Kitabı oku: «Soad und das Militär», sayfa 4

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Als ich schließlich wieder mein Hotel betrat, saß an der Rezeption noch immer derselbe Mann wie am Morgen. »Sie bereiten uns eine große Freude, mein Herr! Offenbar möchte der Herr noch länger bei uns in Ägypten verweilen«, sagte er mit einem Lächeln auf den Lippen und fragte höflich nach: »Ist es nicht so?«

Ich nickte erneut und stieg die Treppenstufen zu meinem Zimmer hinauf, ohne ihm zu sagen, für wie viele Tage.

Im Zimmer stellte ich die Tasche auf den Tisch, ging ins Bad, wusch mir das Gesicht und sah mich im Spiegel an. Dann verließ ich das Bad wieder und blickte auf die Uhr. Bis zum geplanten Treffen mit Simon blieben noch zwei Stunden. Ich überlegte mir, meinen Aufenthalt hier ganz einfach als Urlaub zu betrachten, ganz gleich, ob ich Simon nun treffen würde oder nicht. Und noch im selben Augenblick öffnete ich den Koffer, nahm die Kleider wieder heraus und räumte sie zurück in den Schrank. Dann setzte ich mich an den Tisch. Ich griff nach der Tasche, entnahm ihr das Bündel und legte es wieder auf die Tischplatte. Diesmal war ich mir sicher: Noch heute Nacht würde ich mit der Lektüre des zweiten Hefts beginnen und womöglich mehr als nur dieses lesen.

Ich war nun bereits involviert, mochten also die Ereignisse ihren Lauf nehmen!

4
ZWEITES HEFT
Anfang

IHREN ERSTEN AUFTRITT hatte Soad bereits lange vor der Revolution, zu einer Zeit, als auf dem ägyptischen Thron noch ein junger König saß. Sie war damals gerade fünf Jahre alt und auf Fürsprache ihres Schwagers, der als Musikinspizient im Bildungsministerium arbeitete, in den dortigen Kinderchor aufgenommen worden. Der Chor trat hin und wieder einmal im Rundfunk auf, war aber ansonsten nicht weiter bemerkenswert. Eines sonnigen Frühlingstages allerdings erklärte der Chorleiter, Onkel Bascharu, den Kindern, sie würden zum Schamm-al-Nasim-Fest ein paar Lieder beitragen, und zwar nicht wie in den vergangenen Jahren im El-Horryia-Park auf der Nilinsel, sondern in den königlichen Gärten. »In Anwesenheit des Königs samt seiner Familie und all seiner Gäste«, betonte er und verlangte, dass jeder von ihnen, Junge wie Mädchen, als Geschenk für den König ein Lied einstudieren sollte.

Als Soad am nächsten Tag vors Mikrofon trat und ihr Lied anstimmte, ein Lied, dessen Zeilen – Soad bin ich, Schwester des Mondes / für meine Schönheit allseits bekannt / nur einen Zoll groß, von Angesicht klar wie der Vollmond / mein Gesang betört einen jeden … – sie ihr Leben lang nicht vergessen sollte, da konnte niemand unter den Anwesenden sein Erstaunen verhehlen, und zwar nicht allein über die angenehme und kräftige Stimme des Mädchens, das tatsächlich nur einen Zoll groß war, aber dafür außerordentlich hübsch, sondern auch aus Respekt vor dem Selbstvertrauen dieser Kleinen, die noch nicht einmal zur Schule ging. Der Erste unter allen Bewunderern allerdings war der König selbst. Weswegen sich auch der Chorleiter Onkel Bascharu, der sich ziemlich lange nervös gezeigt hatte, wieder hatte beruhigen können. Hatte er doch tatsächlich befürchtet, der König, der unter seinem Gefolge und seinen Gästen Platz genommen hatte und aus ihrer Mitte heraus auf die im Park errichtete große Bühne blickte, auf der sich die Sänger und Sängerinnen nacheinander die Ehre gaben, könnte sich durch Soads Lied provoziert fühlen. Zumal alle anderen Chorkinder Loblieder auf den König vorgetragen hatten, den auch die erwachsenen Sänger und Sängerinnen hochleben ließen. Allein Soad besang nicht den Monarchen, und auch nicht ihr Heimatland Ägypten, nein, sie besang sich selbst. Und so blieb Onkel Bascharu, der zugleich ein wichtiger Inspektor im Erziehungsund Bildungsministerium war, nichts anderes übrig, als auf das Ende ihres Auftritts zu warten, um ihr dann, ob der peinlichen Lage, in die sie ihn versetzt hatte, einen Verweis zu erteilen. Er hatte sogar schon vorwurfsvolle Blicke mit dem Bildungsminister gewechselt, der nahe dem König seinen Platz eingenommen hatte. Als er dann auch noch mitansehen musste, wie der König sich an seinen Minister wandte und ihm etwas ins Ohr flüsterte, meinte Onkel Bascharu, das Problem sei nun offenkundig, und dachte schon darüber nach, das Mädchen von der Bühne zu zerren. Als er aber den König, kaum hatte die Kleine ihr Liedchen beendet, lächeln, ja, applaudieren und sie sogar auffordern sah, ihren Vortrag noch einmal zu wiederholen, atmete er auf und spürte erleichtert, dass seine Nerven ihm wieder gehorchten.

Um des Tages Herrlichkeit vollkommen zu machen, lud der König den Kinderchor samt seiner Aufseher ein, zu bleiben und am Gastmahl teilzunehmen, das im Anschluss vom Palast veranstaltet wurde. Man hatte im Park des Schlosses eine lange Tafel errichtet, auf der mit verschiedensten Speisen gefüllte Schüsseln standen, Reis und Fleisch waren angerichtet worden, aber auch Äpfel, Orangen, Bananen, Ananas, Trauben und Erdbeeren, zudem wurden mehrere verschiedene Kuchen aufgetischt, die meist mit Schokolade überzogen oder mit Nüssen und Pistazien gespickt waren, es wurden allerlei Getränke gereicht, vor allem der von Soad so sehr geliebte Guavensaft. Die Gäste hatten mit dem Essen zu warten, bis der Zeremonienmeister des königlichen Palastes ihnen ein Zeichen gab, und dieser wiederum wartete ab, bis am Kopfende der langen Haupttafel, die sich durch die Parkmitte zog, der König selbst Platz genommen hatte. Soad hatte eigentlich gar keinen Appetit, und hätte ihr Vater, der sie an diesem Tag begleitet hatte, sie nicht an die Hand genommen und gesagt: »Setzen wir uns hier ans Tischende!« – also genau dem König gegenüber, in die Nähe des Parkeingangs –, sie hätte niemals damit gerechnet, dass sie tatsächlich bleiben würde. Sie wollte auch nichts von der mit Schüsseln überladenen Tafel nehmen, außer einem Glas Guavensaft. Und sie hatte keine Ahnung, warum der König sich von einem Diener zeigen ließ, wo sie saß. Sie beobachtete, wie er anschließend den Zeremonienmeister herbeiwinkte, ihm etwas ins Ohr flüsterte und dabei in ihre Richtung wies. Kurze Zeit später erschien dieser vor ihr und ihrem Vater und erklärte feierlich: »Der König wünscht, dass Sie neben ihm Platz nehmen.« Für Soad war dies alles sehr aufregend, für ihren Vater jedoch war es ein riesiger Triumph. Für ihn, den bis dahin einfachen Bürger, war es eine außerordentliche Ehre, vom König zum Tischnachbarn erkoren worden zu sein.

Als die beiden nun dem Monarchen gegenüberstanden, grüßte der Vater diesen mit einer respektvollen Verbeugung. Doch wie sehr überraschte es ihn, als der König ihm und seiner Tochter jeweils einen Teller mit besonderen Speisen zusammenstellen und servieren ließ: Seefisch und Hummer, das Lieblingsgericht des Königs, wie Soad später erfahren sollte, dazu Platten mit verschiedenen Früchten und diversen, ihr völlig unbekannten Süßigkeiten. Der Vater dankte dem König und berichtete ihm auf dessen Aufforderung hin, doch ein wenig von sich zu erzählen, von seinem Leben und seiner Arbeit. Und so erzählte Soads Vater, was für ein großer Damaszener Kalligraf er sei, bekannt für seinen stark reformerischen Stil, der sich durch ganz besondere Buchstabenligaturen auszeichnete. In Damaskus hatte er auch seinen ersten Unterricht erhalten. Von Jugend an liebte er die Kalligrafie und hatte zunächst Schriften von Künstlern imitiert, die zu jener Zeit berühmt waren. Dann war er beim großen Kalligrafen Yusuf Rasa in die Lehre gegangen, der vom osmanischen Sultan Abdülhamit nach Damaskus entsandt worden war, um bei der Restaurierung der dortigen Umayyadenmoschee die Kalligrafien anzufertigen. Der König stellte ein paar Fragen, und so fühlte Soads Vater sich ermutigt, weiter auszuholen: Er stammte ursprünglich aus Syrien, war aber vor sechsunddreißig Jahren, zwei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, nach Ägypten ausgewandert und sein Leben lang Kalligraf gewesen. Sein jugendliches Alter hatte es ihm damals ermöglicht, zwischen verschiedenen Steindruckereien zu pendeln, um dort die jeweils benötigten Kalligrafien zu malen. Er arbeitete immer sehr schnell. »Und als Gott sich mir gewogen zeigte«, erklärte er dem König, habe er sich ein Haus im Khan al-Khalili gekauft, wo er dann auch seiner Tätigkeit nachgegangen sei, bis er nach ungefähr zehn Jahren ein eigenes Büro samt Werkstatt für Stiche und Heliogravüren eröffnet habe. Auf diese Weise ließ er sich vor dem König aus in der Annahme, dieser höre ihm auch zu. Der König aber wandte sich an Soad, strich ihr übers Haar und erklärte ihr, sie werde später einmal ein großer Star sein. Man werde ihre Lieder überall singen, alle Herzen würden ihr zufliegen und die Menschen sich vor ihr verneigen. Vielleicht verstand Soad die Worte des Königs nicht, vielleicht kam ihr das Ganze auch eher wie ein Zirkus vor. Ihr Vater jedoch errötete, als hätte er in seiner Tochter plötzlich eine Rivalin erkannt. Der König bewunderte sie. Dabei hatte sie nichts weiter getan, als zu singen, was ihr Freude bereitete. Nachdem Onkel Bascharu den Kindern tags zuvor erklärt hatte, sie sollten am Schamm-al-Nasim-Fest im königlichen Garten teilnehmen, hatte sie über ein angemessenes Lied nachgedacht. Die Nacht über hatte sie kaum ein Auge zugetan. Mehrmals war sie kurz eingeschlafen, gleich darauf aber wieder aufgewacht, bis schließlich ihre Mutter sie besorgt zum Schlafen drängte. »Du sollst morgen singen, da darfst du nicht so lange wachbleiben!« Bevor sie schließlich der Mutter gehorchte und sich wieder schlafen legte, fragte sie, ob sie vor Publikum sagen dürfe, dass sie hübsch sei, schöner als der Vollmond. Als ihr die Mutter mit einem Lächeln zur Antwort gab, damit habe sie doch ganz recht, sie sei tatsächlich schöner als der Mond, wusste Soad, was sie auf dem Fest singen würde.

Bis zum Ende ihres Auftritts an jenem sonnigen Frühlingstag hatte sie allerdings nicht damit gerechnet, den König so zu beeindrucken. In ihrem zarten Alter hatte sie zwar noch kein wirklich klares Bild davon, was es bedeutete, König zu sein, doch in einer Sache war sie sicher: Der junge, erst acht- undzwanzigjährige Monarch hatte auf sie bekümmert gewirkt. Nach der Feier, während einer Unterhaltung zwischen ihrem Vater und dem Chorleiter Onkel Bascharu, erfuhr sie, dass dieser Kummer wohl dem Tod einer damals sehr bekannten Gesangsdiva geschuldet sein musste, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Zwar lag dieser Unfall zum Zeitpunkt der Schamm-al-Nasim-Festivitäten in den königlichen Gärten schon drei Jahre zurück, doch die Leute redeten noch immer über die Sängerin und darüber, was ihr Tod für das Leben des Königs bedeutete. Gerüchte wollten, dass im königlichen Palast Differenzen herrschten. Die Königin sei nicht glücklich, und der König habe, kaum dass er vom Tod der Sängerin erfahren hatte, kein Auge mehr zugetan. Von ihrer Mutter und deren Schwestern, die genau jene damals gängigen Ansichten vertraten, hörte Soad später auch von einer Liebschaft zwischen dem jungen König und der Sängerin.

Diese Dinge blieben ihr im Gedächtnis, genau wie Onkel Bascharus Frage an ihren Vater: »Haben Sie gesehen, welche Unmenge Essen der König auf seinen Teller geladen hatte? Allein an jenem Abend«, fuhr er fort, »hat der König ein Dutzend Austern, einige Langusten, zwei Scheiben Kalbfleisch mit Bratkartoffeln und jede Menge mit Marmelade und Früchten gefüllter Kuchen gegessen. Und das soll sein übliches Leibgericht sein! Eine Form von Selbstmord, möchte man meinen!« – »Vorsicht, bitte, sagen Sie das nicht laut«, hatte ihm Soads Vater daraufhin erwidert. Nach jenem Tag in den königlichen Gärten jedoch hatte sie nur ein Bild vom König vor Augen: Wie freundlich er mit ihr gesprochen, wie liebenswürdig er sich von ihr verabschiedet und dass er ihr viel Erfolg für ihr künftiges Leben gewünscht hatte. Anschließend hatte er noch ihren Vater, als habe er geahnt, was in dessen Kopf vorging, zu sich herangezogen und ihm coram publico eine kleine Rede gehalten, mit der er klarstellte, dass ihm sehr wohl bewusst sei, wie ungern es in vielen ägyptischen Familien gesehen werde, wenn eine Frau ein Studium aufnehme und dass man ihr dies sogar häufig verweigere, weil man Angst um sie habe, wenn sie Umgang mit Fremden pflege. Und dann hatte er noch gemahnt: Falls Soads Vater dies bei ihren älteren Schwestern auch so handhaben sollte, müsse er bei diesem kleinen Mädchen aber unbedingt eine Ausnahme machen. »Sie muss lernen!« Und zwar nicht nur den üblichen schulischen Lernstoff, nein, sie müsse vor allem Musik studieren. Und falls es ihm, dem Vater an Geld mangele – er, der König, sei bereit, für die Ausbildung dieses Mädchens aufzukommen! Seiner Meinung nach konnte »Ägypten auf ein so selbstbewusstes Mädchen stolz sein«. Ein Mädchen, das so aufrecht dastehe, in vollem Bewusstsein seiner Schönheit und Anziehungskraft, und sich beim Singen weder von der Anwesenheit des Königs noch von der seines großen Gefolges aus dem Konzept bringen lasse, habe dies verdient. Und um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, wies der König seinen Sekretär an, Vater und Tochter zum königlichen Diwan zu begleiten und ihnen eine Geldsumme in Höhe von 1000 Pfund auszuhändigen.

1000 Pfund waren zu jener Zeit sehr viel Geld. Kein Wunder, dass sie, obgleich doch für Soads Studium bestimmt, den tagtäglichen Auseinandersetzungen zwischen ihren Eltern zusätzliche Streitigkeiten hinzufügten. Für Soad selbst war der Wert dieser Summe damals schwer zu begreifen, sie erblickte in ihr eher einen Ausdruck der Bewunderung für ihren Gesang. Und dieses Selbstvertrauen wäre ihr ein Leben lang erhalten geblieben, hätte sie nicht zwei heftige Rückschläge verkraften müssen.

Der erste war der Tatsache geschuldet, dass ihr Vater das Geld für sich behielt und die königliche Anweisung nicht in die Tat umsetzte, obwohl die Mutter ihm mehrmals angedroht hatte, zum königlichen Diwan zu gehen und sich dort über ihn zu beschweren, da er sich dem Gebot des Königs widersetzte. Den zweiten Rückschlag bildete die Scheidung ihrer Eltern. Soads Trauer über den Auszug ihres Vaters hielt jedoch nicht wirklich lange an. Dies hatte weniger damit zu tun, dass sie und ihre Schwestern zwei Jahre später, kaum dass die Eltern ihren Streit beigelegt und sich beide neu verheiratet hatten, mit ihrem Vater wieder ausgehen durften, nein, es war der glücklichen Fügung geschuldet, dass gerade diese Trennung ihr, Soad, dank des zweiten Ehemanns ihrer Mutter, Professor Abd al-Mazhar Hafiz, einem Schulrat im Erziehungs- und Bildungsministerium, der von nun an ihre Ausbildung übernahm, die Möglichkeit zum Lernen bot. Er beschaffte ihr den Lernstoff für die Primarschule. Zugleich begann ihre ältere Schwester Samira, die später eine berühmte Künstlerin werden sollte, sie mit den Grundlagen der Malerei vertraut zu machen, während deren Ehemann, der sie bereits zuvor in den Kinderchor aufgenommen hatte, für die Fundamente einer Musik- und Gesangsausbildung sorgte.

Alles deutete damals darauf hin, dass ihr das Glück zur Seite stand. Von nun an lachte das Leben sie an!

5

WER VERSTEHEN WILL, warum so viele Ausländer nach Kairo kommen, wer sich einen ersten Eindruck von ihnen verschaffen möchte, von ihrem Leben und ihrem Tun fern ihrer Heimat und ihrer Angehörigen, braucht nur das Café El Horryia am Maidan Falaki in Bab al-Louk aufzusuchen. Dieses Café, wo tagsüber Tee und Kaffee serviert werden, verwandelt sich abends in eine Bar, die hauptsächlich Bier ausschenkt, meist die in Ägypten hergestellte Marke Stella. Und weil ein halber Liter davon nur elf ägyptische Pfund kostet, also gerade mal fünfzig Cent, wimmelt es dort bis in die späten Nachtstunden von jungen Leuten. Sie stammen von überall her, kommen aus allen erdenklichen Ländern der Welt. Und jeder von ihnen hat seine eigenen Gründe, die ihn nach Kairo geführt haben. Was für den einen gilt, trifft nicht automatisch auf die anderen zu. Die jungen Spanier beispielsweise sind zumeist Bauingenieure, haben ihr Studium an einer Universität ihrer Heimat absolviert, anschließend aber keine Arbeit gefunden. Auf dem Höhepunkt des Immobilienbooms in den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts konnten sich die meisten Familien dort für ihre Kinder nichts Besseres vorstellen als ein Studium des Bauingenieurwesens. Und eines Tages wachten diese Kinder auf und mussten feststellen, dass der Boom in dem Berufsfeld, das sie sich ausgesucht hatten, in Wirklichkeit eine Blase war. Einige von ihnen brachen daraufhin ins europäische Ausland auf, während es andere, und zwar nicht wenige, in den Orient zog, zum Beispiel nach Kairo. Dort trifft man sie allabendlich in großer Zahl, gemeinsam mit ihren italienischen und portugiesischen Schicksalsgenossen, Bier trinkend in besagtem Café. Hinzu kommt eine Gruppe vornehmlich junger Frauen, die hergekommen sind, um ein orientalisches Musikinstrument wie Ud, Kanun oder Santur zu erlernen. Wer die jungen Leute dort so laut und begeistert reden hört, wer ihr Lachen vernimmt, das mit dem Zigarettenrauch in die Luft steigt, wird voller Neid sagen: »Was sind das für glückliche Menschen!« Als hätten sie diesen Ort nur erwählt, um sich frei zu fühlen. Es gibt wohl keine größere Freiheit als die, fern seiner Heimat und Familie zu leben, wo selbst die Sprache, die man spricht, von niemandem ringsum verstanden wird. Der Besitzer des Cafés hatte genau darauf gesetzt und diesen Eindruck vermitteln wollen. Er hatte Bretter vor die Fensterscheiben genagelt, um das, was nachts dort im Inneren vor sich geht, vor den Augen der Passanten zu verbergen, beziehungsweise, um seinen Gästen das Gefühl zu vermitteln, sie befänden sich auf einer entlegenen, weltentrückten Insel oder in einer nur für sie bestimmten Oase der Freiheit. Wer sie reden hört, kann feststellen, dass sich ihre Gespräche um alles Mögliche drehen, nur nicht um die Situation in Kairo und Ägypten.

Ihr Leben vollzieht sich ausschließlich in Bab al-Louk oder an den nahegelegenen Maidans, Talaat Harb und Tahrir, während sie von den Projekten träumen, die sie hier verwirklichen wollen.

Und hatte es sich bei Simon nicht ebenso verhalten?

Ich kannte dieses Café von früheren Reisen, meine Besuche dort ließen sich aber an den Fingern einer Hand abzählen. Und sie hatten immer nur tagsüber stattgefunden, wenn ich im nahegelegenen Restaurant Nile auf der anderen Seite des Platzes Fisch gegessen hatte. Hätte Simon mir nicht vorgeschlagen, uns in diesem Café zu treffen, wäre ich gar nicht erst auf den Gedanken gekommen, dass irgendetwas daran für mich interessant oder bedeutsam hätte sein können. Zwar war es nur einer von mehreren Orten, an denen wir uns unterhalten sollten (immer auf Simons Vorschlag hin), doch das Café war unser erster Treffpunkt, und er hatte es, wie er mir versicherte, nicht zufällig gewählt. Vielmehr handelte es sich um jenes Café, das er vor Jahren bei seiner Ankunft in Kairo als erstes aufgesucht hatte. Allerdings war es damals wohl noch nicht so voll gewesen wie in jüngster Zeit, weshalb ich auch regelrecht Mühe hatte, ihn zu finden. Was nicht etwa daran lag, dass er diesmal einen schwarzen Anzug, Hut und eine dunkle Brille trug – tatsächlich war sein Aufzug dazu angetan, alle Blicke auf sich zu ziehen, obgleich er wohl gedacht haben musste, sich auf diese Weise unkenntlich zu machen –, nein, ich konnte ihn deshalb so schwer ausmachen, weil er in einer abgelegenen Ecke ganz hinten im Café saß. Er war schon vor mir eingetroffen und hatte bereits im Voraus ein paar Flaschen Bier geordert, die er auf dem Tisch bereitgestellt hatte, um nicht später auf den Kellner warten zu müssen, der angesichts der Vielzahl an Gästen, die etwas von ihm wollten, seine Schwierigkeiten hatte, alle Wünsche zügig zu erfüllen. Außerdem wollte Simon verhindern, dass wir von jemandem unterbrochen wurden. Dass das Bier nicht kühl bliebe, sei nicht weiter schlimm, meinte er und griff nach einer Flasche, warmes Bier sei schließlich gesund.

»Auf deine Entscheidung«, sagte er, während wir anstießen, »Du hast mich also nicht enttäuscht, sondern bist geblieben. Genauso kenne ich dich! Danke dir!«

»Der Dank gebührt dir«, erwiderte ich freundlich, »ich bin sehr neugierig, was auf mich zukommt. Auf jeden Fall bleiben wir optimistisch«.

Nachdem wir einen Schluck getrunken hatten, erklärte ich – vielleicht, um ins Gespräch zu kommen, einer von uns musste ja schließlich den Anfang machen –, dass ich nie auf die Idee gekommen wäre, ihn an irgendeinem öffentlichen Ort zu treffen, da dies für ihn ja gefährlich sein könnte. Er lächelte, bedankte sich, dass ich mir solche Sorgen machte, und gab mir zu verstehen, es sei ihm vor allem um die Schriftstücke gegangen. »Und da die jetzt bei dir in Sicherheit sind, ist mir alles andere egal.« Für ihn bleibe nun nichts weiter zu tun, als ein wenig Vorsicht walten zu lassen. »Den Rest überlassen wir dem Zufall.«

Dann forderte er mich auf, ihm gut zuzuhören, da er nun noch einige über die Hefte hinausgehende Dinge ansprechen wolle. Vor allem aber, bat er eindringlich, dürfe niemand hier den Namen der Verfasserin mitbekommen. »Du weißt, wen ich meine«, setzte er nach einer kleinen Pause hinzu.

»Ich habe bis jetzt nur die ersten beiden Hefte gelesen«, erklärte ich und sagte mit einem Lächeln: »Siehst du, einmal habe ich meinen Aufenthalt wegen Kismet um ein Jahr verlängert, und jetzt weiß ich nicht einmal, wie lange ich bleibe. Und beide Male wegen einer Frau. Cheers!« Ich hob meine Bierflasche.

»Ich verstehe«, sagte er, »du hast also bis jetzt erst zwei der Hefte gelesen. Doch was ich dir nun erzählen werde, wird dich bestimmt dazu bringen weiterzulesen.«

Der Beginn seiner Geschichte, erklärte er, liege in ferner Vergangenheit, genauer, in der Zeit seines Studiums an der University of Michigan.

»Erinnerst du dich noch an unser erstes Treffen?«, fragte er und vergewisserte sich nach allen Seiten blickend, dass uns niemand im Café beobachtete. »Weißt du noch, wie ich dir damals von meiner Arbeit an dem Wörterbuch erzählt habe?« Ihm war natürlich klar, dass ich mich noch daran erinnerte. Das Wörterbuchprojekt war seine Lebensaufgabe, sagte er nun. Früher hatte ich gar nicht nachvollziehen können, wie die Arbeit an einem Wörterbuch zu einer solchen Leidenschaft hatte werden können. Oft hatte er mir zu verstehen gegeben, dass dieses Wörterbuch, an dem er gearbeitet hatte und vielleicht noch immer arbeitete oder das er aufgrund der Dinge, die ihm in den letzten Jahren widerfahren waren, liegengelassen hatte, sich wesentlich von allen anderen Wörterbüchern unterschied. »Leider habe ich dir die Hintergründe damals nicht genauer erläutert, ich habe dummerweise nur ganz allgemein davon gesprochen. Vielleicht hatte ich Angst, du klaust mir die Idee, wer weiß!«, sagte er, seine Bierflasche noch immer in der Hand. Erneut stießen wir an.

»Cheers«, sagte ich, und er begann zu erzählen.

Sein Bruder Gerry, der vor Jahren Rabbiner geworden war, und zuvor als Offizier bei den Marines gedient hatte, war zehn Jahre älter als Simon. Doch trotz Simons Jugend, er war damals vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, war ihm etwas an der Art und Weise aufgefallen, wie sein Bruder redete, wenn er auf Urlaub nach Hause kam. Doch wenn er seinen Bruder nach diesen Ausdrücken fragte, die ihm unklar und neu erschienen, lachte dieser nur und sagte, so sprächen sie eben bei den Marines.

Simon wusste nicht mehr, wann er begonnen hatte, sich für die Frage zu interessieren, ob denn alle Soldaten weltweit solch eine eigene Sprache besäßen. Doch er erinnerte sich, dass ihn diese Frage lange umgetrieben hatte. Manchmal hatte er nächtelang nicht schlafen können. Als er sich ein kleines Heft anschaffte, um hier und da ein Wort zu notieren, das er von seinem Bruder aufgeschnappt hatte, war ihm noch nicht bewusst, dass sein Wortschatz mit der Zeit immer weiter anwachsen und dieses kleine Heft von zahlreichen größeren abgelöst werden sollte. Sein Bruder hatte sich nicht geizig gezeigt und ihn mit sämtlichen Wörtern versorgt, die ihm geläufig waren. Und als Simon schließlich auf die Universität kam, sollte er Linguistik studieren und sich auf die Sprache der Soldaten spezialisieren.

So hatte das Ganze seinen Anfang genommen, und im Laufe der Zeit hatte er begonnen, Abhandlungen über die Soldatensprache zu schreiben: Flüche in der Soldatensprache, Erotik in der Soldatensprache, Humor in der Soldatensprache und andere Titel mehr. Sein Professor hatte es anfangs als eher befremdlich empfunden, dass er sich allein mit solchen Themen beschäftigte, und darin nur eine vorübergehende Liebhaberei erblickt, wie sie in den ersten Universitätsjahren bei Studenten zuweilen vorkommt. Simon allerdings hatte unbeirrt an seinem Lieblingsthema weitergeforscht, war ganz darin aufgegangen, weshalb ihn sein Professor schließlich zu einer Unterredung in sein Büro bat. Er war ein kritischer Geist, wie die meisten seiner Professorenkollegen an der University of Michigan in Ann Arbor, die der Generation der Studentenbewegung der Sechzigerjahre angehört hatten und für jedes neue Thema ein offenes Ohr zeigten. Zwischen den beiden hatte sich ein tiefgreifendes Gespräch entsponnen. Der Professor hatte Simon nach seinen Quellen gefragt und den Grund wissen wollen, warum ihn die Soldatensprache so beschäftige. Und Simon hatte ihm nicht nur alles ausführlich erläutert, sondern sich darüber hinaus unbeschreiblich glücklich gefühlt, den Professor auf sein Thema aufmerksam gemacht zu haben. »Sie glauben also, die Soldaten haben eine eigene Sprache?«, hatte ihn der Professor gefragt. »Ja, das ist meine Überzeugung. Und meine Forschungen bestätigen es«, lautete die Antwort des jungen Studenten. Während des Gesprächs notierte sich der Professor immer mal wieder ein paar Wörter, die Simon erwähnt hatte, darunter vor allem jene, die er in seinen Studien zitierte. Bevor Simon schließlich nach einer mehr als zweistündigen Unterhaltung das Büro verließ, äußerte der Professor, dass ihn tatsächlich einige Wörter stutzig gemacht hätten, weil er sie nicht verstanden habe. Sie seien sicherlich Teil des Wortschatzes der Marines, weshalb es ihn sehr freue, wenn Simon sie ihm übersetzen würde. Und in diesem Moment war Simon blitzartig die Idee gekommen: ein Wörterbuch!

Eine Soldatensprache, dachte er, muss es in der übrigen Welt gewiss auch geben, und wenn er verschiedene Sprachen studierte, könnte er ein wirklich umfassendes Wörterbuch zusammenstellen. Er erstellte eine Liste und einen Arbeitsplan, um jene Sprachen zu lernen, die in den Konfliktregionen seiner Zeit gesprochen wurden.

»Was meinst du?«, fragte er und sah mich an, als wolle er sich vergewissern, dass die Überraschung, die er mir bereiten wollte, ihre Wirkung nicht verfehlt hatte. »Heutzutage ist es schwierig, eine einzige Region auszumachen, die konfliktreicher ist als die übrigen, denn an vielen Orten der Welt herrscht Krieg, ob nun im Kleinen oder im Großen.« Aber damals, Anfang, Mitte der Achtzigerjahre, welche Sprache habe da an erster Stelle gestanden? Nun? Doch wohl Arabisch, dann Hebräisch und in einem gewissen Sinne auch Farsi. – Und so hatte er sich parallel zur Linguistik auch noch für Nahoststudien eingeschrieben.

Bei seiner Ankunft in Kairo war es Spätherbst. Seinen Abschluss in Linguistik und Nahoststudien hatte er in der Tasche. Vom ersten Studienjahr an war ihm klar, dass man, um eine Sprache zu beherrschen, auf Reisen gehen und sie an Ort und Stelle studieren muss. Er hatte sich zum Ziel gesetzt, in Kairo seine Arabischkenntnisse zu vertiefen, sich mit den Ägyptern in ihrer Sprache zu unterhalten und von ihnen zu lernen, um sich anschließend der Herausgabe seines Wörterbuchs zu widmen. Für all dies hatte er höchstens ein Jahr eingeplant, und zwar nicht, weil das ihm zur Verfügung stehende Geld nicht länger gereicht hätte, sondern um sich auch mit jenen anderen Sprachen zu befassen, die er für sein Weltwörterbuch benötigte, wie etwa das Persische oder Hebräische. Zwar hatte er große Lust gehabt, in den Iran zu gehen, seine Hebräisch-Studien aber hatten sich von Kairo aus leichter weiterverfolgen lassen, schließlich grenzt Israel an Ägypten und war diesem nach dem Staatsbesuch des ägyptischen Präsidenten und der Unterzeichnung eines Friedensvertrags genau vier Jahre vor Simons Ankunft und infolge der anschließenden Grenzöffnung näher gerückt. Simon hatte sich nun leichter auf dem Landweg zwischen Tel Aviv und Kairo hin und her bewegen können und sich nicht mehr gezwungen gesehen, über Zypern nach Israel einzureisen. Während jenes Jahres, von dem er gedacht hatte, es werde sein einziges sein und er würde danach, gleich im Anschluss an die Fertigstellung seiner Studien, nach Michigan zurückkehren, tat er alles ihm erdenklich Mögliche, um bloß nicht den Verdacht zu erwecken, sich nicht allein aus literarischen Gründen mit der arabischen Sprache zu beschäftigen, sondern tatsächlich wegen seiner Arbeit an einem Wörterbuch, das mit dem Militär in Beziehung stand. Er musste also zunächst einmal Soldaten finden, sich mit ihnen unterhalten und sie, wenn auch indirekt, befragen. Damals hatte er zufällig vom Café El Horryia gelesen, und was er da gelesen hatte, hatte ihm den Weg zu seinem Ziel gewiesen.

»Weißt du, dass dieses Café seit seiner Eröffnung 1936 der Lieblingstreffpunkt der Ausländer in Ägypten ist?«, fragte er mich und zog einen alten Zeitungsausschnitt aus der Tasche, den er aufbewahrt hatte. »Was für ein Zufall!«, dachte ich, als ich den Papierfetzen, den er mir unter die Nase hielt, in Augenschein nahm und überflog. Das Viertel Bab al-Louk war zu jener Zeit, als das Café eröffnete, nahezu unbewohnt. Es lag an einem Platz, den man damals noch Maidan al-Zuhur nannte, Platz der Blumen. Weil es so abgelegen lag, hatte mit Ausnahme einiger englischer Soldaten niemand den Weg dorthin gefunden. Zunächst brachte das Café seinen Besitzern auch nichts als gewaltige Verluste ein. Doch mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs stockte Großbritannien seine Truppen in Kairo auf, die britischen Soldaten zeigten eine besondere Vorliebe für dieses Café, dessen zunehmende Beliebtheit unter den Briten dann auch Paschas, Polizisten, Soldaten und Künstler anzog. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass genau an der Stelle, wo sich heute das Café befindet, früher das Haus des berühmten ägyptischen Politikers Ahmad Urabi gestanden hat. Von hier aus war er mit seinen Unterstützern zum Abdin-Palast gegen den Khediven, den ägyptischen Herrscher, gezogen, um Freiheit für das Volk einzufordern. Nach dem Scheitern der Revolution, der Gefangennahme Urabis und seiner Verbannung auf die Insel Ceylon wurde auch sein Haus zerstört. An dessen Stelle errichtete man ein neues Gebäude in englischem Stil mit dem Café El Horryia im Erdgeschoss. Es gab also keinen besseren Vorwand als den der Erforschung der Geschichte dieses Cafés, um sich mit ehemaligen Militärführern zu treffen, die hier regelmäßig verkehrten. Eigenartige Ausdrücke und sprachliche Wendungen ließen sich mit ihrer Hilfe leicht belegen. Nur durfte Simon keinen Argwohn bei ihnen erwecken, wollte er nicht Gefahr laufen, als Spion verdächtigt zu werden. Er musste die Kontaktaufnahme vorsichtig angehen, seine Gesprächspartner zunächst fragen, welche Zeit sie erlebt, welche Sprache sie verwendet hatten und wie sich diese von der zeitgenössischen unterschied.

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