Kitabı oku: «"George Grosz freigesprochen"», sayfa 5

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EIN PECHVOGEL

In der Zeitung stand, daß in einem großen, neu zu eröffnenden Café der Friedrichstadt die Garderobe zu verpachten sei. Es meldete sich eine Kriegerwitwe und wurde durch ein Schreiben zu einem Vermittler bestellt, der sie seinerseits an einen Mann namens Esser verwies. Das war nun derjenige, dem das Café gehörte und der die Garderobe zu verpachten hatte. „Rosenhof“ sollte die neue Vergnügungsstätte heißen, sie befand sich Friedrichstraße, Ecke Kronenstraße und wurde zunächst renoviert.

Die Kriegerwitwe ließ sich von Herrn Esser, der als Direktor auftrat, in dem Etablissement umherführen, und da sie einen guten Eindruck machte, so fand sich der Direktor bereit, ihr den Rang einer Garderobenpächterin zu verleihen. Sie war selbstverständlich bereit, für diese Ehre, die außerdem hohen Gewinn versprach, 2000 Mark Pacht im voraus zu zahlen, gab die Hälfte sofort hin, die andere Hälfte einige Zeit danach. Und nun wartete sie auf die Eröffnung. Sie verzögerte sich. Immer wieder kam die Kriegerwitwe aus ihrem Vorort hereingefahren und sah nach, wie weit die Renovierung fortgeschritten wäre. Und eines Tages fand sie das Café „Rosenhof“ in vollem Betrieb, und als sie eintrat, schaltete an der Garderobe ein anderer. Sie drang bis zu dem Direk­tor vor, und dort hörte sie denn zu ihrer Beruhigung, daß heute noch nicht die offizielle Eröffnung wäre, und daß von morgen ab sie ungestört in ihrer gepachteten Garderobe würde schalten können. Am nächsten Tage war es noch immer nicht so weit, aber sie hörte wieder aus dem Munde des Direktors, daß sich alles arrangieren werde. Es arrangierte sich in der Weise, daß das ganze Café „Rosenhof“ aufflog. Die Kriegerwitwe sah ihr Geld nie wieder.

Sie war nur eine von vielen, denen Direktor Esser die Garderobe verpachtete. Es drängten sich alle möglichen Leute zu dieser Einnahmequelle, sie mußten das Recht auf Verdienst mit einer baren Summe vorher bezahlen und wurden betrogen, wenigstens die meisten von ihnen; denn einen Monat lang war der „Rosenhof“ ja in flottem Betrieb, und mindestens der eine Garderobenpächter, der die Garderobe wirklich abnehmen durfte, erlitt keinen Schaden.

Café „Rosenhof“ wiederum war bloß ein Fall unter vielen ähnlichen Fällen. In gleicher Weise hatte Herr Esser das „Weiße Schloß“ in Heringsdorf gepachtet und ausgebeutet, indem er die Bar, die Kaffeeküche, das Hauptbüfett und die Kellerei unterverpachtete. Als die Leute hinreisten, um für ihr gutes Geld mit der Arbeit, aber auch mit dem Verdienen anzufangen, stellte sich heraus, daß an Eröffnung des „Weißen Schlosses“ nicht zu denken war und daß es auch mit der Konzession haperte. Hier wäre Herr Esser um ein Haar verprügelt worden, und er zog es vor, sich in Sicherheit zu bringen. Auch als Direktor des Berliner Apollo-Theaters gab er sich einmal aus und vollführte das gleiche Manöver.

Wegen dieser Betrügereien hatte die erste Instanz ihn zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Die Berufungsinstanz unter Leitung des Landgerichtsdirektors Weigert verfuhr glimpflicher mit ihm, indem sie von sieben Betrugsfällen nur fünf als erwiesen ansah und ihn dafür mit 3 Jahren Gefängnis und 5 Jahren Ehrverlust bestrafte. Esser war aus der Strafhaft vorgeführt worden, die er für ein anderes Vergehen abbüßt, in Krankenhaustracht, ein kahlköpfiger alter Mann, verbraucht, wie ihn der medizinische Sachverständige nannte, in sich zusammengesunken und weinerlich: ein Betrüger, der mit seinem Schicksal hadert. Es geht ihm wie dem Helden in Gogols berühmtem Roman „Die toten Seelen“: er hat betrügen wollen, nicht aus Phantastik oder aus Freude am Betrug, sondern um zu Gelde zu kommen; und er ist nicht zu Gelde gekommen. Alles ist schief gegangen.

Da hat sein Komplice mehr Glück gehabt, der als Agent ihm die Kunden zuführte und sich bei Bedarf an den sogenannten Pachtungen und scheinbaren Gründungen beteiligte. Groß, breit und stattlich stand er als Zeuge vor dem Richtertisch, mit treuherziger Miene und biederem Tonfall setzte er seine harmlosen Geschäfte auseinander. Erst zum Schluß wurde er dahin gebracht, sieben Vorstrafen einzugestehen, von denen er eine zusammen mit Esser erlitten hat. Aber weder wegen des „Rosenhofes“ noch wegen des „Weißen Schlosses“ erstreckte die Strafverfolgung sich bis auf ihn. Zwar behauptete er, daß der Zusammenbruch ihn ein Vermögen von 20 000 Mark gekostet habe. Aber er ist keineswegs verbraucht und wird vielleicht noch eines Tages den großen Fang machen.

Vossische Zeitung, 2. August 1928

GRAF HELLDORFS ZUSAMMENSTOSS
Geldstrafe wegen fahrlässiger Körperverletzung

Wir wollen nicht kleinlich sein. Wolf Heinrich Graf von Helldorf, Rittergutsbesitzer, ist auch nicht kleinlich. Er, der dem vorigen preußischen Landtag als eines der 11 Mitglieder der deutschvölkischen Fraktion angehört hat, ist beim Kauf seines Autos keineswegs nach deutsch-völkischen Grundsätzen verfahren; es war vielmehr ein großer Buickwagen, also ein Amerikaner, 18/80, mit viersitziger offener amerikanischer Karosserie. Und als er sich gestern vor dem Schöffengericht Berlin-Mitte wegen fahrlässiger Körperverletzung zu verantworten hatte, verfuhr er bei der Auswahl seines Verteidigers wiederum nicht nach deutsch-völkischen Grundsätzen ...

Wir wollen also nicht kleinlich sein und die Sache so darstellen, als ob er blos deshalb, weil er deutschvölkischer Graf und Rittergutsbesitzer ist, die Gewohnheit habe, die Leute totzurasen. Zwar ist ihm schon einmal das Mißgeschick begegnet, daß er einen so unglücklich überfahren hat, daß der an den Folgen der Verletzungen gestorben ist. Indessen damals wurde die Sache gegen ihn eingestellt.

Diesmal hat es sich so zugetragen: Der Graf befand sich auf einer Autoreise von seiner mitteldeutschen Heimat nach Mecklenburg. In Berlin machte er Rast. Am Abend des 18. März besuchte er in der City ein Weinlokal, in Gesellschaft zweier Freunde, eines Rittmeisters a. D. und eines dritten Adligen, der den seltenen Beruf eines Privatgelehrten ausübt. Man saß bei Essen und Trinken ziemlich lange zusammen und bestieg dann das gräfliche Auto, um nach dem Westen zu fahren. Graf Helldorf steuerte, seine Begleiter nahmen auf den Rücksitzen Platz.

Auf der nächtlichen Tiergartenstraße widerstand Graf Helldorf nicht der Verlockung, mit derjenigen Geschwindigkeit loszusausen, die er von der Landstraße her gewöhnt war. Er ahnte auch nichts von der gefährlichen Einmündung der Hofjägerallee und fuhr in einem Tempo, von dem er selbst vor Gericht 50 Kilometer zugab, über die Kreuzung. Er hatte noch Zeit, eine Autodroschke zu bemerken, die von rechts her den Schnittpunkt der Bahnen schon beinahe erreicht hatte, aber keine Zeit mehr auszuweichen oder zu bremsen. Infolgedessen beschleunigte er noch sein Tempo, in der Hoffnung, vor der Droschke hinüberzugelangen. Der Droschkenschofför seinerseits, der mit vorgeschriebener Verlangsamung die Kreuzung passierte, erschrak, als er plötzlich einen Privatwagen auf sich zubrausen sah, warf das Steuer nach rechts herum, konnte aber nicht verhindern, daß die Droschke den Buick rechts hinten rammte, so daß der Wagen des Grafen sich um sich selbst drehte und entgegengesetzt zu seiner Fahrt­richtung zu stehen kam.

Bei dieser Gelegenheit flog der eine Passagier des Buik, der frühere Rittmeister, durch das Verdeck auf die Straße und blieb verletzt, zwar nicht liegen, aber sitzen. Inzwischen hat er Schadenersatzansprüche gegen den Grafen gestellt, und es schwebt zwischen beiden ein Prozeß; was nicht hindert, daß der Rittmeister sich noch immer als Freund des Grafen bezeichnet und ihn vor Gericht nach Möglichkeit entlastete.

Der Graf hob seinen hinausgefallenen Passagier in den Wagen und fuhr mit ihm davon. Der Droschkenschofför hatte bei dem Zusammenstoß das Bewußtsein verloren. Berufskollegen fanden ihn auf dem Asphalt liegen, hoben ihn auf und brachten ihn zur Unfallstation. Er trug eine Gehirnerschütterung, einen Bluterguß und eine Gehörstörung davon. Vor Gericht trat er als Nebenkläger auf, so weit geheilt, daß er wieder einen Beruf ausüben kann. Aber es ist der Kaufmannsberuf; das Schoffieren hat er infolge des Unfalls aufgeben müssen. Wohl betrieb er sein Gewerbe erst wenige Wochen. Er ist es nämlich eigentlich anders gewöhnt, war vor dem Kriege aktiver Offizier und im Kriege Flugzeugführer.

Die Droschkenschofföre, die Zeugen des Zusammenstoßes waren, hatten den Eindruck, der Graf auf seinem Buick-Wagen wollte sich der Feststellung entziehen. Sie fuhren hinterdrein und stellten ihn auf der Herkulesbrücke. Der Graf seinerseits behauptete, er habe keineswegs fliehen wollen und sei auch zum Halten nicht gezwungen worden, sondern habe dies getan auf Bitten seines verletzten Insassen, der die Erschütterungen der Fahrt in dem ramponierten Wagen nicht länger aushielt.

Das Urteil lautete, gemäß dem Antrag des Staatsanwalts, auf 500 Mark Geldstrafe. Auch der deutsch-völkische Graf wird das für ein mildes Urteil halten und wird finden, daß der sanftmütige Staat, den er bisher bekämpft hat, ganz im Gegenteil seine Sympathie verdient.

Vossische Zeitung, 23. August 1928

Anmerkungen

Wolf Heinrich Graf von Helldorf ] 1896–1944, als Freikorpsführer 1920 am sog. Kapp-Putsch beteiligt, 1931 SA-Führer von Berlin, seit 1932 Fraktionsvorsitzender der NSDAP im Preußischen Landtag, 1933 Führer der SS und SA in Berlin-Brandenburg, ab 1935 Polizeipräsident von Berlin; aufgrund seiner Ver­wicklung ins Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 verhaftet und hingerichtet.

BRAUCHEN WIR GERICHTSKRITIKER?

Was man werden soll, nämlich aus dem Gemüt der Jungfrau, die sich einen Romanhelden zusammenträumt, das ändert sich nach der Mode. Früher mußte man Ingenieur werden, dann Kunst­historiker, dann Nationalökonom, dann Kampfflieger, und heut­zutage Psychoanalytiker. Nun lese ich, nicht ohne Wichtigkeit vorgetragen, man soll Gerichtskritiker werden. Meinethalben. Aber dann wollen wir über das Metier und seine Aufgaben doch einmal Betrachtungen anstellen.

Nach dem Gesetz finden Gerichtsverhandlungen in der Regel öffentlich statt. Für diese Vorschrift hatte der Gesetzgeber seinen guten Grund; vielmehr tausend gute Gründe, die jeder, der nachdenkt, leicht zu finden vermag. Indessen, die gesetzmäßige Öffent­lichkeit, bei der das Publikum, oft ein sehr fragwürdiges Publikum, über eine Hintertreppe in den hinteren Teil des Saales gelassen wird, und zwar genau soviel Personen, wie zufällig Plätze vorgesehen sind, ist in der Wirkung nicht mehr als die Erfüllung einer Form. Wer dort hinten sitzt, kann allenfalls sehen; hören meist nur die Gerichtspersonen. Was der Angeklagte sich abringt, der unter starkem seelischem Drucke spricht, und was die Zeugen aussagen, die dicht vor dem Richtertisch mit dem Rücken zum Saale, ungeübt und befangen, sich äußern, das bleibt den Zuhörern häufig unverständlich. Wehe aber, wenn sich einer von ihnen einfallen läßt, Zustimmung oder Mißfallen zu verraten, zu lachen oder zu rufen. Sofort droht der Vorsitzende mit Räumung des Saales und läßt sie bei Wiederholung ohne Zögern vollstrecken.

Wenn also der Gesetzgeber will, daß die Mitwirkenden einer Gerichtsverhandlung sich unter öffentlicher Kontrolle fühlen, so üben die paar rechtlosen und namenlosen Menschen da hinten dieses Amt nur sehr unzulänglich aus. Erst die Presse stellt eine kontrollierende Öffentlichkeit dar. Nicht nur, indem sie zugegen ist, sondern schon, indem sie zugegen sein kann; und nicht nur, indem sie über Sensationsprozesse ausführlich berichtet, sondern auch und gerade, indem sie von jeder unscheinbaren Verhandlung des täglichen Betriebes Nachricht gibt.

Kritik? Freilich wird sie sich nicht scheuen, ihre Meinung zu sagen über die Vorgänge im Gerichtssaal und die Personen des Gerichts. Aber man soll nicht glauben, hier seien Rezensenten am Platze wie im Theater. Denn Gericht ist nicht Theater. Die Eignung des Schauspielers erschöpft sich in seiner Wirkung auf jene, die ihm zusehen. Wie er wirkt, so ist er. Wirkt er nicht, so ist er auch nichts. Dagegen Rang und Wesen des Richters erschließen sich nicht ohne weiteres demjenigen, der ihm bloß zusieht. Wenn man Kritiker der Gerichte fordert, die sich mit Kritik wichtig machen und wichtig genommen werden, so läuft man Gefahr, Richter zu züchten, die für die Kritik agieren. Der Himmel behüte uns davor! „Dieses Urteil ist ungerecht“: die Presse wird sich für berechtigt halten, Urteile über Urteile zu fällen, wenn sie Grund dazu hat. Indessen, was heißt Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit des Richters? Daß er richtet ohne Rücksicht auf mögliche Kritik. Vom Theaterdirektor erwarten wir, daß er am Morgen nach der Premiere ungeduldig forscht, was für eine Presse er gefunden hat. Vom Richter fordern wir, daß er sich nicht darum kümmert, daß er unempfänglich bleibt für Lob und Tadel. Denn wenn er sich heute über Lob freut und über Tadel kränkt, so könnte er morgen unbewußt ein Urteil fällen, nicht wie es seinem Gewissen entspricht, sondern wie er vermutet, daß es seine Rezen­senten von ihm erwarten. So steht es mit der heiklen Forderung nach einer Kritik des Gerichts.

Wir, die wir Tag für Tag nach Moabit wandern und von Saal zu Saal streifen, um den berichtenswerten Fall zu finden, kennen die ehrliche Grundlage unserer Tätigkeit viel besser: sie heißt Reportage. Denn hier werden nicht gedichtete Fabeln aufgeführt, die gut oder schlecht sind und deren Wert davon abhängt, ob sie besser oder schlechter befunden werden. Sondern hier vollzieht sich Schicksal, bitteres, unabänderliches Menschenschicksal, und es ist notwendig, daß die Welt, daß die Unangefochtenen und Ungefährdeten davon wissen. Künden, was geschieht, das ist die handwerkliche Ehre unseres Berufes. Die Wirklichkeit getreulich abschildern, ist nämlich schwer, kritisieren aber – den berufsmäßigen Kritikern und Kritikverehrern ins Stammbuch! – Kritisieren ist leicht; namentlich dieses allgemeine Absprechen und Herunterreißen ist leicht, wie es jetzt gegen unsere Justiz im Schwange ist: „diese Gerichte“, „diese Landgerichtsdirektoren!“ Wir Berichterstatter wissen auch, daß man nicht aus Skandalfällen wie Jakubowski oder Haas beurteilen kann, was unsere Gerichte eigentlich wert sind, sondern aus dem unscheinbaren Tagesbetrieb. Und wir wissen, daß es mehr gute als schlechte Richter, mehr kluge als dumme, mehr gerechte als ungerechte gibt.

Freilich hat Presse im Gerichtssaal Aufgaben, die über das Berichten hinausgehen. Der Richter nämlich hat das Gesetz und wendet es an. Wissen, Erziehung und Ehre verlangen es so von ihm. Aber das Gesetz ist starr, das Leben fließt. Die Gerechtigkeit von gestern ist heute Ungerechtigkeit. Die Sühne von heute ist morgen Barbarei. Das Gesetz zu messen an unserm Rechtsempfinden, das Gesetz vorwärtstreiben zu helfen in der Richtung unseres Rechtsempfindens: dazu sind wir da.

Der Richter sucht das Recht und findet das Urteil nach den Formen des Gesetzes. Damit hat er das getan, was er kann und muß. Aber er kann nur soviel, wie innerhalb der Schranken der Menschlichkeit liegt. Um gerecht zu richten, müßte er allwissend sein. Die Unzulänglichkeit alles Richtens und Strafens, die der Richter leicht vergißt, immer wieder ins Bewußtsein zu rufen, immer wieder denen vor die Augen zu halten, die von der Macht des Richteramtes allzuleicht geblendet werden: auch dazu sind wir da.

Noch tiefer läßt sich hinabsteigen, bis zu den Fundamenten. Der Richter, gestützt auf das Gesetz, verhängt die Strafe mit unbe­schwertem Gewissen. Aber woher stammt sein Recht, zu strafen? Was soll die Strafe? Sühnen? Bessern? Schützen?

Was wird da geschützt? Wer wird geschützt? Vor wem und wovor? Ist das, was geschützt wird, denn wert, geschützt zu werden? Dies zu fragen, immer wieder zu fragen, dröhnend zu fragen, nicht allgemein und theoretisch, sondern im einzelnen Falle des armen Sünders dazu sind wir erst recht da.

Noch nicht genug. Es ist leicht, die Fragwürdigkeit alles Richtens durch Menschen einzusehen, aber schwer zu begreifen, daß wir Menschen dennoch gezwungen sind, Gericht zu halten, zu urteilen und zu strafen. Daß wir dazu gezwungen sind gerade durch unsere menschliche Unzulänglichkeit. Für uns, die wir aufs Gericht gehen, um zu schreiben, kommt es darauf an, beides zu begreifen, die Unzulänglichkeit und die Notwendigkeit.

Mir scheint: Gerichtskritik ist ein sehr grobes Wort für das, was hier gebraucht wird. Kritiker sollen die Hände von diesem Handwerk lassen.

Vossische Zeitung, 11. September 1928

Anmerkungen

Jakubowski oder Haas ] Goldstein spielt auf zwei Justizskandale an, die das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Unabhängigkeit und Sorgfalt der Gerichte während der Weimarer Republik tief erschütterten. – Josef Jakubowski, ein ehemaliger russischer Kriegsgefangener und Landarbeiter, war 1925 in einem Indizienprozeß wegen Mordes an seinem außerehelichen Sohn zum Tode verurteilt worden. Das Urteil, das auf falschen Zeugenaussagen, nachlässigen Ermittlungen, richterlichem Fehlverhalten und offenem Fremdenhaß gründete, wurde 1926 trotz öffentlichen Protests vollstreckt. Jakubowski, dem im Prozeß sogar ein Dolmetscher verweigert worden war, wurde 1929 in einem Wiederaufnahmeverfahren teilweise rehabilitiert. – Als Beispiel für die antirepublikanische und antisemitische Gesinnung weiter Justizkreise in der Weimarer Republik gilt der Prozeß gegen den jüdischen Unternehmer und SPD-Politiker Rudolf Haas, der 1926 unschuldig des Mordes an seinem ehemaligen Buchhalter angeklagt wurde. Das aufgrund richterlicher Einflußnahme, kriminaltechnischer Fehler und antisemitischer Motive korrumpierte Verfahren, das bis in höchste politische Kreise für Unruhe sorgte, wurde erst niedergeschlagen, als unabhängige Ermittler den Hauptbe­lastungszeugen, einen rechtsextremen ehemaligen Reichs­wehrsoldaten, der Tat überführten. – Goldsteins Vorgänger als Gerichtsberichtserstatter bei der Vossischen Zeitung, Paul ‚Sling‘ Schlesinger, berichtete ausführlich über den Haas-Prozeß (vgl. Sling, Richter und Gerichtete. Gerichtsreportagen aus den zwanziger Jahren, München 1977, S. 110ff.).

DER VERRÄTER

Der frühere Oberleutnant Nicolai Konstantinowitsch Reim, der wegen des Fememordes an dem Feldwebel Legner unter Anklage steht, sagt aus, daß er im Jahre 1922 zur Schwarzen Reichswehr gegangen sei, um dem Vaterlande zu dienen. Dem Vaterlande? Aber dieser bleiche und schwächlich aussehende Mensch mit dem gepflegten Vollbart war bei seiner Geburt russischer Staatsangehöriger, besuchte in Riga zwar die deutsche Schule, trat aber, 13jährig, in das russische Kadettenkorps und diente bis zur Revolution in der russischen Marine. Nach der Revolution erst wurde er auf seinen Wunsch in die deutsche Marine übernommen, kam 1918 in die Baltische Landeswehr, von da in die Eiserne Division, von da in das Freikorps Lützow, von da, nach einem kaufmännischen Zwischenspiel, zum Oberschlesischen Selbstschutz und von da, nach einem zweiten Zwischenspiel bei der Hamburger Schutzpolizei, zu jener Geheimformation, in der er dem Vaterlande zu dienen gedachte. Offenbar gehört er zu jenen Europäern, die als ihr Vaterland nicht Rußland oder Deutschland oder sonst ein Land betrachten, sondern in jedem Land die antirepublikanischen Kreise und die antirepublikanische Wirksamkeit.

Nach seiner Darstellung tat er, der in Oberschlesien eine Kompagnie geführt hatte, in Döberitz Unteroffiziersdienste und war als solcher in der Osternacht 1922 zusammen mit dem Feldwebel Legner zum Patrouillegehen abkommandiert worden; sie richtete sich gegen Holzdiebe auf dem Döberitzer Gelände. Erst kurz vor Aufbruch hätte eine Persönlichkeit, die er geheim hält, ihn davon in Kenntnis gesetzt, daß der Feldwebel Büsching sich zu ihnen gesellen würde, und daß es sich darum handelte, den Legner als einen Verräter „umzulegen“. Er selbst hätte nur den Auftrag gehabt, die vorschriftsmäßige Patrouille zu laufen und sich um nichts zu kümmern. Erst nach geschehener Tat sollte er helfen, den Toten in einem zu Übungszwecken ausgehobenen Schützengraben zu beerdigen; wie es dann auch geschehen sei.

Die Eröffnung von dem, was sich während der Patrouille ereig­nen würde, hätte ihn, so sagt er, mit Entsetzen erfüllt. Niemals wäre er selbst imstande gewesen, Hand an einen wehrlosen Menschen zu legen. Während des Krieges hätte er zweimal den Befehl erhalten, eine Erschießung auszuführen, und beide Male auf seine Bitten erreicht, daß die Kommandierung zurückgenommen wurde. Andererseits freilich wäre er überzeugt gewesen, Legner stünde mit der Entente in Verbindung. Warum war er überzeugt? Weil die geheime Persönlichkeit es ihm so gesagt hätte. Und wenn Legner einmal ein Verräter war, so bestand nach Meinung des Angeklagten keine andere Möglichkeit, als ihn zu beseitigen. Warum gab es keine andere Möglichkeit? Nun, die Schwarze Reichswehr mußte um jeden Preis verheimlicht werden, die Hilfe der Gerichte in Anspruch zu nehmen, hätte dem Ziele der Geheimhaltung nicht gedient, und überhaupt, sagt der Angeklagte, ohne Zweifel hätten die vorgesetzten militärischen Stellen alles sorgfältig erwogen, und wenn ihnen kein anderes Mittel als die Tötung des Verräters eingefallen wäre, so hätte er sich nicht für berechtigt gehalten, der Vollstreckung des Urteils entgegenzutreten.

Der Vorsitzende wundert sich über den Widerspruch, daß der Angeklagte eine Tötung für gerechtfertigt hält und zugleich über die Rolle, die er dabei spielen soll, entsetzt ist. Aber gibt es nicht viele brave Bürger, die mit Eifer die Todesstrafe verfechten und dennoch nicht imstande sind, auch nur ein Huhn zu schlachten, geschweige denn einen Menschen zu köpfen. Die Robustheit zur Tat mit eigenen Händen fehlte ihm, und es fehlte ihm erst recht der Mut, sich der Ermordung auf nächtlichem Patrouillengang geradezu und auf jede Gefahr hin zu widersetzen. Es reichte nur zum stummen Gehorsam und zum blinden Vertrauen in die Weisheit der Vorgesetzten – eine Gemütsanlage, die auch außerhalb der Kreise der Fememörder nicht selten vorkommen soll.

Was nun aber die Selbstjustiz an Verrätern betrifft, so sagt hierüber der Angeklagte nichts anderes aus, als was die von der Reichswehr und dem Reichswehrministerium entsandten Zeugen und Sachverständigen bestätigen und was sie selbst oder ihre Kame­raden in früheren Prozessen so oder ähnlich auch schon dargelegt haben. Es gab eine Geheimorganisation, offiziell als Arbeitsoder Erfassungskommandos, die für den Fall der Notwehr als Stammformationen „in Aussicht genommen“ waren. Die Notwehr wird begründet mit einem drohenden Bandeneinfall aus Polen. Die Mannschaften sind gekleidet wie Soldaten, wohnen wie Soldaten, haben die Ausweise der Soldaten und sehen sich selbst für Soldaten an. Geheimhaltung wird ihnen zur strengsten Pflicht gemacht. Wie man sich in Fällen schweren Verrates benehmen solle, darüber wollen die mittleren Kommandostellen sich den Kopf zerbrochen haben, ohne zu einem Ergebnis gelangt zu sein. Die Mannschaften jedenfalls, sogar die Sachverständigen, hätten sich für berechtigt gehalten, in solchen Fällen Selbstjustiz zu üben, und die hohen Offiziere verhehlen nicht ihre Meinung, daß sie den Mannschaften den Glauben an dieses Recht nicht bestreiten.

Und wie steht es also mit dem Verrat des toten Legner, dessentwegen er ermordet worden ist? Eines guten Leumundes erfreut er sich nicht. Zeugen wissen auszusagen, daß er dem Kantinenwirt Kognak, Zigaretten und Schokolade gestohlen habe. Es seien auch junge Soldaten zu Diebereien von ihm angestiftet worden. Bei einer Revision wurden in seinem Schrank Ausrüstungsgegenstände gefunden, und daher schrieb man ihm auch den Diebstahl von sechs Pistolen zu, die aus der Kammer fehlten.

Das ist ein Verräter? So sehen die Leute aus, die Deutschland an die Entente ausliefern? So sehen die Leute aus, mit denen die Entente sich in Verbindung setzt? Heute wirkt die Vorstellung komisch. Damals hat man bei der Schwarzen Reichswehr so gefolgert und auf solche Folgerungen hin Menschen umgebracht. Es war dieselbe Stimmung wie bei Ausbruch des Krieges, als an einem der ersten Mobilmachungstage vor einem Hause am Kaiserplatz in Wilmersdorf sich eine Menschenmasse zusammenrottete, weil auf dem Dache dem Feinde Lichtsignale gegeben wurden. Lichtsignale für den Feind am hellen Tage von einem Hause am Kaiserplatz! Damals lachte kein Mensch, sondern man holte Polizei und Feuerwehr zu Hilfe. Es regierte die Suggestion.

Auch bei den Unterführern und Mannschaften der Schwarzen Reichswehr regierte die Suggestion. Bleibt noch aufzuklären, wer sie erzeugt hat und zu welchem Zwecke sie erzeugt worden ist.

Vossische Zeitung, 25. September 1928

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