jemand, der derart massiv auf der Verliererstraße fährt, reagieren könnte. Im Wagen angekommen, schrieb er wieder für alle neuen Fehlversuche: „Bin nah dran!“ Mittlerweile konnte ich „Bin nah dran“ nur noch in „Bin nah dran am Rauswurf“ übersetzen. Auf der nächsten Karte stand: älteres Akademiker-Ehepaar, Töchter, Söhne und mehrere Enkel. Er Hochschulprofessor, sie Grundschullehrerin. Na dann viel Spaß Manfred.
Wir mussten raus aus der Stadt und fuhren in ein Wohngebiet, gespickt mit Einfamilienhäusern in naturnaher Umgebung. Großzügige Villen mit altem, viele Meter hohem Baumbestand. Alles wirkte nach einer willkommenen Abwechslung. Statt Mietskasernen, Villenviertel. Du bist nah dran, Manfred, bist nah dran. Ich sprach zu mir selbst und gönnte ihm von Herzen wenigstens einen Auftrag an diesem Tag. Oder nur wirklich ganz nah dran zu sein. Die Auffahrt war mit Limousinen zugeparkt, und so stellten wir uns in eine kleine Seitenstraße. Noch angeschnallt, zeigte ich kurz direkt auf seine Skibrille und er verstand diesmal sofort. Bevor wir läuteten, strich sich Manfred vor der Haustür mehrere Male über seine dünne rote, schlangenartige Krawatte. Die Tür war eher ein Tor, welches wie ein Halbmond aus tiefdunklem Holz geschnitzt aussah, als würde man sich nach Betreten in einem südländischen Museum wiederfinden.
„Manfred, warte, läute noch nicht! Mach dein Jackett bitte zu!“ Ich war zwar alles andere als eine modische Leuchte, aber die ganz absurden Sachen sah ich schon. Aus seinem Jackett guckte nun unten ein roter Schlangenkopf hervor. “Mach es wieder auf!“
Geöffnet und ihm direkt gegenüber stehend war es noch schlimmer. Um ehrlich zu sein, er sah aus wie jemand, den man problemlos an seiner Schlange durch die Straßen hätte hinterherziehen können, oder sogar müssen. Wir hatten nun fast einen ganzen Tag miteinander verbracht und mittlerweile hatte ich keine Probleme mehr damit gehabt, ihn lange und intensiv einfach zu beäugen. Zum Gelderwerb hätte ich mich mit ihm auch in einer Fußgängerzone vor einem Kaufhaus stellen und die Passanten fragen können: “Wollen Sie mal für eine Mark an der Krawatte von diesem Mann ziehen?“
Doch nun dachte ich an das ältere Akademiker-Ehepaar hinter dem hölzernen Halbmond, der Mann in Pullunder und Golf-Hose, seine Frau in keine Ahnung was, was Schickes halt für den Nachmittagstee. Wäre dies der Fall, Welten würden zwischen uns liegen. Und dies nur optisch.
Ich überließ Manfred das Läuten an der Tür. Es war ein tiefes Ding-Dong mit einem langen Nachhall, der noch immer zu hören war, als sich der hölzerne Halbmond öffnete. Ich blickte mit gesenktem Kopf in das Gesicht einer alten, asiatischen, sehr kleinen und krummen Frau, die uns freundlich hineinbat, um sodann in gebückter Haltung auf filzigen Pantoffeln in das Innere des Hauses voran zu tapsen. Nach Überschreiten der Türschwelle in den Wohnraum, überkam mich das Gefühl, Teil eines Gemäldes zu sein. Mittig im Raum stand ein Paar im gesetzten Alter, kerzengerade und stocksteif und beide waren außergewöhnlich große Menschen. Die anwesenden Herrschaften wirkten so, als ob sie auf dem Sprung ins Theater oder noch bedeutender, sich für einen Empfang im Kreise von irgendwelchen lokalen Politikgrößen herausgeputzt hatten. Der Herr Professor trug einen Frack mit einem dezent blauen, gestülpten Tuch am Hals und ein weiteres guckte spitz aus der oberen Brusttasche hervor. Seiner Gattin fiel vom Hals bis zu den Knien ein Kostüm herab, welches ich wirklich auch als Kostüm wahrnahm und sie steckte in einer pfirsichfarbenen Strumpfhose, alles sozusagen Ton in Ton. In ihren Händen hielt sie eine Tasse Tee oder Kaffee, die eine Hand an der Untertasse, die andere die Obertasse haltend, alles sehr anmutig mit abgespreizten Fingern. Dass die Hausherrin überhaupt lebte, vernahm ich erst, als sie die Tasse galant an ihren Mund führte. Damit war zwar das Stillleben, was sich mir bot, durchbrochen, aber allzu lang hätte ich diese Situation der absoluten Regungslosigkeit auch nicht mehr durchstehen können. Ihrem Gatten fehlte irgendetwas in seiner Gesamterscheinung. Das Bild des Professors war irgendwie nicht vollkommen. Der Künstler des Gemäldes hätte ihm einen Zylinder verpassen müssen, was er jedoch vergaß. Ich trat in Gedanken einen kleinen Moment weg und sah, wie der Herr Professor einen Schritt auf mich zu machte, dabei seinen Zylinder – einen solchen, wie man ihn von Zirkusdirektoren her kennt – zu mir herabschwingen würde, und aus dem Zylinder sah ich ein weißes Kaninchen hervorkrabbeln. Um den plüschigen Hals des rotäugigen Putzig blickte ich auf ein Band, in dem ein Fünfhundert-Mark-Schein eingewickelt war. „Herr Luschke, ein kleines Willkommensgeschenk für Sie, damit Sie morgen ihre Hotelrechnung begleichen können.“ Der Herr Professor machte tatsächlich einen Schritt zu mir und begrüßte mich mit festem Händedruck, nur von seinem Zylinder und dem Kaninchen war weit und breit nichts mehr zu sehen. Was die Realität doch alles anrichten kann.
Der Wohnraum um das Ehepaar herum, hatte von Beginn an eine einzige traumatische Wirkung auf mich. Es war nicht nur die unglaubliche Größe, alles wirkte wie in einem nostalgischen Herrenhaus von Kolonialisten irgendwo in Afrika vor hundert Jahren. Das Mobiliar war aus schwerem tiefdunklem Holz, sämtliche Tür- und Schubladengriffe waren aus poliertem Messing oder Gold, und der Salon – ich stand in nichts anderem als in einem Salon – war mit Antiquitäten, eisern oder hölzern, bis an den Rand des Erträglichen gefüllt. Ich konnte mir sehr gut vorstellen, wie an einem solchen Ort, sonntäglich, eine Gruppe von europäischen Farmern zu gutem Whisky zusammenkamen. Einige würden auf der dunkelgrünen, ledrigen Couch und in den Sesseln whiskyglasschwenkend sitzen, andere würden mit einer Hand leicht auf den Rücklehnen gestützt aristokratisch genau dort stehen, wo es bestens ins Bild passen würde. Ich konnte förmlich ihren Gesprächen lauschen.
„Wenn es nicht bald zu regnen beginnt, werde ich dieses Jahr in ernste Schwierigkeiten mit meiner Ernte geraten.“ „Wir hoffen alle, mein lieber Mortimer. Bei mir haben letzte Nacht die Löwen wieder einige meiner Ziegen gerissen.“
Ja ja, die armen Ziegen, ja ja, der wunderschöne Salon, in dem ich stand. Mit einer anmutigen kleinen Handgeste des Hausherrn durften Manfred und ich auf der tiefgrünen Ledergarnitur Platz nehmen. Das ohne Zweifel tonnenschwere Möbelstück war derart hoch, dass ich bei normaler Sitzposition nur mit meinen Zehenspitzen den geölten Holzboden berühren konnte. Die Rollläden waren halb heruntergelassen, aber noch porig offen, sodass viele kleinste Lichtstreifen in den Salon fielen und von den mir gegenübersitzenden Eheleuten, durch viele ihrer Körperstellen, wie gemalt und auf wundersamste Art und Weise gebrochen wurden. Es hätte jemand rauchen sollen, eine stark qualmende Pfeife, alles andere wäre nur ein Frevel an diesem stilvollen Ambiente gewesen.
„Mein Name ist Professor Dr. Gustav Landinger. Meine Frau …“, er öffnete kurz seine Hand in Richtung seiner neben ihm sitzenden Salzsäule, „… und ich begrüßen Sie bei uns zu ihrer Präsentation ihres neuartigen Produktes aus der Bildungsbranche, so wie ich es hoffentlich doch richtig verstanden habe. Mögen Sie Tee? Vielleicht auch ein stilles Wasser?“
Der gute Gustav Landringer wartete nicht nur auf eine Antwort seiner Offerte, sondern auch auf eine Vorstellung unserer kleinen Besuchsdelegation. Ich schaute zu dem neben mir sitzenden Delegationsleiter, der sich bereits in weit vorgebeugter Kampfeshaltung in Position gebracht hatte.
„Neben mir, das ist der Luschke vom Innendienst, will sich mal den harten Verkaufsalltag anschauen.“ Dann lachte er kurz aus sich heraus, da er dachte, einen Knaller gelandet zu haben. Nur, alle Anwesenden, begriffsstutzig oder aus einer anderen Welt, hatten Mühe zu verstehen und zu folgen. Was Frau und Herr Landinger in Perfektion beherrschten, war, in Sekundenschnelle ihre Gesichtszüge von freundlichem Lächeln in verachtungsvoller Ernsthaftigkeit zu wechseln. Und nun folgte der erste Moment an diesem Tag, in dem ich zum ersten Mal während eines Besuches in Manfreds Anwesenheit sprach: „Mein Name ist Ronny Luschke, und ich freue mich, heute erstmalig bei einem Verkaufsgespräch von einem unserer Profis mit dabei sein zu dürfen. Ich übergebe jetzt wieder an unsere Verkaufskanone, die uns durch den weiteren Nachmittag führen wird und werde gespannt zuhören.“
Der Verkaufskanone gefiel ganz und gar nicht, was ich von mir gab. Da ihm passende Worte nicht einfielen, fuchtelte er nur mit seinem Schreiber in der Luft und ließ dann seinen Aktenkoffer aufspringen. Klack. Klack. Ich mochte diesen Sound, Manfred ganz offensichtlich auch, was ich an seinem zufriedenen Gesichtsausdruck sah. Die Show konnte beginnen. „Lady and Gentleman, I proudly present, the best Wanderheuschrecke ever! The unbelievable Manfred! I am sure, you will never forget the upcoming hour!“ Ich hatte nach meiner zirkusreifen Ankündigung im Kopf meine Mühe, mir das Lachen zu verkneifen und rang um gespielte Ernsthaftigkeit. The best Wanderheuschrecke ever übergab beiden jeweils einen Prospekt, doch dem Paar war nicht danach, in einem Prospekt zu blättern. Sie legten fast synchron das dünne Hochglanzpapier zurück auf ihren afrikanischen Holztisch. Der intellektuelle Anspruch der Eheleute Landinger gab sich offenbar weder mit intensivem noch mit flüchtigem Lesen zufrieden, so wie man es beispielsweise mit Postwurfsendungen macht.
Manfred stutzte etwas mürrisch, legte diesen ersten Akt seiner Vorführung unerledigt geistig zurück in seinen Koffer und ging zum zweiten Teil der Prozedur über. Er steckte seinen Zeigefinger in das Loch der kleinen Scheibe, die wunderschön im einfallenden Licht regenbogenfarbig schimmerte, und begann wortlos, jedoch sich einer gewissen dramaturgischen Wirkung dieser Nummer sicher, mit dem Zeigefinger an der Scheibe zu drehen. Mit kindlich staunenden Augen betrachteten die Eheleute Landinger und ein gewisser Ronny Luschke die zaubernden Hände des weltberühmten Zweihandscheibendrehers Manfred und warteten nur darauf, bis sich das runde Etwas wie ein Miniaturraumschiff von seinem Finger lösen würde, um mit reichlich Schwung erst durch den Salon, dann in den Flur, um letztlich – die asiatische Haushälterin wäre bereits zum Halbmond gelaufen und hätte das Tor geöffnet – zurück zum Heimatplaneten zu fliegen. Mein Gott, was für ein Nachmittag, was für ein unglaublicher Moment, den ich mir vorstellte.
Wir drei Zuschauer stierten wie zur besten Hypnose auf die Scheibe, die jedoch leider ihre Mühe hatte richtig Fahrt aufzunehmen, um sich auch nur etwas von seinem Finger empor schwingen zu können. Manfred stoppte schließlich den Anschub und so blieb die fliegende Untertasse am Boden. Kein Start. Vielleicht ein anderes Mal. Der zweite Teil seiner Vorführung fand ein jähes Ende und erzeugte doch eine sichtliche Enttäuschung in den Gesichtern der Zuschauer. Der Herr Professor tippte mit einem Finger kurz nachdenklich an seinem Mund. Hatte er etwas nicht verstanden? War da etwa etwas was Manfred tat, weit außerhalb seiner Vorstellungskraft, ohne jeglichen Zugang, diese Vorführung auch nur für einen Moment in seiner Tragweite erfassen zu können?
Dass Manfred während seiner Darbietung stumm blieb und auch die von mir erwarteten vollmundigen Ankündigungen, gepaart mit einem spannungstreibenden Anpeitschen – wie es die großen Zampanos beherrschen – ausblieben, war die eigentliche Enttäuschung seiner Showeinlage. Jedoch dreht sich im Zirkusgeschäft die Welt immer weiter, und so war ich gespannt auf die nächste Vorführung von meiner Wanderheuschrecke. Doch nun übernahmen Frau und Herr Landinger die Regie. Weitere Enttäuschungen wollten sich beide wohl ersparen. Ich dagegen, hätte mir von Manfred sehr gern noch einen nächsten phänomenalen Auftritt gewünscht.
„Meine Herren ...“, Herr Landinger übernahm nach einem kurzen Sichtkontakt zu seiner Frau das Gespräch, „… meine Herren, am Telefon wurde mir gesagt, wir würden heute von Ihnen eine Präsentation und detaillierte Informationen zu einer neuen, elektronischen Enzyklopädie erhalten. Bitte seien Sie so freundlich und erklären uns nun bitte schön, worum es geht.“
Ich glaube, es war das Wort Enzyklopädie, welches Manfred nunmehr aus der Bahn warf. Es war ihm anzusehen, dass ihm dieser Begriff nicht sonderlich viel sagte. Ich bangte, er würde nichts Falsches von sich geben. Nicht, dass er schnell das Weite suchen will, nur weil er ein Lexikon feilbot und das Paar von einer Enzyklopädie sprach. Eine schweigende, vollkommen unsichere Wanderheuschrecke neben sich sitzen zu haben, ist nicht das Beste was einem passieren kann, ist man bei den Landingers auf Geschäftstermin. Doch dann sprach er. Himmel, er sprach doch.
„Auf dieser hochmodernen CD-ROM ist das komplette Lexikon drauf, alles, was sie wissen wollen, können sie hier abrufen. Nur in den Computer schieben und los geht’s, alles von A bis Z.“
„Wenn Sie von allem reden, kann ich dann davon ausgehen, dass es sich eine umfassende, allgemeine Enzyklopädie sämtlicher Wissensgebiete handelt?“
„Es ist ein Lexikon, mit allem drauf, ja, alles drauf, meine Hand drauf.“
„Dann kann ich es sozusagen als eine Welt-Enzyklopädie verstehen?“
„Ich sagte doch, es ist ein Lexikon und alles drauf auf dieser Scheibe, ja, die ganze Welt auch.“
„Interessant. Was ist mit Anhängen wie Bibliografien, Landkarten, Ortsverzeichnissen, Illustrationen, einem umfassenden Index, sowie Listen von Abkürzungen?“
Es war die Dame des Hauses, die das Schwert der Fragen schwang und Manfred mit jeder tiefe Wunden zufügte. Manfreds Oberlippe begann zu beben. Wenn jemand mit derartigen Fragen in die Enge gedrängt wird, dann ist es nicht schwer zu erahnen, was passieren könnte. Manfred verstand nichts, versuchte sich aber, zu konzentrieren und schob leicht grimmig guckend seine Augenbrauen nach vorn. „Alles was Sie sagen, ist drauf, vom Ersten bis zum Letzten. Alles. Hand drauf!“
Soweit, so gut. Soweit, so schlecht und Herr und Frau Landinger waren nicht mehr einfach nur enttäuscht, ich konnte bei ihnen erste Anzeichen von Unruhe und Anflüge von Erbostheit erkennen. Da das Paar schon eine halbe Stunde mit uns verplempert hatte, rechnete ich mit einem abrupten Ende unserer kleinen Sitzung. Dann folgte sozusagen der Knock-Out für Manfred. Ob Schwert oder doch afrikanische Lanze, ich wusste, jetzt würde der finale Stoß folgen. Frau Landinger rutschte in ihrem Sessel etwas nach vorn, brachte sich in ihre persönliche Kampfposition und sprach: “Ich möchte gern ein paar themenspezifische Dinge von Ihnen wissen. Von Ihnen, als Verkäufer von Enzyklopädien.“
Jedes Mal, wenn dieses Wort fiel, drehte sich Manfred nervös auf der Couch hin und her. „Ich gehe davon aus …“, fuhr Frau Landinger fort, „nun, Sie müssten doch auch selbst mit einem außergewöhnlichen Allgemeinwissen ausgestattet sein. Sagen Sie mir erst einmal, wie aktuell ihre Enzyklopädie ist. Ist beispielsweise das Thema Wiedervereinigung detailliert und mit allen wichtigen Hintergrundinformationen integriert?“
„Hören Sie, ich hatte Ihnen schon mehrmals gesagt, wir reden hier von einem Lexikon, nicht mehr und nicht weniger. Und Wiedervereinigung? Klar ist die drin, die war doch schon, oder nicht?“
Frau Landinger schüttelte wort- und fassungslos nur ihren Kopf. Doch sie gab nicht auf, sie biss sich förmlich an Manfred fest. Sie wollte ihn als ungebildeten Idioten bloßstellen.
„Anderes Thema. Menschheitsevolution. Sind die neusten Erkenntnisse zur Menschheitsevolution berücksichtigt? Sagt Ihnen der Begriff Homo sapiens denn irgendetwas?“ Frau Landinger wurde jetzt merklich ungehalten und verschärfte ihren Ton. Etwas Unwissenheit hätte sie womöglich noch durchgehen lassen, aber Manfred übertrieb es etwas. Da er nicht antwortete, war Manfred für Frau Landinger ein ausgemachter Depp sondergleichen und eben dieser Depp fühlte sich jetzt vollends angegriffen. Es folgte sein persönlicher Offenbarungseid, der alle Anwesenden nur noch erstarren ließ.
„Was soll das denn jetzt? Ich hab eine Freundin. Ich bin kein Homo. Geht´s noch? Aber egal, ich gebe Ihnen, wenn sie jetzt unterschreiben, zehn Prozent auf den normalen Preis, was sagen Sie jetzt? Das mach ich nur ganz selten, und auch wenn Sie sagen ich bin ein Homo, ich mach`s trotzdem.“
Das war´s. Hier trafen zwei Welten aufeinander, die einfach nicht zusammenpassten. Herr Landinger faltete seine Hände und schämte sich, so wie er sich wohl noch nie schämte. Seine Frau schnappte mehrmals nach Luft. Dann drehte sie sich zu ihrem Mann, ihre Gesichtszüge verhärteten sich und sagte fordernd in echter Sprache: „Gustav, schmeiß diese beiden Idioten sofort raus!“ Herr Landinger beugte sich nach vorn und übersetzte dies zurück in seine Sprache: „Ich möchte Sie jetzt bitten, unser Haus zu verlassen. Es war sehr interessant, ihren Ausführungen zuzuhören, und wir möchten es uns noch einmal in Ruhe überlegen. Bitte!“ Mit einer galanten Handbewegung zeigte er uns den Weg zur Tür und übergab uns der Haushälterin, die uns zum Halbmond führte.
Das Erste was Manfred im Wagen machte, war, und es ist schon fast überflüssig es überhaupt zu erwähnen, er vermerkte diesen Besuch mit: „Bin nah dran!“ Auf der Fahrt zum Hotel ließ sich Manfred ausgiebig über die Landingers aus. Als er vollkommen aufgelöst herausschrie, warum diese Schweine nicht bei ihm unterschrieben haben, dies trotz seiner zehn Prozent, dachte ich kurz wieder an den Trommelrevolver in der Wäschekommode.
Am Abend blieb ich im Hotelzimmer und bestellte mir vom Room-Service ein Sandwich. Schon um halb fünf am nächsten Morgen stand ich an der Rezeption, checkte aus, zahlte und verschwand. Ich hoffte nie Schlimmstes für die Menschen, doch mit Manfred war es anders. Möge Kaportzke dieser Ausgeburt an Dämlichkeit einen saftigen Tritt in den Arsch geben. Möge Manfred als Losverkäufer auf einer Kirmes enden. Während er die Lostrommel unermüdlich drehen würde, hörte ich ihn schon in die Menge rufen: „Zehn Prozent auf drei Lose, satte zehn Prozent auf drei Lose, ihr verdammten Schweine.“