Kitabı oku: «Soad und das Militär», sayfa 2

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»Ich habe im Internet von deiner Lesung erfahren«, sagte er und schenkte sich das nächste Glas ein. Er habe dann, so führte er aus, mehrere Tage auf die Gelegenheit gewartet, allein mit mir zu sprechen. Genau gegenüber dem Goethe-Institut habe er im Café Zahrat al-Bustan gesessen und auf das Ende der Veranstaltung gewartet, schließlich sei er uns mit einem Taxi gefolgt, bis wir ausstiegen und ins Restaurant Aperitivo gingen. Dabei habe er an ein dreizehn Jahre zurückliegendes Treffen mit mir im selben Gebäude denken müssen, das jedoch nicht im Aperitivo stattgefunden hatte, sondern in der Bar La Bodega, im selben Stockwerk gegenüber, einer Bar, die seit geraumer Zeit renoviert wurde. Er wusste, dass das Goethe-Institut seine Gäste im Hotel Longchamps unterbrachte, und er wusste auch, dass ich das Hotel nicht vor zehn Uhr morgens, wenn die Frühstückszeit endete, verlassen würde. Seit zwei Tagen war er mir auf Schritt und Tritt gefolgt, ohne dass ich ihn bemerkt hätte. Die beste Gelegenheit hatte sich für ihn an diesem Abend ergeben, im Gewimmel des belebten Marktes, inmitten der fliegenden Händler, im wirren Netz der engen Gassen. Auf meine Frage, warum er nicht zu meiner Lesung gekommen sei, lächelte er über meine »Naivität«, wie er es nannte, und fragte zurück: »Wie hätte ich das tun können, wo allein an diesem Abend drei Geheimagenten anwesend waren: einer von der Nationalen Sicherheit, ein zweiter vom Militärnachrichtendienst und ein dritter von der Geheimpolizei.« Und das habe auch für das Café Zahrat al-Bustan gegolten, für das Restaurant Estoril, ja selbst für die Stella Bar beziehungsweise den »Sumpf«, wie einige Literaten sie nennen, ganz zu schweigen vom Le Grillon, dem Treffpunkt zahlreicher Künstler, Autoren und Intellektueller.

»Du kennst diese Typen nicht«, sagte er, »aber glaube mir, ich kenne sie genau.«

Wir schwiegen eine Weile. Als die Flasche leer war, stand Simon auf und ging wieder zu dem Schränkchen. Anders als ich vermutet hatte, entnahm er ihm aber keine weitere Flasche, sondern ein Päckchen, das sorgfältig in violettes Papier eingeschlagen und mit einem schwarzen Band umwickelt war.

»Nimm das, du weißt, was mit diesen Aufzeichnungen zu tun ist«, sagte er, und streckte mir das Päckchen entgegen. »Wenn du sie gelesen hast, wirst du wissen, warum mein Leben in Gefahr ist. Und wenn du sie nicht liest, möchte ich dich bitten, sie wenigstens aufzubewahren.« Er nahm die leere Flasche und warf sie in einen kleinen Abfallbeutel. Dann sah er mich an und sagte: »Jetzt musst du gehen, sonst wird es zu spät. In Gegenden wie dieser hier ist es nachts gefährlich. Es ist anders als früher. Falls du bemerkst, dass dir jemand folgt, nimm ein Taxi und verschwinde nach Zamalek!«

»Heißt das, wir sehen uns nicht wieder?«, fragte ich verunsichert.

»Das hängt von dir ab«, entgegnete er und sah mich an, als wolle er sich meiner alten Neugier vergewissern. Auf meine vielleicht von Verwunderung oder aber auch von Stolz über das mir entgegengebrachte Vertrauen gezeichnete Frage, warum eine weitere Begegnung nur von mir abhing, wo ich doch in drei Tagen abreisen wollte, sagte er schlicht: »Mach dir keine Sorgen!«, und wiederholte dann noch einmal, dass es »ein Geschenk des Himmels« für ihn sei, mich gefunden zu haben. Seine Augen ruhten noch immer auf mir, und dann, nach einer kurzen Pause, setzte er hinzu: »In drei Tagen werde ich abends um sieben Uhr im Café El Horryia auf dich warten, natürlich in der Hoffnung, dass dein Flug erst spät geht.«

»Sehr spät sogar, um halb drei nachts«, log ich.

»Wunderbar!« – er lächelte mich an und zitierte anschließend einen meiner klassischen Lieblingsdichter, Tarafa ibn al-Abd: »Die Tage werden dir sagen, wovon du nichts wusstest.»

Und damit schloss er unsere Unterhaltung, ganz so, als verstünde es sich von selbst, dass ihm, jetzt, da ich im Besitz des Päckchens war, keine Gefahr mehr drohte. Als ich Simon am Ende des langen dunklen Flurs vor seiner Tür umarmte, hatte ich den merkwürdigen Eindruck, dass er nicht mehr die Züge eines leichtsinnigen Kindes besaß, die ich früher an ihm gekannt hatte. Das Leuchten in seinen grünen Augen war erloschen. Er war gealtert, Falten hatten sich in sein Gesicht gegraben. Seine Art, mich zu umarmen, das Zittern seiner Hände, als er nach der Pistole gegriffen hatte, um sie wieder unter seine Achsel zu schieben, bevor wir uns schließlich verabschiedeten, weckten in mir die Gewissheit, von ihm tatsächlich eine Geschichte zu erfahren, und mir war plötzlich klar, dass ich nichts anderes zu tun hatte, als ihm zuzuhören. Kairo hatte sich verändert, und Simon Syros auch!

1

ZUM ERSTEN MAL hatte ich Simon Syros Ende der Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts während meines zweiten, für sechs Monate geplanten Aufenthalts in Kairo getroffen. Kurz zuvor, drei Wochen nach meiner Ankunft, hatte ich Kismet kennengelernt, was mich schließlich dazu bewog, meinen Aufenthalt um mehr als ein Jahr zu verlängern. Nie zuvor war es mir in den Sinn gekommen, eine Beziehung zu einer arabischen Frau einzugehen, geschweige denn zu einer verheirateten! Kismet und ihr Mann lebten in Helwan, einer Stadt unweit von Kairo. Hin und wieder besuchten die beiden das Restaurant Le Grillon im Zentrum. Als ich Kismet, die ganz natürlich als schöne dreißigjährige Frau im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit ihrer Tischnachbarn stand, dort zum ersten Mal sah, dachte ich noch, sie und ihr Mann hätten zufällig am gleichen Tisch Platz genommen, an dem auch ich gemeinsam mit ein paar ägyptischen Bekannten saß. Dass Kismet unbedingt darauf bestand, neben mir Platz nehmen zu wollen, hielt ich, ein Fremder und der einzige Nichtägypter in der Runde, zunächst für eine Form des Respekts und der Gastfreundschaft. Später jedoch, wir hatten inzwischen zusammengefunden, gestand sie mir, es sei für sie Liebe auf den ersten Blick gewesen, sie habe mich schon beim Betreten des Restaurants erspäht und zu ihrem Mann gesagt: »Wir müssen uns an diesen Tisch setzen!« Und dies, obgleich die beiden mit einem Sänger verabredet waren, der sich mit einer Stunde Verspätung noch zu uns gesellte. Damals war es mir gar nicht in den Sinn gekommen, dass wir uns ineinander verlieben und eine Beziehung eingehen könnten, wie sie dann, mit all ihrer Sinnlichkeit, Zuneigung und Leidenschaft, über mehrere Jahre Bestand haben sollte. Ich sah Kismet nur selten an, und wenn sich mir die Gelegenheit bot, sprach ich mit ihr. Ja, ich beneidete ihren Ehemann Mamduh um diese schöne Frau, und mir fiel auf, dass Kismet die Männer an unserem Tisch faszinierte: Jede Bemerkung, jedes Lächeln, jeder Blick, alles zielte auf sie. Und sie war zu allen freundlich, blieb aber auf charmante Weise distanziert, und damit erinnerte sie mich an jenen Typ Frauen, der selbst bestimmt, von wem sie begehrt werden wollen. Etwas Ähnliches habe ich wohl, wenn auch nur dunkel, an jenem Abend gespürt, als Kismet neben mir Platz genommen hatte. Dass ich wegen einer Recherche über Tabus in der Literatur nach Kairo gekommen war und mich noch etwas länger hier aufhalten wollte, griff sie als Gelegenheit auf, mich wiederzusehen. Sie wollte mir, wie sie sagte, eine interessante Persönlichkeit vorstellen und schlug mir vor, doch Ende der Woche im Restaurant Arabesque zu einem Konzert zu kommen.

Mir war nicht klar, dass Kismet, die an einem Mädchengymnasium unterrichtete, hin und wieder in vornehmen Restaurants als Sängerin auftrat. Die meisten Ägypter mussten sich wegen der niedrigen Gehälter etwas hinzuverdienen, und Kismet hatte eine schöne Stimme. Die Band, mit der sie auftrat, spielte »niveauvolle, moderne« Lieder und bestand aus drei Musikern »aus aller Welt«. Der erste, ein Nigerianer, spielte Riq, der zweite, ein Spanier, Gitarre, und der dritte, ein Amerikaner, ein »netter junger Mann namens Simon Syros«, Klarinette. »Der wird dir gefallen.« Und »der« war auch derjenige, den sie mir vorstellen wollte. »Ein Sprachforscher wie du«, meinte sie. »Jung« war Simon Syros damals allerdings schon nicht mehr. Er hatte wenige Wochen zuvor seinen vierzigsten Geburtstag gefeiert. Doch wenn man ihn traf und mit ihm sprach, versprühte er eine gewisse Jugendlichkeit. Er ähnelte, wie man bei uns sagt, einem jungen Mann, der die Welt auf die leichte Schulter nimmt. Er war, dies erfuhr ich gleich an unserem ersten Abend nach dem Konzert im Arabesque, Linguist und hatte zahlreiche Sprachen studiert, darunter Arabisch. Hier in Kairo wollte er einen Traum verwirklichen, auf den er seit Jahren hingearbeitet hatte: die Herausgabe eines Weltwörterbuches.

Damit war mein Interesse an ihm geweckt, und so fragte ich nach, für welches Fachgebiet dieses Wörterbuch denn sein sollte und was er mit »Welt« meinte. Es gehe, so erläuterte er mir, um die Sprache von Soldaten aus verschiedenen Ländern, um deren Übereinstimmungen und Abweichungen. Genauer erklärte er sich nicht. Er sprach an diesem Abend nur von einem »großen Vorhaben«. Ich drang diesbezüglich auch nicht weiter in ihn, mir reichte das zarte Gefühl der Freundschaft, das uns vom ersten Moment an verband, und zwar nicht allein wegen unseres gemeinsamen Interesses an Sprachen, wie Kismet vermutet hatte.

Nach jenem ersten Konzert saß ich häufig als Gast im Arabesque und hörte der Band zu, und anders als seine beiden Kollegen, die nach ihrem Auftritt meist weiterzogen, um in der Al-Haram-Straße zu spielen oder nach Alexandria zu fahren, wo sie bei Tagesanbruch in einer der dortigen Bars musizierten, leistete Simon Kismet und mir dann gerne noch Gesellschaft. Hin und wieder verließen wir das Restaurant auch gemeinsam, um den Abend woanders fortzusetzen. Manchmal gingen wir in seine Wohnung in Zamalek, jenem eleganten, von reichen Ägyptern, Europäern und Amerikanern bewohnten Viertel, das wegen seines Flairs und der vielen luxuriösen Bars und Restaurants berühmt ist, seltener auch in meine Wohnung in Dokki, einer populären Gegend, bekannt für ihre einfachen, aber schönen Märkte.

Während unserer jahrelangen Freundschaft kam Simon kein einziges abschätziges Wort zu meiner Beziehung mit Kismet über die Lippen. Im Gegenteil, er warnte uns manchmal, wenn er vom Besitzer des Arabesque erfahren hatte, dass ihr Mann dort auftauchen würde. Einmal äußerte er sich mir gegenüber mit der Bemerkung, Mamduh trete in die Fußstapfen des Pelzhändlers aus Lawrence Durells berühmtem Roman Das Alexandria-Quartett. Als ich ihn fragte, worauf er anspiele, sagte er leichthin: »Nun, er macht es wie dieser und läuft vor lauter Eifersucht mit einer Pistole hinter dir her. Aber sei beruhigt, denn es gibt da noch eine Übereinstimmung: Die Pistole ist nicht geladen!«

Kaum war ich aus der Tür des Hotels Layali al-Qahira getreten, ging ich durch die Straßen und Gassen als trüge ich eine Zeitbombe unterm Arm. Ganz zu schweigen von der angstvollen Vorahnung, die mich auf Schritt und Tritt verfolgte, man könne mich aufhalten und festnehmen, von der Angst, in eine Geschichte hineingezogen zu werden, deren Folgen ich nicht absehen konnte, von der Angst, in die Fänge von Häschern zu geraten, deren Ziel ich aus einem anderen Land nur allzu gut kannte, einem Land, das ich längst hinter mir gelassen habe, und diese Angst, sie ließ mich selbst dann nicht los, als ich in Bab al-Louk in ein Taxi stieg. Und während ich den Fahrer bat, doch loszufahren und mich nach Zamalek ins Hotel Longchamps zu bringen, starrte ich ihn an, als vermutete ich in ihm einen jener Hintermänner der Macht, die möglicherweise in dieser Nacht meine Verfolgung aufnehmen würden. Bei meiner Ankunft im Hotel ließ meine Furcht nicht nach. Von meinem Schlaf in jener Nacht wollen wir erst gar nicht reden.

Drei Tage lang blieb das kleine, elegante Päckchen unangetastet auf dem Tisch in meinem Hotelzimmer liegen, wo ich es in der Nacht nach meiner Begegnung mit Simon abgelegt hatte. So neugierig ich auch gewesen sein mochte: Ich zögerte, es zu öffnen. Das zarte violette Papier, das schmale schwarze Band, die Sorgfalt, mit der es verpackt war – keinen Moment zweifelte ich daran, dass dies das Werk der Hände einer Frau war. Doch wer konnte diese Frau sein? Seit ich Simon kannte – kannte ich ihn denn? -, hatte ich kein einziges Mal mitbekommen, dass er eine Freundin gehabt oder von einer Frau gesprochen hätte. Unsere einstigen Gespräche hatten sich um fast alles gedreht: um Bücher, den Unterschied zwischen dem Leben im Westen und im Osten, die Lebensweise in Amerika und Ägypten, um New York und Kairo, Manhattan und Zamalek, die Begeisterung der Europäer für Länder, deren junge Bewohner bei erstbester Gelegenheit in den Westen abhauen, um den Krieg zwischen den USA und dem Irak, diejenigen zwischen Arabern und Israelis und die zahlreichen anderen Kriege auf dieser Welt und all die widerwärtigen Waffenhändler, die diese erst ermöglichen, um die europäische, die nordamerikanische und die aus dem Orient stammende Literatur, vor allem um deren Romane, denn, meinte Simon, über Lyrik zu reden, sei sinnlos, »Lyrik«, sagte er im gleichen Atemzug, »schreibt man, aber man spricht nicht darüber«, womit nicht gesagt war, dass er selbst Gedichte verfasste, nein, »Lyrik« betonte er, »ist ein inneres Bedürfnis, das sich dem Verstehen widersetzt«, aber bei all diesen Gesprächen, in denen wir meist unterschiedlicher Meinung waren, erwähnte er kein einziges Mal eine Frau, eine Freundin, eine Geliebte, eine Ehefrau oder wenigsten eine frühere Beziehung. Nur von seinen beiden Schwestern sprach er hin und wieder. Die eine hatte einen Rabbiner geheiratet und war zum Judentum konvertiert, die andere einen gläubigen Iraner und war Muslima oder Khomeini-Anhängerin geworden. Aber abgesehen von seinen beiden Schwestern und von seiner Mutter hatte Simon mir gegenüber nie eine Frau in seinem Leben erwähnt. Seine Mutter, wie er mir einmal erzählte, hatte nicht aufhören wollen, unter dem für sie befremdlichen Verhalten ihrer Kinder zu leiden, was nach dem Tod ihres Mannes, den ein Herzinfarkt dahingerafft hatte, nur noch schlimmer wurde, weil sie den Schock, von dem ihr Mann erfasst worden war, als er begriffen hatte, wohin es mit der Familie Syros gekommen war, für sein Herzversagen verantwortlich machte.

Tatsächlich hat es genau zwei Frauen gegeben, die ich je in Simons Begleitung getroffen habe. Die eine, Sarah, war eine ziemlich unglückliche Mittdreißigerin aus Australien. Sie war, wie sie mir an einem Abend im Restaurant Estoril erzählte, ursprünglich nach Kairo gekommen, um einen Film über weibliche Genitalverstümmelung zu drehen. Sie hatte sich in einen jungen ägyptischen Journalisten namens Hamdi verliebt, der sie nach sechs Monaten sitzengelassen hatte. Sie wollte ihn unbedingt zurückgewinnen, war überzeugt, dass ihre Geschichte noch nicht vorbei war. Die Monate gingen ins Land, ihre Produktionsfirma kündigte ihr per Brief den Vertrag, »da Sie nun nach einem Jahr mit den Filmaufnahmen noch nicht einmal begonnen haben«, woraufhin sie schockartig begriff, wie viel Zeit inzwischen verstrichen war und dass sie selbst keinen Cent mehr in der Tasche hatte und nicht mehr in ihr Land zurückkonnte. Sie weinte viel. Sie weinte ganze Tage lang. Sie weinte auch, als sie mir an jenem Abend im Estoril ihre Geschichte erzählte. Wie ein Bruder habe Simon ihr immer wieder zur Seite gestanden, sagte sie. An eine Rückkehr nach Australien mochte sie nicht denken, bevor die Geschichte mit Hamdi nicht abgeschlossen war. Dabei wusste sie, dass diese Geschichte bereits seit zwei Jahren abgeschlossen und ihr Kampf vergeblich war. Wir saßen damals zusammen, kurz nachdem Hamdi wütend das Restaurant verlassen hatte. »Nicht einmal seine Rechnung hat er bezahlt«, klagte sie unter tränenerstickten Seufzern, während sie mit hoffnungsleeren Augen Richtung Ausgang blickte.

Die zweite der beiden Frauen war Mrs Rose, eine Britin der alten Garde, Ende siebzig oder vielleicht sogar schon über achtzig. Ihr genaues Alter war schwer zu schätzen, was ebenso gut an ihrer Lebhaftigkeit liegen mochte wie an ihrer aristokratischen Eleganz, die an das Kleiderangebot für ältere Damen im Londoner Kaufhaus Harrods erinnerte. Mrs Rose – denn mit »Miss« wollte sie nicht angesprochen werden – bewohnte eine Suite in einem alten Kairoer Hotel, ich glaube, dem Lotus in der Talaat-Harb-Straße. Zwei- oder dreimal hatte ich sie in Simons Begleitung in der Bar des Windsor gesehen. Ich erinnere mich, dass sie sich jedes Mal mit einem Glas Martini und einer Bloody Mary begnügte und anschließend darauf bestand, die Rechnung für unseren Tisch zu übernehmen. Während unserer Unterhaltung sprach sie nie über die Gegenwart. Ihre Äußerungen drehten sich allein um die Vergangenheit, um das Kairo von einst, um die gute alte Zeit, wo Frauen mit schönen Frisuren und schicken Kleidern auf den Boulevards promenierten und man auch unter den Gästen der Clubs oder bei den legendären Konzerten von Sitt Um Kulthum noch Frauen hatte finden können. Bei keinem Gespräch versäumte sie es, ein paar alte, teilweise schon recht zerknitterte Schwarz-Weiß-Fotos hervorzukramen, um ihre Gesprächspartner von dem Glanz vergangener Zeiten zu überzeugen. Selbst die britischen Pfundnoten, mit denen sie in der Bar bezahlte, waren alte Geldscheine, die in Großbritannien nicht mehr gedruckt wurden. Mrs Rose war Anfang der Fünfzigerjahre, wenige Wochen vor der Julirevolution, mit ihrem Ehemann, my darling, auf Hochzeitsreise nach Ägypten gekommen. James war damals Mitte zwanzig gewesen und hatte als Bauingenieur gearbeitet, während sie, gerade achtzehn geworden, in der Firma ihres Vaters beschäftigt war, die sich auf den Export von Whisky spezialisiert hatte. Am zweiten Tag ihres Besuchs waren die beiden zu den Pyramiden gefahren. Die Straße dorthin war damals nur von Pflanzungen gesäumt. Bei ihrer Ankunft in Gizeh waren außer ihnen keine Touristen zugegen. Mrs Rose’ geliebter James jedoch, ein Spaßvogel, der sie gern ein wenig foppte, lief, kaum waren sie am Eingang zu den Pyramiden angekommen, von ihr fort, erklomm die kleine Anhöhe zur Sphinx und verschwand hinter dem Steinbild. Mrs Rose hörte ihn noch rufen, doch je näher sie der Anhöhe kam, desto ferner klang seine Stimme, bis sie schließlich ganz verstummte. Unglücklicherweise folgte ein heftiger Sandsturm. Doch was hatte das mit James’ Verschwinden zu tun? Mrs Rose wusste es nicht. »Suddenly my darling disappeared«, sagte sie nur. Ganz allein musste sie mit dem Buick, Baujahr 1950, den sie gemietet hatten, zurück ins Hotel fahren. Zunächst hatte sie noch gedacht, ihr geliebter James wolle sie nur wieder einmal necken und werde später wieder im Hotel auftauchen. Was er aber weder an jenem Tag noch an einem der folgenden, weder in jener Woche noch in einer der folgenden, weder in jenem Monat noch in einem der folgenden, weder in jenem Jahr noch in einem der folgenden tat. Seitdem saß sie in Kairo und harrte seiner Rückkehr. Trotz verschiedener Anträge hatte sie nie wieder geheiratet. Das Andenken an die Flitterwochen mit James durfte unter keinen Umständen getrübt werden. In der Hotelsuite, die sie vor einem halben Jahrhundert gemietet hatten, wartete sie auf seine Rückkehr. »James will come back, you know«, sagte sie, nachdem sie ihre Geschichte mit trauriger, doch verträumter Stimme zu Ende erzählt hatte.

»Ja«, sagte ich tröstend, »eines Tages wird er wiederkommen.«

Mit Ausnahme dieser beiden Frauen, die eine jung, die andere betagt, die junge unglücklich, die betagte zwar mit einem Fuß im Grab und mit dem anderen in ihrer eigenen Vergangenheit, aber doch voller Leben und stets mit einem Lächeln auf den Lippen, welches daher rühren mochte, dass sie mit der Erinnerung an eine erfüllte Liebe lebte – mit Ausnahme dieser beiden hatte ich Simon nie in Begleitung einer Frau gesehen. Selbst bei Kismets und meinen Besuchen bei ihm zu Hause war uns nichts aufgefallen, was auch nur auf die sporadischen Besuche einer Frau hingedeutet hätte. Für Kismet war dies gleich augenfällig, auch wenn sie es mir erst kurz vor unserer Trennung offenbarte, als sie mich doch tatsächlich fragte, welche Art Freundschaft mich mit Simon verband. Eine, ehrlich gesagt, böse Frage, doch ich fand darauf nur eine spöttische Antwort, schließlich betrachtete ich die Abwesenheit von Frauen in Simons Leben als seine Privatangelegenheit, die mich nichts anging.

Ich weiß nicht mehr, wie oft ich vor dem Tisch saß oder ihn umkreiste, das Päckchen ansah und überlegte, was für eine Überraschung es wohl bergen mochte. Ich wusste, dass es Aufzeichnungen enthielt, aber ich wusste nicht, in welcher Beziehung Simon zu diesen Papieren stand, die, da war ich mir sicher, nicht von ihm stammten. Er hatte versucht, mich in seine Angelegenheiten hineinzuziehen. Auch wenn er wusste, dass dies gefährlich war. Oder gerade deswegen. In dem Versuch, die Angst, die mich gepackt hatte, zu zerstreuen, blieb ich vor dem Tisch stehen und fixierte das Päckchen nicht nur, sondern betastete es von Zeit zu Zeit, drückte mit den Fingern darauf, als könnte eine Berührung mir etwas über dessen Inhalt verraten. Solange das Päckchen verschlossen auf dem Tisch lag, konnte ich, falls mich jemand fragen sollte, schlicht und einfach antworten: »Es liegt da an seinem Platz, nehmen Sie es doch einfach mit!« Aber was, wenn ich es einmal geöffnet hatte? Bedeutete dies nicht, dass ich zum Zeugen einer Geschichte geworden wäre, bevor ich sie überhaupt kannte?

Tag für Tag treffen wir auf zahlreiche Menschen, sei es im Haus, in dem wir wohnen, auf dem Weg zur Arbeit, beim Einkaufen oder Spazierengehen, im Büro, beim Arzt oder auch in der Schlange vor einem Kino oder Theater, und sicher hat jeder Einzelne von ihnen seine eigene, besondere Geschichte zu erzählen. Man bräuchte den Menschen nur ein Ohr zu leihen, um Erzählungen zu vernehmen, auf die man nie gekommen wäre. Ungeachtet dessen, wie stark, wie wichtig oder berührend diese Geschichten sein mögen, beginnen die Leute sie mitzuteilen, sobald man ihnen zuhört. Allerdings verblassen sie dann meist auch wieder genauso schnell, wie sie vernommen wurden, nur selten bleibt von ihnen etwas in der Erinnerung lebendig. Das Ohr, das sie gehört hat, empfängt eine weitere, andere, neue Geschichte, die die Spuren der alten löscht. Anders aber verhält es sich mit jenen raren Erzählungen, die uns aufgebürdet werden, wenn jemand, den wir kennen, auf uns zukommt und uns bittet, seine Geschichte nicht nur anzuhören, sondern an ihr teilzuhaben.

Wie sehr ich doch an jenen drei Tagen versuchte, das Päckchen, zumindest zeitweise, zu ignorieren! Ich ließ es auf dem Tisch liegen, damit es mir so vertraut würde wie die übrige Einrichtung des Zimmers. Ich legte es nicht an einen geheimen Ort, wo meine Hände unvermutet darauf hätten stoßen können und ich mich folglich mit ihm hätte beschäftigen müssen. Wer verborgen sein will, darf sich nicht verbergen, das weiß man gut. Dann aber war da noch eine andere Erkenntnis: Dieses Päckchen bewirkte anscheinend, dass ich unruhig schlief, früher als sonst aufstand, zeitiger frühstückte und – ganz gegen meine Gewohnheit bei anderen Reisen und Hotelaufenthalten – nicht erst eine halbe Stunde vor Ende der Frühstückszeit aus dem Bett kam. Um das Päckchen also zeitweise zu vergessen, vermied ich es, im Zimmer zu bleiben. Ansonsten starrte ich das Päckchen ständig an, und ich fragte mich, ob ich dies eher mit dem Blick eines Arztes tat, der seinen Patienten in Augenschein nimmt, oder mit dem eines Spezialisten für die Räumung von Kampfmitteln. Zugleich war ich mir der Verantwortung bewusst, die Simon mir aufgebürdet hatte.

Ich war also viel in Kairo unterwegs und besuchte Viertel und Cafés, in denen ich nie zuvor gewesen war. So frei umherzustreifen erlaubte mir, Kairo im Abglanz seines revolutionären Frühlings zu sehen. In den Straßen hingen Transparente mit Lobpreisungen des Militärs und immer wieder auch große Porträts von dessen Führer mit Sonnenbrille, auf denen er dazu ermuntert wurde, sich doch bei den nächsten Wahlen um die Präsidentschaft zu bewerben. Im Stadtzentrum, vor allem in der Gegend um den Maidan Tahrir, um das Ägyptische Museum und die Garden City, wo sich neben der amerikanischen Botschaft auch die Amerikanische Universität befindet, drängten sich Militärkolonnen und Polizeikräfte der Inneren Sicherheit.

Simon wusste um meine Neugier. Bis jetzt hatte ich niemanden enttäuscht, der mir seine Geschichte anvertrauen wollte. Warum sollte ich da ihn im Stich lassen? Uns verband eine Freundschaft, die ich als sehr besonders empfand, und dies verlieh mir die Gewissheit, dass er mit seinen Bemühungen, mich auf die Seite jener Frau zu ziehen, die ihm dieses Päckchen überlassen hatte, Erfolg haben werde.

Nun gut, nachdem ich das Päckchen drei Tage lang auf dem Tisch im Zimmer meines Hotels hatte liegenlassen, war es zum Mittelpunkt meines Lebens geworden. Ich verpasste meinen Abreisetermin und öffnete es.

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