Kitabı oku: «Soad und das Militär», sayfa 3
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ERSTES HEFT
Verlorene Kindheit
ANFANGS GEFIEL ES GAWAHIR GAR NICHT, ihre Töchter mit dem Vater ausgehen zu lassen. Das war nichts Neues, denn sie wusste bereits seit ihrer Scheidung, dass das einzige Mittel, ihren Mann zu bestrafen, darin bestand, irgendwie zu verhindern, dass er seine Töchter sah. Weil jedoch die drei Mädchen selbst, vor allem Soad, die mittlere, ihre Mutter so sehr bedrängten, gab diese schließlich nach und bat ihren Ex-Mann nur, sich diesmal vor den Militärfahrzeugen in Acht zu nehmen: »Die Leute sagen, sie haben die Straßen besetzt.« Mit dieser Warnung lag Gawahir nicht falsch. Zum vielleicht ersten Mal versuchte sie ihre Töchter nicht daran zu hindern, auszugehen, weil sie sich an deren Vater rächen wollte, sondern weil sie sich tatsächlich Sorgen um ihr Wohlergehen machte.
Es war ein heißer Julitag. Seit die Einwohner Kairos drei Tage zuvor von einer ungewöhnlichen Bewegung in den Straßen erwacht waren, hörten sie im Radio nur noch Militärmärsche. Man sprach von einem historischen Tag, von der Revolution der Freien Offiziere im Namen des Volkes. Die Stadtmitte war noch voller Armeefahrzeuge, erzählten sich die Menschen, die von dort kamen, weil sie ihre Arbeitsplätze verlassen hatten, um zu Hause Schutz zu suchen. Nie zuvor hatten sie so viel Militär in den Straßen gesehen. Selbst die Gesichter der Älteren, die noch den Ersten Weltkrieg miterlebt hatten, wirkten verängstigt. Niemand wusste, wer für und wer gegen die Revolution war. Was das Militär betraf, so war klar, dass seine Aufgabe darin bestand, zu kämpfen. Aber bewaffnete Zivilisten? An welcher Front sie standen, vermochte niemand zu sagen. Zwar versicherten sie den Menschen, ihnen würde nichts geschehen, sie sollten nur umsichtig und ruhig bleiben, doch der Anblick, den die Stadt bot, war beängstigend.
Anders sah es in Bulaq aus. Im Viertel war es völlig ruhig, als stünde es in keinerlei Beziehung zum Rest der Stadt, als sei es seit seiner Entstehung am Ostufer des Nils ein von ihr losgelöster Hafen. Der Verkehr lief normal, die Autos fuhren wie gewohnt durch die Straßen, die Passagierboote und Lastkähne pflügten durch den Fluss wie an allen anderen Tagen auch. Selbst am Ufer von Bulaq hatte es in den letzten zweiundsiebzig Stunden keine ungewöhnlichen Bewegungen gegeben. Tags zuvor erst waren die Mädchen in der Abenddämmerung mit ihrer Mutter und deren neuem Ehemann, dem Schulrat Abd al-Mazhar Hafiz, spazieren gegangen. Wie stets zur Zeit des Sonnenuntergangs war das Nilufer zur Promenade von Liebespaaren und Familien geworden, die den Wind des kühler werdenden Tages genossen. Auch am dritten Tag nach der Revolution hatte man wie sonst gearbeitet. Sogar die einundzwanzig Salutschüsse der militärischen Artillerie hatte man vernommen. Es hieß, ein neues Zeitalter habe begonnen, der König sei abgesetzt und außer Landes gebracht worden. Im Land herrsche eine neue Regierung und mir ihr neue Gesetze. Man sprach von einer Republik, von einer geplanten Landreform, von der Abschaffung des Kolonialismus, von der Errichtung einer starken Armee, von sozialer Gerechtigkeit und von einem gesunden demokratischen Leben.
Die Nachrichten, die sich in diesen Tagen überschlugen, hatten Bulaq offenbar noch nicht erreicht. Hier lag der aus den Gassen dringende Rauch der Haschischzigaretten in der Luft, hier hatten die Eiscafés ihre Türen geöffnet, was auch der Grund sein mochte, warum die drei Mädchen so versessen darauf waren, mit dem Vater auszugehen. Seit sie nicht mehr mit ihm zusammenlebten, hatte ihre Mutter ihnen immer wieder eingebläut: »Wenn euer Vater, dieser Verräter, kommt, geht ihr nicht mit ihm mit!«
Letztendlich jedoch hatte sie ihre Töchter nicht überzeugen können, und zwar nicht, weil der Vater ihnen stets ein Eis versprach, sondern weil die drei Mädchen sich jeden Abend vor dem Einschlafen geschworen hatten, selbst zu entscheiden, ob sie mit dem Vater mitgingen oder nicht. Der Vorschlag dazu stammte von Kauthar, der Ältesten, und Soad hatte ihm gleich zugestimmt. Nur auf Sabah mussten sie intensiver einwirken, denn sie war noch zu klein, um solche Dinge zu verstehen, und außerdem ziemlich faul. Die Mädchen gingen davon aus, dass sie auch diesmal an vielen Kneipen und Bars auf ihrem Weg Halt machen würden, bei der San James Bar etwa oder dem Solt, wo ihr Vater, das wussten die Mädchen, besonders gern länger verweilte. Er legte dort immer eine Pause ein, holte sein altes Akkordeon aus dem Kasten, begann zu spielen und forderte seine Töchter auf zu singen. Das Solt war sowohl Restaurant und Konditorei als auch Ausschank. Deshalb musizierte der Vater dort am liebsten. Er selbst bekam ein alkoholisches Getränk – an den Tagen, an denen der Inhaber gut gelaunt war, auch zwei – und die Mädchen so viele Süßigkeiten, wie sie wollten. Doch zu ihrer Überraschung ging der Vater in dieser Julihitze einfach daran vorbei. Soad dachte zuerst, es sei ja noch mitten am Tag und der Vater mache hier lieber erst am Abend Halt, zwischen zehn und ein Uhr nachts, wenn die Bar zum Treffpunkt eines ganz speziellen Typs von Männern wurde. Der Vater bezeichnete diese Männer als große Literaten, Dichter, Intellektuelle und Journalisten. Am deutlichsten erinnerte sich Soad an einen freundlichen Glatzkopf mit Brille. Er hieß Si Chamis. Später sollte sie erfahren, dass er tatsächlich ein großer Poet war. Er hatte sich einmal lobend über ihre Stimme geäußert und gesagt: »Dieses Mädchen wird einmal ganz groß herauskommen!«
Zu ihrer großen Überraschung aber blieben sie diesmal weder vor dem Solt stehen noch vor dem al-Mahrusa, einer berüchtigten Quelle für Pressenachrichten und bevorzugter Treffpunkt der Notabeln aus den Familien Yakan und al-Manistrali, noch vor der Petersburg-Bar gleich gegenüber. Nicht einmal vor den Cafés hielten sie wie sonst auf ihren Rundgängen an, dem Port Fuad etwa, wo die Gäste an Tischen auf dem Gehsteig saßen, oder dem Port Nur an der Ecke Bulaq- und Soliman-Pascha-Straße. Das war seltsam, ebenso seltsam wie die Tatsache, dass ihr Vater nicht wie sonst von der Mutter verlangt hatte, ihnen alte, abgerissene, aber saubere Kleider anzuziehen, um seine Kunden mitleidig zu stimmen. An diesem heißen Julitag hatte er die Mutter aufgefordert, ihre Töchter baden zu lassen, sie hübsch anzuziehen und mit ihrem besten Parfum zu besprühen. Sie sollten aussehen »wie Prinzessinnen«. Gawahir war wütend geworden und hatte ihn angefahren: »Meine Töchter sind Prinzessinnen!« Als sie schließlich das Haus verlassen hatten und nicht mehr unter der Aufsicht der Mutter standen, trieb ihr Vater sie unaufhörlich an. Warum er heute so nervös war, wusste Soad nicht, und genauso wenig wusste sie, warum er solchen Wert auf hübsche Kleidung gelegt hatte.
An diesem Tag, der für Soads künftiges Leben bestimmend sein sollte, ahnte sie nichts von dem, was sie und ihre Schwestern erwartete, als sie das große Gebäude an der Corniche in Zamalek, gleich in der Nähe des alten Ankerplatzes, erreichten. Obwohl sie schon fast neun Jahre alt war, konnte sie weder lesen noch schreiben. Hätte sie eine reguläre Schule besucht oder wäre ihre Ausbildung nicht allein ihrer Mutter überlassen gewesen, hätte sie das Schild vor dem Gebäude lesen können, auf dem in breiten Lettern geschrieben stand: »Offiziersclub der Streitkräfte«. So jedoch war es für sie nur ein Gebäude, vor dessen Eingang scharenweise Militär stand. Anfangs hatte sie Angst verspürt, doch ihr Vater zog sie mit sich. Sie hörte, wie er den bis an die Zähne bewaffneten Soldaten und Wachtposten, die eine Eintrittserlaubnis verlangten, erklärte: »Sagen Sie seiner Exzellenz, dem Pascha, ich bin der kurdische Kalligraf!«, als seien alle von seinem Kommen unterrichtet. Kaum waren sie in einen großen Saal getreten, erblickten sie mehrere Offiziere, die Weingläser in der Hand hielten und dort standen, als hätten sie nur auf sie gewartet. Die Mädchen erhielten viele Komplimente, so mancher erlaubte sich sogar, ihnen über den Kopf zu streichen. Plötzlich sah Soad einen Offizier im Alter ihres Vaters, also gut Mitte dreißig, auf diesen zugehen und ihm die Hand reichen. Ihr schien, als würden die beiden einander gut kennen.
Captain Samah zeigte keinerlei Interesse an den drei Mädchen, er sah sie kühl und distanziert an, selbst sein kleines Lächeln wirkte gezwungen. »Alles in Ordnung?«, fragte er den Vater, und ohne dessen Antwort abzuwarten, setzte er sich eilig in Bewegung und forderte ihn und seine Töchter auf, ihm zu folgen. Sie gingen durch einen langen Flur, eine Art Tunnel beinahe, und je weiter sie sich vom großen Saal entfernten, desto stiller wurde es. Schließlich gelangten sie ganz am Ende des Gebäudes zu einem kleinen Raum, dessen Tür offenstand. Kaum waren sie eingetreten, erblickte Soad einen jungen Offizier, den Captain Samah fragte: »Ist alles bereit, Scharif?«, woraufhin dieser knapp und gehorsam antwortete: »Ja, Captain, alles bereit.«
Soad verstand nicht, wovon die beiden sprachen, sah aber in ihrer kindlichen Neugier den Vorgängen zu, als wäre sie beim Versteckspiel mit ihren Schwestern auf den Straßen in Bulaq.
Was auch immer Soad in ihrem Leben vergessen sollte, die Zeit, die sie in jenem kleinen Raum verbrachte, blieb ihr in Erinnerung. Noch Jahre später hatte sie die Tonbandgeräte, die hier bereitstanden, ebenso vor Augen wie jenen seltsamen Moment, wo sich ihr Blick mit dem des jungen Leutnants kreuzte. Sie sah ihn an und er sie. Das Lächeln, mit dem sie das seine beantwortete, war nichts weiter als der Versuch, sich von ihrer Verlegenheit und dem Gefühl zu befreien, seine Gegenwart löse etwas Ungutes bei ihr aus.
Leutnant Scharif war ein ansehnlicher Mann. Seine Uniform, sein kurzes, gepflegtes schwarzes Haar ließen ihn ebenso elegant erscheinen wie die vielen Herren in den Bars und Cafés von Bulaq. Er zeigte sich freundlich, wenn er mit Soad sprach, abgesehen von den kurzen Momenten, in denen sich sein Gesicht verdüsterte, als fühle er sich bedroht. Dann lag unvermittelt etwas Lauerndes, Kaltes in seinen Augen, das Soad erschauern ließ. Es war, als hätte sie intuitiv wahrgenommen, was geschehen würde, wäre er länger als eine Viertelstunde mit ihr allein im Raum gewesen. Sie bemerkte, dass er schwitzte und beim Sprechen schwer atmete. Mehrmals bat er sie, die Stücke, die er von ihr aufnahm, zu wiederholen. Sie wusste nicht, ob er vergessen hatte, das Aufnahmegerät einzuschalten, oder ob er es mit Absicht nicht getan hatte. Anders als bei ihr machte er von ihren Schwestern nur kurze Aufnahmen, von der Ältesten vielleicht zwei, bestenfalls drei Minuten, bevor er sie bat, den Raum zu verlassen, von der kleinen Sabah gar nur eine knappe Minute. Dann schickte er auch sie und ihren Vater hinaus.
Soad bekam Angst, wagte aber nicht, etwas zu sagen. Sie schöpfte Mut aus der Tatsache, dass ihr Vater und Captain Samah gleich hinter der Tür auf sie warteten. Vor allem die Anwesenheit von Captain Samah beruhigte sie.
Trotz ihres jungen Alters und obwohl sie sich mit militärischen Hierarchien nicht im Geringsten auskannte, war Soad klar, dass Scharif während jenes Tages wie auch während der folgenden, regelmäßigen Treffen nichts anderes tat, als die Befehle seines Vorgesetzten auszuführen. Selbst als Captain Samah zu Scharif gesagt hatte: »Starten Sie die Aufnahme!«, war dies im Tonfall eines Befehls geschehen. Und er hatte nicht ohne drohenden Unterton hinzugefügt: »Machen Sie uns keine Schande!«
So hatten die Militärs mit der Aufnahme jenes Liedes begonnen, das man später die Hymne der Revolution nennen sollte, der Revolution vom 23. Juli 1952: Gott erhalte deine Armee, mein geliebtes Ägypten!
Den Anfang dieses Liedes sang Soads ältere Schwester, während sie selbst einen Vers mehrmals wiederholte, der sich zu einer Art persönlichem Fluch entwickeln und später wie ein Albtraum auf ihr lasten sollte: Die Armee ist es, die uns schützt, mein geliebtes Ägypten.
Das neunjährige Mädchen aber, das sie war und das später als »Goldkind« und »Zuckerpüppchen« und noch sehr viel später als »die Cinderella« bekannt werden sollte, ahnte davon zu jenem Zeitpunkt noch nichts.
»Das war’s!«, freute sich der Vater, als er mit seinen Töchtern aus dem Gebäude des Offiziersclubs wieder zurück in die Tageshitze trat. »Von nun an wird nicht mehr in den Straßen und Bars gesungen. Ab morgen wird alles anders!«
Und er wusste nicht, wie recht er damit haben sollte.
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LANGSAM ZOG SICH DER TAG DAHIN. Anfangs wusste ich nicht, was ich tun sollte. Als ich das erste Heft ausgelesen hatte, lag die Abflugzeit meines Fluges gute zwei Stunden zurück. Ja, ich hatte Simon angelogen, hatte ihm erzählt, mein Flug ginge nach Mitternacht. Aber ich denke, er wusste, dass ich nicht die Wahrheit sagte, schließlich war er über all meine Schritte in der Stadt informiert, warum also nicht auch über meine Abflugzeit? Gut möglich sogar, dass er sich heimlich amüsiert hatte, da er wusste, dass ich nur zu meinem Schutz log. Ein Mensch mit meiner Neugierde würde sich eine solche Verabredung auf keinen Fall entgehen lassen. Es wird ihm nicht schwergefallen sein, meine Gedanken zu lesen. Das Auge ist verräterisch, und er musste mir in die Augen geblickt haben.
Stundenlang war ich durch die Stadt gezogen, noch immer unentschlossen, ob ich wirklich zum vereinbarten Treffpunkt gehen sollte, oder, falls ich doch entschlossen gewesen sein sollte, so war ich vielleicht nicht wirklich sicher, ob diese Entscheidung richtig war. Ich weiß es nicht mehr, angesichts einer solchen Situation ist es nicht leicht, sich an die genaue zeitliche Abfolge der Dinge zu erinnern. Was nicht nur für die Straßen, Viertel, Stadtteile, Gassen, Läden und Cafés gilt, an denen ich nach der Lektüre des ersten Heftes und vor dem Treffen mit Simon im Café El Horryia vorbeigegangen war, oder in denen ich mich für eine gewisse Zeit niedergelassen hatte, nein, ich erinnere mich auch nicht mehr, ob ich meinen Koffer schon gepackt hatte, als ich das Päckchen öffnete, oder erst damit begann, nachdem ich von meinem Rundgang zurückgekehrt war. Woran ich mich erinnere, ist allein die Tatsache, dass ich keinerlei Ziel vor Augen hatte. Sollte ich das zweite Heft aufschlagen und weiterlesen, oder es lieber lassen und mich mit dem ersten zufriedengeben? Ich fühlte mich wie gelähmt.
Der Koffer, das weiß ich noch, lag aufgeklappt vor mir auf dem Bett, verstreut neben ihm meine Kleider und Toilettenartikel, all die Dinge, die man auf eine Kurzreise mit sich nimmt. Ich war gerade aus dem Bad gekommen und hatte beschlossen, das Ganze zusammenzupacken. Warum sollte ich nicht ins nahegelegene Reisebüro gehen und mich nach dem nächsten Flug erkundigen? In einem wenigstens hatte ich Simon nicht angelogen: Die Flüge der meisten europäischen Linien gingen in den späten Abendstunden. Es lag an mir. Es war ausschließlich meine Entscheidung. Ich konnte eine Fluggesellschaft anrufen, und am nächsten oder spätestens übernächsten Tag abreisen. Nichts zwang mich, zu unserer Verabredung zu erscheinen.
Rasch stopfte ich Kleider und Badartikel in den Koffer, zog Armbanduhr und Schuhe an, sah mich im Zimmer um, ob ich etwas vergessen hatte, und erst als ich im Begriff war, den Raum endgültig zu verlassen und die Tür hinter mir zuzuziehen, ich war schon mit einem Fuß im Flur, fiel mir das Päckchen wieder ein. Mein Gott, ich hatte es nicht in den Koffer gepackt! Ich hatte es geöffnet auf dem Tisch liegen lassen, und das erste Heft, das ich eben gelesen hatte, lag daneben. Ich sah auf die Uhr, mir blieb noch Zeit. Ich musste mir für das Päckchen einen Plan zurechtlegen.
Ich legte das erste Heft wieder obenauf und steckte den ganzen Stoß in eine Stofftasche, die ich immer im Seitenfach meines Koffers aufbewahrte und normalerweise zum Einkaufen benutzte. Ich beschloss, den Koffer im Zimmer zu lassen und ging hinaus. Ob nun zu meinem Unheil oder Simons Glück – kaum, dass der Rezeptionist des Hotels mich die Treppe herunterkommen sah, lächelte er mich an und sagte: »Guten Morgen, Doktor! Wusste ich’s doch, dass der Aufenthalt in Kairo Ihnen gefallen hat und Sie noch zwei, drei Tage länger bei uns bleiben!« Er klang von dem, was er sagte, vollkommen überzeugt, und ich weiß nicht, ob es an diesem Umstand lag oder eher an meiner dem Bündel geschuldeten Nervosität, dass ich ihm sofort bestätigend zunickte und lächelnd bei ihm den Eindruck erweckte, seinen Worten beizupflichten, bevor ich schließlich wortlos das Hotel verließ.
Es war ein warmer, strahlender Morgen, die Sonne schien, kein Wind war zu spüren, die Luft war allein vom Gezwitscher der Vögel erfüllt, die mit Tagesanbruch aktiv geworden waren und auf der Suche nach Nahrung immer wieder von einem Baum zum nächsten flogen. Dieser besondere Februartag war wie für mich geschaffen, er kam mir regelrecht vertraut vor. Allerdings hegte ich nicht den geringsten Zweifel, dass sich wegen des Bündels jemand an meine Fersen heften würde. Drei Tage lang hatte diese Vorstellung mich verfolgt, und heute, nachdem ich das erste Heft gelesen hatte, war sie noch intensiver geworden.
Ich dachte daran, mir die erstbeste Telefonzelle zu suchen, bei der Auskunft die Nummer des Hotels Layali al-Qahira zu erfragen, um Simon zu kontaktieren und ihm zu erklären, dass ich abreisen würde, ohne die Hefte gelesen zu haben, und dass es besser wäre, wenn wir uns jetzt sofort träfen, damit er sie von mir wieder in Empfang nehmen könnte. Mein Flug, hätte ich ihm sagen wollen, gehe am Abend, ich hätte nicht mehr genügend Zeit, sie ihm vorbeizubringen. Und ich tat es auch. Es steht in den Sternen geschrieben, warum der Angestellte des Layali al-Qahira, der meinen Anruf entgegennahm, nicht verstand, was ich von ihm wollte. »Wen?«, stammelte er. »Si …, wer? Si … Mon? Amri … Kana, wie bitte?«, und bevor ich meinen Wunsch wiederholen konnte, hatte er wieder aufgelegt. Abgesehen von einem kaum wahrnehmbaren kurzen Flüstern in der Leitung kam nichts mehr. Ich hängte ein. Die Stofftasche hatte ich in der Hand, die Straße lag offen vor mir, ich verließ die Telefonzelle, rechts und links zogen Menschen an mir vorüber, die Geschäftigkeit des Tages hatte begonnen, alles bewegte sich, wie es schien, nach einem festen Plan, selbst die Vögel flogen von einer bestimmten Stelle zu einer anderen, nur ich stand da: ohne jegliches Ziel.
An jenem Morgen, ich habe es erwähnt, machte ich mich zu einem langen Fußmarsch auf, einem Pilger ähnlich, der die Welt durchwandert. Ich glaube, dieses ziellose Umherstreifen verschaffte mir Zeit, darüber nachzudenken, was ich im Ernstfall tun würde. Falls es so weit kommen sollte, dass sie mich aufgriffen, hatte ich mir im Kopf tatsächlich einen Satz zurechtgelegt: »Seht Ihr denn nicht, dass ich unterwegs bin, im Freien, und mich nicht im Hotel, in einem geschlossenen Raum aufhalte, wo ich verbotenes Wissen lesen könnte? Ja, sicher, die Hefte, ich habe sie bei mir, hier, in dieser Tasche, aber bislang habe ich mich nicht festgelegt, was ich unternehmen soll. Ich weiß, dass es in den Heften um eine ganz besondere Frau geht, eine berühmte Schauspielerin und Sängerin. Ich habe allerdings bis jetzt nur das erste Heft gelesen. Das ist kein Verbrechen, denke ich!« Merkwürdig, sagte ich zu mir selbst, wie komme ich denn darauf, mit der Lektüre des Heftes, dessen Verfasserin es vorgezogen hatte, in der dritten Person über sich zu berichten, ein Verbrechen begangen zu haben? War etwa auch sie, die Verfasserin, der Meinung, dass das, was sie enthüllen würde, ein Verbrechen sei? Und war sie deshalb darauf verfallen, in der dritten Person zu schreiben und die Perspektive eines auktorialen Erzählers einzunehmen? Wo in diesen Heften begann die Fiktion und wo die Wahrheit? Und wer entschied am Ende darüber, wie sie einzuordnen waren? Simon Syros? Ich selbst? Oder etwa der Soldat, der Polizist oder der Agent, der mich festnehmen würde?
Die Tasche mit den Heften in der Hand, den Kopf voller Gedanken, lief und lief ich einfach vor mich hin. Bis zu unserer Verabredung am Abend war noch viel Zeit. Und nichts verpflichtete mich bislang, sie überhaupt wahrzunehmen. Überdies gab es auch keinen wirklichen Anlass, der mich zwang, mein Hotelzimmer zu meiden und durch die Straßen zu ziehen, von einem Ort zum nächsten zu marschieren und mich so zu verausgaben. Doch ich lief einfach weiter. Währenddessen fiel mir ein, dass irgendwer einmal einen Roman darüber geschrieben hat, wie er sich als junger Soldat fühlte, nachdem er verbotene Literatur gelesen hatte. Ich erinnere mich nicht mehr, ob der Schriftsteller in Lima oder Bogotá, in Santiago oder Bagdad lebte, ich weiß nur, dass in der Erzählung sein Land mit einem Nachbarland in einen Krieg getreten war. All das ist meiner Meinung nach aber auch unwichtig. Worauf es ankommt: Mir war im Gedächtnis geblieben, wie in etwa er die Lektüre eines verbotenen Buches in einem Land unter autokratischer Herrschaft, in einer Diktatur, beschrieb:
Nachdem ein Freund dafür gebürgt hatte, dass ich Stillschweigen über das Ganze wahren würde, erwarb ich in einer Druckerei im Stadtzentrum eine Kopie von dem Roman dieses Autors und ging damit geradewegs in mein Zimmer in dem alten Hotel am Fluss. Mit der Vorsicht eines Heroinschmugglers in einem Geheimdienststaat holte ich dort das Buch heraus, schloss die Zimmertür ab, und das Zittern meiner Hände war noch für die Spatzen auf dem Hoteldach vernehmbar … Je weiter ich in die unverhüllte Darstellung des Lebens und der konkreten Umstände im Inneren jenes Landes vordrang, desto stärker bebten sie … Die Romanfiguren waren unserem Leben, meiner Angst in dem finsteren Zimmer dieses elenden Hotels so ähnlich, dass ich begann, mich vor seinem Betreiber zu fürchten. Wenn es an der Tür klopfte, versteckte ich das Buch sofort unter dem Kopfkissen. Die Menschen im Roman standen am Rande des Lebens, aber der Erzähler war bestrebt, sie mitten hinein zu versetzen, um einem das Gefühl zu vermitteln, man befinde sich ebenfalls darin … Es war bereits das zweite Mal, dass ich das Gefühl hatte, eine Figur in einem Roman zu sein, den ich gerade las. Zum ersten Mal hatte ich dies bei dem Roman 25 Uhr erlebt, und nun bei diesem hier … Eine Furcht, die durch meine Lektüre und meine Eile, das Buch auszulesen und mich von ihm freizumachen, noch bedrängender wurde. Doch das Gesicht des Autors sollte unter den Lidern meiner Erinnerungen verborgen bleiben. Dieselben Gefühle, die den Protagonisten des Romans beherrschten, beherrschten auch mich. Bei ihm handelte es sich ebenfalls um einen zögerlichen Menschen … – Ich habe den Roman ausgelesen und werde anfangen, ihn zu zerreißen, nachdem ich ihn mir ins Herz und Gedächtnis eingeprägt habe. Ich werde ihn zerreißen, in eine Tüte sammeln und im Morgengrauen zu dem Schriftsteller hinuntergehen … Dasselbe passierte mir mit seinem zweiten Roman. Vier Jahre lagen zwischen dem ersten Roman, den ich von jenem Schriftsteller las, und dem zweiten. Dieser zeitliche Abstand reichte, die Furcht zu zerstreuen, in die er mich in jener kalten Nacht im Hotel am Fluss versetzt hatte … Jetzt bin ich zu Hause, es herrscht eine wundervolle Sommernacht, die Sterne senden ihr Licht hinab auf die Gesichter meiner Kinder, und ich erwache voller Glück, eine Kopie des zweiten Romans dieses Autors in meinem Besitz zu haben. Aber bei sämtlichen Lesern kopierter Bücher hat sich herumgesprochen, dass alles, was dieser Autor schreibt, hier verboten ist, und sollte es sich um romantische Gedichte handeln.
Mehrmals versuchte ich erfolglos zu imitieren, was »unser Mann in der Hauptstadt der Geheimdienste« getan hatte: die Hefte zu zerreißen, das Bündel im Ganzen oder in Form von Papierschnipseln in den Nil zu werfen, damit die Wellen es verschlangen. Falls mich dann jemand dazu befragt hätte, hätte ich dasselbe zur Antwort gegeben wie der indische Priester seinem Schüler, nachdem er einen von zwei unschätzbar wertvollen Juwelen in genau den Fluss geworfen hatte, in dem sein Schüler stand. Als dieser ihm daraufhin zurief: »Was hast du getan, mein Priester! Wie soll ich das wertvolle Juwel nur wiederfinden?«, warf der Priester auch das zweite Juwel ins Wasser und rief seinem Schüler zu: »Suche da, wo auch dieses liegt!« Doch nein, ich lief mit der Tasche umher, und das Bildnis dieser besonderen Frau und Verfasserin der Hefte unter meinen Lidern verlangte von mir, ihre Aufzeichnungen zurück ins Hotelzimmer zu bringen. Als hätte sie zu frieren begonnen, so wie ich. Nach dem stundenlangen Herumlaufen machte mir das Gefühl von Kälte zu schaffen. Ich glaube nicht, dass es einen Wetterumschwung gegeben hatte, verändert hatte sich wohl meine Körpertemperatur. So wie die Frau, fror auch ich. Die Angst, die damit einhergeht, eine Entscheidung treffen zu müssen, lässt unsere Körper des Winters noch heftiger frieren und im Sommer stärker schwitzen. Und es war noch Winter, damals, im Februar 2014. Es war zwar nicht so kalt wie sonst zu dieser Jahreszeit in Kairo, aber die Menschen liefen in Winterkleidung durch die Straßen, trugen hier und da sogar einen Mantel. Ich wusste, sie übertrieben. Fielen die Temperaturen auch nur ein wenig, zogen die Wohlhabenderen sich sofort ihre Kaschmirmäntel über, die sie auf ihren Reisen nach Europa erstanden hatten. Was mich betrifft, so hat sich, in den vielen Jahren, die ich nun schon in Europa lebte, das Verhältnis meines Körpers zur Außentemperatur gewandelt. Was die Menschen in Kairo für Kälte halten, ist für mich nur eine Übertreibung ihrerseits. Komisch, sagte ich mir, dem Wetter passt sich der Körper an, aber seine Reaktion auf autokratische Regime bleibt sich doch gleich, sein Verhältnis zur Geheimpolizei und zur Armee bleibt sich gleich, da gibt es keine Veränderung, keine Gewöhnung.
Die Angst, eventuell der Polizei in die Hände zu fallen, die Furcht, das Bündel Hefte könne mich in etwas hineinziehen, für das ich nicht verantwortlich war, fühlte sich für mich gleichsam wie eine altbekannte ungeliebte Routine an. Jedes Mal, wenn dieses Gefühl in mir wach wurde, dachte ich daran, ins Hotel zurückzukehren. Und das Päckchen? Ja, was ist mit dem Päckchen?, überlegte ich. Ich musste eine Lösung finden. Das Militär verstand, sobald es selbst betroffen war, keinen Spaß! Von einer außergewöhnlichen Frau, von einem Wunderkind namens Soad, durfte in den Heften ohne Weiteres berichtet werden, selbst wenn die Hefte in der ersten Person abgefasst worden wären, also als persönliche Erinnerungen einer berühmten Sängerin und Schauspielerin, als die Memoiren einer Ausnahmekünstlerin, das hätte nichts und niemandem geschadet und wäre erlaubt gewesen – unter der Bedingung allerdings, dass das Wort Militär nicht auftauchte. Hätten die Hefte nur den Titel Soad getragen, hätte es gar kein Problem gegeben, ganz egal, was ihr Inhalt besagte, ganz egal, was für Geheimnisse enthüllt wurden. All dies wäre kein Vergehen oder Verbrechen gewesen. Doch ihr Titel lautete Soad und das Militär, und das, das war ein Verbrechen! Ein Verbrechen, für das das Gesetz Rechenschaft verlangte, ganz gleich, ob der Inhalt dieser Hefte nun von der Wahrheit diktiert war oder von der Fantasie. Wichtig allein war der Titel: Soad und das Militär!
Statt also ins Hotel zu gehen, eine Option, die ich mir tatsächlich überlegt hatte, beschloss ich, das Gegenteil zu tun. Ich lief, und diesmal schnell, in Richtung des Soliman-Gawhar-Marktes im Stadtteil Dokki. Dort kannte ich noch von meinem ersten Aufenthalt in Kairo ein berühmtes Ful-Lokal. Es hatte damals zu den mir liebsten Freuden gehört, in diesem Lokal zum Frühstück einen Teller exzellent zubereitetes Ful zu mir zu nehmen, bei einem Glas Tee die mit Olivenöl, Essig, Zwiebeln, Tomaten und gehackter Minze angemachten dicken Bohnen zu genießen und mich auf einer kleinen Couch zu ein paar einfachen Leuten zu setzen, die ihrerseits ihr Ful verspeisten. Das ganze Volk hat man dort bei einem Gericht zur Seite, das in Ägypten bevorzugt als Frühstück eingenommen wird, in Kairo darüber hinaus aber als Speise gilt, die die Armen zu allen Tageszeiten sättigt. Solange der Tag in Kairo mit seiner Geschäftigkeit anhält, gibt es in dieser Stadt Ful und dazu »genau richtig«, das heißt auf den Punkt gesüßten Tee. All dies war, das wusste ich nun, das richtige Rezept für jenen Tag. Eine solche Mahlzeit inmitten der Menschen dieser Stadt sollte mich meine vom vielen Umherlaufen herrührende Erschöpfung, meine Sorge um die Hefte und meine Angst vor dem, was noch folgen mochte, vergessen lassen. Ich weiß nicht, wie lange ich dort gesessen habe, doch als ich aufstand, um beim Inhaber des Lokals zu zahlen, war mein Körper von Glückseligkeit erfüllt. Der Mann trug eine Gallabiya und um den Kopf gewunden einen Schal. Er erinnerte mich an die Figur des »Muallim« in alten ägyptischen Filmen, eines im Viertel höchst respektierten Handwerksmeisters. »Kommt nicht in Frage, mein Herr«, sagte er zu mir, als ich zahlen wollte, »dieses Mal geht es auf uns!« Was für eine Gastfreundschaft, dachte ich mir, bedankte mich höflich bei dem Alten und drückte dem Jungen, der ihm zur Hand ging, ein Bakschisch in die Hand.
Ich hatte mich bereits gut hundert Meter, möglicherweise auch etwas weniger oder bereits viel weiter vom Lokal entfernt, als ich plötzlich die Stimme dieses Jungen vernahm. Er kam hinter mir hergelaufen und winkte mir lächelnd mit etwas, das er in den Händen hielt. »Mein Herr, sehr geehrter Herr!«, rief er mich mit lauter Stimme in einem Ton voller Glückseligkeit darüber, etwas Wertvolles gefunden zu haben, das er seinem Eigentümer zurückgeben konnte. »Sie haben Ihre Tasche vergessen!«
Anfangs begriff ich nicht, um was für eine Tasche es sich handeln sollte, dann schoss es mir blitzartig in den Kopf und ich dankte dem Jungen herzlich, gab ihm noch einmal ein Bakschisch und setzte meinen Weg fort.
Mein Gott, dachte ich, wie gut, dass dieser Junge nichts davon ahnte, dass eine solche Tasche zu tragen als Verbrechen gilt!