Kitabı oku: «"George Grosz freigesprochen"», sayfa 4

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Anmerkungen

Labori ] Fernand Labori (1860–1917), Verteidiger von Hauptmann Alfred Dreyfus sowie seines mitangeklagten Fürsprechers Émile Zola. Dreyfus, einziger jüdischen Offizier im französischen Generalstab, war 1894 aufgrund fingierter Beweise der Spionage für das Deutsche Reich und des Hochverrat angeklagt und zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden. Der offen antisemitische, mittels fingierter Beweise geführte Schauprozeß – Dreyfus wurde erst 1906 rehabilitiert – spaltete Frankreich in die verfeindeten Lager der ›Dreyfusards‹ bzw. ›Anti-Dreyfusards‹ und führte die 3. Republik in eine Dauerkrise.

Nietzsche ] Der Aphorismus von Friedrich Nietzsche lautet vollständig: „‚Das habe ich getan‘, sagt mir mein Gedächtnis. ‚Das kann ich nicht getan haben‘ – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.“ (Jenseits von Gut und Böse, 1886, 4. Hauptstück, Sprüche und Zwischenspiele, Nr. 68)

Wir rufen ... Gerechtigkeit! ] Nicht ermittelt.

ZWEI GIFTMISCHERINNEN
Gattenmordprozeß in Moabit

Man liest die Anklage und denkt – beinahe hätte man gesagt: und hofft –, daß die Täterinnen irgendwie das Kaliber ihrer Taten haben werden. Aber was sich vor dem Schwurgericht entfaltet, ist Kleinbürgertum in seinen engsten Formen. Klein und unscheinbar die beiden Frauen, die auf Abwegen der Liebesleidenschaft bis zu Mord und Mordversuch gelangt sind, ärmlich und kümmerlich der Haufen von Menschen aus Lichtenberg, der in den Saal strömt, um für oder wider Zeugnis abzulegen.

Unter den Angeklagten macht Frau Klein, also diejenige, deren Gift tödlich gewirkt hat, der Anteilnahme am wenigsten Schwierigkeiten. Zwar, daß in diesem gelassenen Weibe, das ohne sichtbare Erregung, überlegt und beherrscht, aussagt, Raum sein soll für die Zärtlichkeiten einer überschwänglichen Frauenfreundschaft, würde man nicht vermuten. Aber sie gibt sich natürlich und unverstellt, gesteht die Darreichung von Gift ein und erklärt ihr Verbrechen damit, daß sie besessen gewesen sei von der Leidenschaft, sich von ihrem Mann zu befreien. Freilich versucht sie, die Schuld daran dem Toten zuzuschieben und den Vorsatz der Tötung abzuleugnen.

Wenn das, was sie über ihre Ehe erzählt, auch nur zum Teil sich als wahr erwiese, so hätte sie damit die Giftmischerei als einen Akt der Verzweiflung zum mindestens begreiflich gemacht. Nach ihrer Schilderung war sie in die Hände eines unflätigen Rohlings geraten, der die Alltäglichkeit ihres Ehelebens nicht nur mit Schlägen und Schimpfworten zerrüttete, sondern – was schlimmer ist – sie mit allen Ekelhaftigkeiten der Sexualpathologie besudelte. Gibt es keine Rettung aus solcher Hölle? Sie hat versucht, ihm davonzulaufen, und sich zu ihren Eltern nach Braunschweig geflüchtet. Merkwürdigerweise ist sie zu ihrem Mann zurückgekehrt, wie sie behauptet, unter der Einwirkung ihres Vaters. Sie hat auch die Scheidung beantragt, aber nicht durchgesetzt, und sich wieder mit dem Gatten versöhnt. Erst nachdem diese Versuche, sich zu befreien, fehlgeschlagen sind, will sie auf den verzweifelten Ausweg verfallen sein, den sie dann gewählt hat.

Einen weit peinlicheren Eindruck macht die zweite Giftmischerin, Frau Rebbe, mit ihrer Mutter. Es ist deutlich eine Familie von Hysterikern. Beide zeigen sich fassungsloser als die viel schwerer belastete Frau Klein, und namentlich die Mutter verliert zeitweise jeden Halt. In der erotischen Verbindung der beiden jungen Frauen ist Frau Rebbe zugestandenermaßen die Führende und Verführende gewesen. Sie leugnet ihre Tat. Sie will auch zum Verbrechen der anderen nicht getrieben, sondern vor ihm gewarnt haben. Den Richtern spielt sie guten Eindruck vor. „Ich bin von meinen Eltern zu treuer Pflichterfüllung, Gottesfurcht und Vaterlandsliebe erzogen worden und bewahre diese Eigenschaften noch jetzt“, so fließt es ihr mit salbungsvoller Beredsamkeit von den Lippen im Strome ihrer zusammenhängenden Aussage, die wie vorgelesen wirkt. Auch sie weiß von dem Martyrium ihrer Ehe zu erzählen.

Merkwürdig ist, daß die Erfahrungen der beiden Frauen mit dem Mann sich so stark ähneln, merkwürdig, daß Frau Klein während ihres Ehescheidungsprozesses von den Mißhandlungen, auf die hin sie die Scheidung wahrscheinlich leicht hätte durchsetzen können, nichts gesagt hat, merkwürdig, daß jede der beiden Freundinnen behauptet, ihr seien von dem Manne der anderen unzüchtige Anträge gemacht worden; merkwürdig endlich, daß in dem Briefwechsel zwischen ihnen von den Unerträglichkeiten des abnormen Eheverkehrs nicht die Rede ist.

Dieser Briefwechsel bildet eine psychologische Sonderbarkeit für sich. Im Laufe eines halben Jahres sind nicht weniger als sechshundert solcher Schriftstücke gewechselt worden, also weit über das Bedürfnis der Mitteilung hinaus. Auf sie vor allen Dingen stützt sich die Mordanklage; denn in ihnen soll von der Tat, dem Plan, der Ausführung und dem fortschreitenden Erfolg immer wieder die Rede sein. Das Gericht hat zwei Verhandlungstage, heute und morgen, für ihre Verlesung festgesetzt.

Kleinbürger: die Mutter des Ermordeten, für die es von Anfang an feststeht, daß ihrem Sohne Gift gegeben worden sei, die selber glaubt, daß ihr in einer Tasse Kaffee Gift gereicht werden sollte, und die daher nie mehr eine Speise aus der Hand ihrer Schwiegertochter angerührt hat, unbesonnen und redselig in dem Bestreben, von ihrem toten Sohne das Beste auszusagen, schwer beim Thema zu halten und leicht auf Ungenauigkeiten zu ertappen; der am Leben gebliebene Mann der anderen Giftmischerin, von Beruf Schofför, bereits früher in manche dunkle Affäre verwickelt, mit ausweichenden Antworten, wieder und wieder vom Vorsitzenden und Verteidiger zur Wahrheit ermahnt und vor dem Meineid gewarnt; die alte Kartenlegerin, von der Frau Rebbe ihr unwirksames Gift bezogen haben soll, ein gebücktes Weiblein, wie aus dem Märchen, das von einer Begleiterin geführt, gestellt und gesetzt werden muß, das nichts weiß, sich nicht erinnert, nichts gesehen und nichts getan hat. Und so weiter die lange Reihe der Zeugen.

Vielleicht, daß aus den vorgelesenen Briefen der Freundinnen eine reinere Flamme lodert.

Vossische Zeitung, 13. März 1923

Das Urteil gegen die Giftmischerinnen

Das Urteil im Giftmordprozeß Klein-Rebbe wurde gestern abend nach fünftägiger Verhandlung gefällt. Es lautete: Die Angeklagte Klein wird wegen Totschlags zu vier Jahren Gefängnis, die Angeklagte Rebbe wegen Beihilfe zu 1 Jahr 6 Monaten Zuchthaus verurteilt. Den beiden Angeklagten werden je neun Monate der Untersuchungshaft angerechnet. Der Angeklagten Klein werden die bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von sechs Jahren, der Angeklagten Rebbe auf die Dauer von drei Jahren aberkannt. Die Angeklagte Riemer wird freigesprochen.

FREUNDINNEN

Wenn ein schweres Eisenbahnunglück geschehen ist, so werden pflichtgemäß sorgfältige Untersuchengen über die Ursachen angestellt. Gewöhnlich kann man dann hinterdrein lesen, daß zu dieser Wirkung eine ganze Reihe von verhängnisvollen Umständen zusammentreffen mußte. Hätte nur ein einziges Glied in der Schicksalskette gefehlt, so wären die beiden Züge nicht zusammengestoßen, und die vielen toten und verstümmelten Menschen wären noch unversehrt und am Leben.

Ist die kleine zierliche Tischlerstochter Elli Thieme aus Braunschweig, die seit ihrer Verheiratung Frau Klein heißt, ihren Anlagen nach eine Verbrecherin? Sie ist geboren und aufgewachsen in einem soliden Handwerkerhaus der kleinen Stadt unter dem patriarchalischen Regiment eines strengen, allzu strengen Vaters. Die ihr nahestehen, schildern sie als einen intellektuell zwar nicht sehr entwickelten, aber harmlosen, lenksamen und liebebedürftigen Menschen. Der persönliche Eindruck im Gerichtsaal bestätigt dieses Zeugnis, auch die allzu lange festgehaltene Kindlichkeit des Aussehens und Wesens. Ihr ist gewiß nicht an der Wiege gesungen worden, daß sie sich einmal wegen des schwersten Verbrechens, das es unter Menschen gibt, wegen heimtückischer Ermordung des eigenen Gatten durch Gift, würde verantworten müssen. Welches ist die unheilvolle Verknüpfung von Umständen, die dieses Weib so weit aus seiner natürlichen Bahn geschleudert haben und durch deren grausames Zusammenwirken der Giftmord zustande gekommen ist?

Liebesheirat des menschenunerfahrenen Mädchens. Sie kommt dabei zwar aus der Provinz nach der Hauptstadt, aber sie bleibt in ihrer Sphäre: die Tischlerstocher hat sich einen Tischlergesellen erwählt. Warum sollte das Heim der Neuvermählten nicht ein Himmel werden?

Es dauert nur wenige Wochen, und schon weiß die Frau, daß es die Hölle ist. Wahrscheinlich hat sie vorher nicht geahnt, daß es dergleichen gibt, und vielleicht hat sie dann nicht gewußt, ob das, was ihr widerfuhr, allgemein männlich ist oder nur ihrem Scheusal von Mann anhaftete. Allen ihren Bekannten fällt die Veränderung auf. Daß sie von der Ehe enttäuscht sei, gesteht sie den Allernächsten, vor allem in verzweifelten Briefen nach Hause. Was sie eigent­lich in ihren Nächten erlebt, bringt sie nicht über die Lippen. Endlich reift aus der Verzweiflung ein Entschluß: sie flüchtet ins Elternhaus. Aber der Vater, dem klare Tatsachen nicht mitgeteilt werden und der nicht feinfühlig und nicht klug genug ist, um das Unausgesprochene zu sehen, jagt sie mit der Autorität, die er in seinem Hause genießt, zum Gatten zurück und pflanzt vor das rettende Elternhaus wie einen Engel mit dem Flammenschwert den harten Befehl: „Wage dich nicht noch einmal nach Hause“. Inzwischen hat der Mann Besserung gelobt und mit der Gläubigkeit ihres infantilen Wesens hat sie die Besserung für möglich gehalten. Es geht ein paar Tage, dann wird sie aufs neue durch den Kot geschleift. Nach Monaten ein zweiter Entschluß: Flucht zu Bekannten und Einleitung der Ehescheidung. Sie brauchte nur zu gelingen, so war noch immer alles Schlimme zu verhüten. Statt dessen kann sie sich wieder nicht überwinden, ihrem Anwalt die Hauptargumente gegen den Gatten anzuvertrauen. Der Vater verlangt, der Ehemann droht – sie nimmt die Scheidungsklage zurück. Diesem armen, unentwickelten Gehirn muß es so vorkommen, als ob es keinen Ausweg gibt aus der Kloake, die mit dem Namen Ehe geschändet wird.

In diesen verhängnisvollen Augenblick fällt die Bekanntschaft mit ihrer Mitangeklagten Greta Rebbe, geb. Riemer.

Frau Rebbe, deren Vergehen juristisch viel leichter ist als das ihrer Freundin, trägt moralisch unzweifelhaft die größere Schuld und ist menschlich die undurchsichtigere Erscheinung. Auch sie keine Frau von Kaliber; aber auch sie nicht eine Verbrecherin der Anlage nach. Schwächliches Kind, schwere Krankheiten in früher Jugend, alkoholischer Vater, überzärtliche Mutter. Der Krieg zerrüttet die wirtschaftlichen Verhältnisse, man übersiedelt aus dem gesunden Vorort in eine kleine Etagenwohnung in Lichtenberg. Kriegsverlobung mit einem wenig gekannten Mann und Kriegstrauung. In das immerhin behagliche Heim von Mutter und Tochter zieht nach Friedensschluß ein gänzlich unbemittelter und arbeitsloser Mann. Die Sorgfalt der Frau hält ihn über Wasser, bis er als Schofför Verdienst findet. Vielleicht nicht ganz einwandfreien Verdienst; die Dinge sind nicht recht geklärt. Statt des Dankes, den die junge Frau beanspruchen darf, erntet sie Brutalitäten. Aus der kleinen Wohnung, in der drei Personen vielleicht zu viel sind, soll die Schwiegermutter hinausgedrängt werden. Auch in diesem Fall bringt das Schlafzimmer Enttäuschungen und Ekel. Frau Rebbe, entschlossener als Frau Klein, wählt den Ausweg des Selbstmordes. Nur die Dazwischenkunft der Mutter verhindert die Ausführung.

Der psychologische Moment, in dem sie die Freundin kennen lernt, ist für sie genau derselbe wie für jene. In der Enttäuschung der Ehe und in dem Ekel vor dem Ehemann finden sie sich. Aus der Freundschaft der Schicksalsgenossinnen wird rasch die erotisch leidenschaftliche Liebe von jener Art, der die Bewohnerinnen der Insel Lesbos den Namen gegeben haben.

Was diesen Prozeß aus der Reihe der forensischen Vorgänge heraushebt, ist der Umstand, daß hier mit einer Kraßheit wie kaum jemals vorher eine gesellschaftliche Erkrankung unserer Zeit in ihrer zügellosen Stärke und in ihren gefährlichen Folgen vor die Öffentlichkeit hingestellt worden ist: denn als die eigentlich Schuldige an Mord und Mordversuch stand vor den Geschwo­renen die Freundschaft der beiden Frauen. Erst die Leidenschaft dieser Liebe hat auch die Leidenschaft, sich aus den beiden Ehen freizumachen und zueinanderzukommen, bis zu jener Stärke gesteigert, daß die klare Überlegung getrübt war und weder das Verbotene noch das Gefährliche und daher maßlos Törichte des Beginnens überblickt wurde. Die Tat, über lange Wochen hin und also scheinbar mit kalter Überlegung ausgeführt, ist tatsächlich im erotischen Rausch begangen worden. Dafür zeugen die aufgefundenen 600 Briefe. Sie entspringen keinem Mitteilungsbedürfnis; denn es sind ihrer an jedem Tage mehrere geschrieben worden, während man sich dazu noch sah und sprach. Dieses fortwährende exaltierte Bekennen der liebenden Zusammengehörigkeit gewährte offenbar für sich selbst der Schreiberin wie der Empfängerin Reiz und Befriedigung, und zweifellos ist die Niederschrift der Vergiftung in allen ihren Phasen nicht anders zu werten.

Frau Rebbe, die zugestandenermaßen diejenige ist, die zu dem Liebesbunde geführt und verführt hat, ist im Briefwechsel auch diejenige, welche zum Giftmord rät. Offenbar berauschte es sie, sich die Freundin in dieser verwegenen Rolle vorzustellen, und offenbar berauschte es die Freundin nicht minder, sich der anderen bis zum Verbrechen des Mordes willfährig zu zeigen. Gegen­über dem Eifer, mit dem die Schwache, zarte, hingebungsvolle Frau Klein von der größeren, herberen, herrschenden Frau Rebbe zur Beseitigung des Ehemanns Klein gespornt wird und sich spornen läßt, wirkt die entsprechende Tat der Frau Rebbe, die ja keinen Erfolg gehabt hat, als eine bloße Spielerei; eine Geste, die über alle Worte hinweg anstachelnd wirken sollte.

Die Folgen dieser Leidenschaft sind ein Ausnahmefall, hervorgerufen durch die unglückliche Verkettung von Umständen. Daß es die Leidenschaft selbst keineswegs ist, dies darf man ja nun wohl ungescheut aussprechen. Sie grassiert als eine Volksepidemie, aus den Abgründen der Gesellschaft durch alle Schichten hinaufreichend bis in das scheinbar solideste Bürgertum. Nicht auf diejenigen Frauen kommt es dabei vor allem an, denen ihre natürliche Veranlagung den Mann reizlos und die Frau begehrenswert macht. Sie werden höchstens ermuntert, sich ohne Angst vor gesellschaftlicher Ächtung zu ihrer Natur zu bekennen. Von Krankheit darf man erst dort sprechen, wo die natürlich veranlagte Frau zur unnatürlichen Beziehung flieht als einem Laster von besonderem Reiz, das sie der Verbindung mit dem Manne vorzieht. Es hat keinen Zweck, sich moralisch zu entrüsten. Auch nicht den Staat mit Verboten und Befehlen in Bewegung zu setzen. Aber daß hier die Anzeichen einer schweren Erkrankung unserer Gesellschaft vorliegen, das soll doch einmal mit allem Nachdruck ausgesprochen werden. Diese Krankheit selbst gilt es zu heilen durch einen Neuaufbau unserer menschlichen und wirtschaftlichen Zustände bis zu dem Ziele, daß es wieder einen Sinn hat, zu schaffen und zu streben, ein Haus zu gründen und Kinder auf­zuziehen. Wenn wir erst soweit sind, daß die Grundlagen der bürgerlichen Existenz wieder Tragkraft haben und daß sich auf diesem Boden das Behagen der Tage und das Glück eines erfolgreichen Lebens errichten läßt, so werden jene bösen Merkmale sozialer Ungesundheit von selbst verschwinden.

Vossische Zeitung, 17. März 1923

BANDEROLEN

Das Leben ist schwer, und das Tabaksteuergesetz ist schwer. Sechs Männer sitzen auf der Anklagebank. Alle nicht mehr jung, alle vom Kampf ums Brot mitgenommen, dieser und jener auch schon ein bißchen vorbestraft. Keinem von ihnen, das sieht man ihnen an, geht es gut, keinem vermutlich ist es jemals gutgegangen. Da ist einer, der sich als einen Kaufmann bezeichnet, und das mit Recht, denn er hat Zigaretten verkauft. Aber er hat dies zu Unrecht getan, denn er besaß keine Erlaubnis zum Handeln mit Zigaretten. Ja, er hätte sie nicht einmal beziehen dürfen. Indessen, er ist lungenkrank und dadurch erwerbslos geworden. Was tun, um nicht zu verhungern? Also bezog er Ziga­retten, nicht weniger als 900 Stück, wirft die Anklage ihm vor, und verkaufte sie weiter. Freilich ist da noch ein erschwerender Umstand. Die Zigaretten waren unverzollt, und auch der Tabak, aus dem man die Zigaretten hergestellt hatte, war unverzollt, und der Lungenkranke wußte das. Und damit seine Schachteln vor den Käufern einen Anschein hätten, löste er von gebrauchten Schachteln die Banderolen oder Fetzen von Banderolen ab und beklebte seine eigenen Schachteln damit.

Bezogen hatte er seine Zigaretten von einem Mann, der auch auf der Anklagebank sitzt und dem es auch nicht gut geht. Er stammt aus Philippopel, ist seit langem hier verheiratet und Vater eines Sohnes. Er betrieb früher eine reguläre Tabakfabrik, mit allen Erlaubnissen, die dazu gehören; aber er kam damit auf keinen grünen Zweig. Im Gegenteil, die Fabrik ging ein. Damals meldete er die Fabrikation von Zigaretten ab und schaffte die Reste des Betriebes in seine Wohnung. Und da auch er mit den Seinen nicht verhungern wollte, so warf er sich auf den Musikunterricht. Dazu muß einer aus Philippopel stammen und eine Tabak­fabrik besessen haben, um in seiner Berliner Wohnung Musikstunden zu geben!

Aber so schlecht ging es ihm noch nicht, daß es ihm nicht eines Tages erheblich schlechter hätte gehen können. Sein Söhnchen wurde schwer krank, lag monatelang im Spital, es kostete viel Geld, die Hälfte brachte er selber auf, die Hälfte schoß das Wohlfahrtsamt vor. Als es die Schuld zurückforderte, mußte der Musik­lehrer aus Philippopel auf Einnahmen sinnen und verfiel darauf, wieder Zigaretten zu fabrizieren. 21500 Stück soll er hergestellt haben, ohne Erlaubnis und unverzollt. Den Tabak dazu besaß er zum Teil noch von früher her, zum Teil mußte er ihn kaufen. Er kaufte ihn von einem Mann aus Kiew, einem richtigen Tabak­fabrikanten, wenn auch staatenlos. Dieser Mann lieferte ihm den Tabak und zwar 15 Kilogramm, unversteuert, trotzdem er ihm gar nichts hätte liefern dürfen, da der Musiklehrer ja keine Erlaubnis besaß und also in diesem Punkt nur ein Privatmann war. Übrigens aber hatte der Mann aus Kiew gar nicht geliefert, sondern in seiner Abwesenheit sein Schwager aus Galizien, staatenlos, der wiederum die Branche nicht kannte und nicht wußte, wem man liefern darf und wem nicht und was versteuert werden muß und was nicht. Ferner ist er der Meinung, wenn man alle Steuern bezahlen wolle, könne man das Geschäft gleich zumachen.

Die beiden Schwägersleute jedenfalls sitzen auch auf der Anklage­bank. Dann soll der Musiklehrer noch 5 Kilogramm Tabak von einem Fabrikanten aus Rustschuk bezogen haben. Der leugnet zwar, aber er steht nun auch hier. Und dann ist noch ein pensionierter Telegraphenassistent da, der Zigaretten, regulär versteuerte Zigaretten ein bißchen unter seinen Bekannten vertrieben hat und von dem niemand begreift, wie er in die Affäre der fünf anderen hineingeraten ist.

Schwer ist das Leben. Aber schwer ist auch das Tabaksteuergesetz. Zwei Delegierte der Steuerbehörde sind zugegen. um dem Gericht die schwierige Materie auseinanderzusetzen. Versteuert werden muß der Rohtabak; das ist die Tabaksteuer. Versteuert werden muß der Tabak, auch wenn er schon einmal versteuert worden ist, sobald er zu Zigaretten verarbeitet wird; das ist die Materialsteuer. Versteuert werden müssen die fertigen Zigaretten; das ist die Banderolensteuer. Die Steuerbehörde hat tapfer zugegriffen, als sie diese sechs Männer erwischte, hat sie unter schwere Anklage bis zur Urkundenfälschung gesetzt und ein paar von ihnen auf mehrere Monate in Untersuchungshaft nehmen lassen.

Aber während das Gericht an diesem praktischen Beispiel Tabak­steuergesetz lernt, nimmt es sich die Steuerbehörde selbst ein bißchen vor. Von den beiden Schwägersleuten ist der eine der Chef, der andere der Angestellte. Der Chef ist von der Steuerbehörde wegen eben jener an den Musiklehrer gelieferten 5 Kilogramm schon zur Verantwortung gezogen und bestraft worden. Warum hat die Steuerbehörde das nicht gemeldet? Soll denn derselbe Mensch wegen desselben Vergehens zweimal gerichtet werden?

Das Gericht ist noch nicht fertig mit der Steuerbehörde. Banderolenfälschung sagt das Steueramt. Aber was hat denn der lungenkranke Kaufmann mit den Banderolenschnipseln gemacht? Hat er denn die Kästen damit geschlossen? Nein, er hat sie nur auf die offenen Schachteln geklebt. Er hat sie also gar nicht als Steuerbanderolen verwendet.

Zeugen werden kaum vernommen, indessen doch ein wohlachtbarer Tabakhändler, der seinerseits den Tabak an die Schwägersleute geliefert hat. Er weiß genau, wem er liefern darf und wem nicht, was versteuert werden muß und was nicht, und welche Formulare und Formalitäten dazu nötig sind. Denn offenbar, man sieht es ihm an, sein Geschäft geht gut. Und warum sollte er also nicht dem Tabaksteuergesetz Genüge tun?

Der Telegraphenassistent wird freigesprochen. Das Verfahren gegen den Lieferanten der fünf Kilogramm wird abgetrennt; denn es fehlt die Taxe der Steuerbehörde über den hinterzogenen Betrag. Der lungenkranke Kaufmann verfällt in Geldstrafe, die durch die Untersuchungshaft verbüßt ist. Der Musiklehrer wird ebenfalls zu Geldstrafe, und zwar zu einer recht hohen verurteilt, auf die aber auch zum größten Teil die Untersuchungshaft angerechnet wird. Nur 93 Mark müssen bezahlt werden und freilich auch ein Wertersatz von 130 Mark. Von den beiden Schwägersleuten bekommt der eine, der Angestellte, eine Geldstrafe, das Verfahren gegen den anderen, der schon einmal bestraft worden ist, wird niedergeschlagen. Aber es fragt sich, ob das gut für ihn ist. Denn jetzt wird er für die Geldstrafe seines Angestellten haftbar gemacht werden.

Nicht zu vergessen die Einziehung der beschlagnahmten Tabakvorräte, mit Einschluß von 10000 Zigarettenhüllen, die der Musiklehrer unberechtigterweise von früher her in seinem Besitz gehabt hat.

Schwer ist das Gesetz. Schwer ist das Leben. Wer will entscheiden, welches von beiden das schwerste ist.

Vossische Zeitung, 26. Juni 1928

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