Kitabı oku: «LebensLichtSpuren», sayfa 2

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MUNDRAUB

Nebelfetzen hängen an diesem Morgen in den Dorfstraßen. Mein Freund und ich schlendern dem Baumstück am Rand des Dorfes zu. Dort gibt es eine Hecke mit dicht gewachsenen Büschen. Darin sitzen wir oft, beäugen das Draußen, die vorbeigehenden Spaziergänger, ohne von ihnen erkannt zu werden. Ein seltsam wohliges und erregendes Gefühl von Sicherheit und Abenteuer zugleich. Man gelangt dorthin über eine schmale, den Berg hinaufführende Gasse, die von der Hauptstraße abbiegt. An diesem Morgen spüren wir wieder diese prickelnden Gefühle in unseren Kinderköpfen. Gleich am Anfang der Gasse rechts geht der Metzger seinem Handwerk nach. Es duftet nach frisch gekochten Würsten in der frühen, kühlen Stunde aus dem offenen Fenster der Metzgerküche. Gerade als wir die Gasse betreten, schiebt sich eine Stange mit dampfenden Würsten aus dem Fenster. Wir bleiben erstaunt stehen. Der Geruch der Würste vermischt sich mit dem Morgennebel. Einen Moment lang schauen wir uns an, ein Lächeln auf meinen Lippen und denen meines Freundes. Ich angele vorsichtig eine Wurst von der Stange, dann rasen wir unserem Buschnest entgegen. Nie zuvor hatte ich gestohlen. Später teilen wir die Beute, verspeisen sie gierig und bereuen nichts.

DAS GEHIRN

Es war das erste Mal, dass ich das Schullabor betrat. Das erste Mal, dass ich ein menschliches Gehirn sah. Ich starrte auf das Glas, das wie die Glasgurken im Kühlschrank meiner Mutter aussah. Ich starrte auf das Glas mit dem Gehirn in Äther. Ich blieb lange Zeit ohne zu blinzeln, bis die Lehrerin mich anrief und ich einen Schrecken bekam, der meine Augen weitete, meinen Körper zittern und meine Lungen mehr Luft schlucken ließ, was ich nicht wollte, weil mein Magen von dem seltsamen Geruch krank war.

Doch ich folgte der Lehrerin nicht. Und meine Augen waren nun auf die trübe Flüssigkeit im Glas gerichtet. Ich betrachtete die gelbliche Substanz und die scheinbar mit der Flüssigkeit vermischten Fragmente des Gehirns. Dann zog sich mein Interesse tief in die Linien des Gehirns, die Umrisse, die nicht entzifferbare Farbe, die Dicke, seine Größe, und es fehlte mir nur das Gewicht, die Temperatur und das Gefühl zu empfinden.

Ich öffnete das Glas, steckte die Hand hinein und nahm das Gehirn. Erst mit der rechten, dann mit der anderen Hand. Die ganze ovale Form hatte ich in meinen Händen. Ich nahm es dicht ans Ohr und dachte, etwas gehört zu haben, ein nicht zu entzifferndes Geräusch von Unermesslichkeit wie das, was wir in der Meeresschnecke hören. Ich dachte daran, es zu riechen, aber mir fiel ein, dass der Duft nicht das Original sein würde. Für einen langen Moment starrte ich auf das Gehirn in meinen Händen, ich wollte es von dem starken Geruch wegwaschen, der meinen Blick störte. Mitleid fühlte ich, und trotz des Geruchs umarmte ich es, lehnte es an meine Brust, nah an mein Herz und mit dem Kopf gesenkt, bedeckte ich es mit der linken Wange.

So war ich, fast am Weinen, als die Lehrerin plötzlich ins Labor kam und blitzend rief: Was machst du da?

Der Schock war so tief, dass sich meine Arme in Panik lösten und das Gehirn auf den Boden fiel.

MUSIKDUSCHE

Zu einer Zeit, als es noch keine Radiowecker gab, wurde ich in meinen Kinderjahren dennoch nahezu täglich unsanft geweckt durch das Aktionsprogramm meines Vaters, der beim Frühstück das Radio in voller Lautstärke genoss. Und so dröhnten abwechselnd Marsch- oder Schlagermusik des örtlichen Regionalprogramms aus dem eigens im kleinen Esszimmer angebrachten Lautsprecher bis hin zu meinem Bett.

Laute Musik zum Aufwachen war das Normale – und ich ersparte mir dabei so manche Kalt-Muntermacher-Dusche am Morgen. Mein Vater brauchte es einfach, die Lautsprecher immer auf volle Fahrt voraus einzustellen, vielleicht auch deshalb, weil er beruflich seinen Schülern im Schreibmaschinen-Unterricht das richtige Tippen – wie damals üblich – im Takt der Marschmusik lehrte. Eine alte Schellack-Übungs-Schallplatte, die ich viel später gefunden habe, stellt eine wahre Rarität dar, und jede Disco müsste unverzüglich schließen, wenn sie diese Platte in voller Lautstärke durch ihre Boxen jagen würde.

Es gab aber auch Tage, an denen ich zu Beginn des allzu frühen väterlichen Morgenprogramms verärgert die Decke über meinen Kopf zog und weiterschlief. Bis dann einige Zeit später meine Mutter meist dreimal, stets etwas lauter, rief: „Zeit zum Aufstehen!“ Das wirkte eigentlich immer und ich kam auch fast nie zu spät zur Schule. Eines Tages aber verschliefen wir alle: Meine Mutter musste kein väterliches Frühstück richten und es gab auch keinen Morgenmarsch, denn mein Vater hatte einen arbeitsfreien Tag.

EINE HAND VOLL ROSINEN

Meine Freundin Anna und ich fassen den Entschluss, von zu Hause abzuhauen. Unsere Mütter sind wie üblich beschäftigt mit ihrer Hausarbeit und bemerken daher unsere Abwesenheit nicht. Wir sind beide vier Jahre alt und sehr neugierig auf die Welt da draußen. Mit Mühe können wir die große, schwere Haustür öffnen. Beschwingt gehen wir Hand in Hand durch die Allee, in der unser Haus steht, und erreichen bald eine lange, breite Straße. Es gibt viele Händler, die hier Obst oder andere Waren verkaufen. Die Verkäufer werben lautstark für ihre Waren. Rote Doppelstockbusse und gelbe Taxen fahren die Menschen in die Stadt, wohin auch immer sie wollen. Fasziniert von diesen Bildern gehen wir weiter und blicken mit großen Augen auf diese neue, wunderbare Welt, ohne zu bemerken, wie weit wir uns von zu Hause entfernt haben.

Wie lange und wie weit wir gegangen sind, wissen wir nicht. Mitten in der Stadt entdeckt uns eine Frau, die gleich bemerkt hat, dass wir ohne Begleitung sind. Sie fragt nach unseren Eltern und unserer Adresse. Doch wir wissen keine Antwort. Sie nimmt uns mit zu einer Polizeistation und übergibt uns dort den Verantwortlichen. Die Beamten fragen nach unseren Eltern. Obwohl wir begeistert von unserem Ausflug sind und auch die Anwesenheit in der Polizeistation als ein Erlebnis empfinden, versuchen sie uns zu trösten. Doch das ist keineswegs notwendig, da wir viel zu sehr damit beschäftigt sind, die neue Umgebung in uns aufzusaugen. Die Beamten sagen, dass unsere Eltern uns sicher suchen werden und geben uns eine Hand voll Rosinen. Glücklich essen wir die Rosinen, voller Genuss, als seien wir zu Hause. Kurz darauf treffen unsere besorgten Eltern ein, die uns seit Stunden gesucht haben.

Es gab keinen Ärger zu Hause. Darüber erstaunt blicken Anna und ich uns an. Ich zeige ihr eine Rosine, die ich noch in der Hand halte, wir lächeln.

DIE ALTEN HAUSREZEPTE

„Ihr Kind soll Kamillentee trinken, mit Salzwasser inhalieren und drei Mal täglich mit Salbeitee gurgeln. Und vielleicht auch eine Hühnersuppe essen. Dann sollte die fieberhafte Erkältung bald zurückgehen“, meinte unsere Hausärztin, nahm ihre große Arzttasche und verabschiedete sich. Meine Mutter fuhr mir zärtlich über den Kopf und meinte: „Das wird schon wieder. Ich koche dir gleich einen Kamillentee!“

Ich lag ermattet in meinem Krankenbett, das direkt gegenüber der Küche im kleinen Speisezimmer lag. Ich durfte es nur benutzen, wenn ich krank war, was es leichter machte, mich mit meiner in der Küche weilenden Mutter auszutauschen. Doch Kommunikation kam diesmal nicht in Frage, ich war benommen, hatte hohes Fieber, neigte zum Phantasieren, und die Essigsocken, die mir meine Mutter mehrmals täglich anlegte, engten meinen Aktionsraum noch mehr ein. Kamillentee war mir als Kind schwer erträglich, dann schon lieber russischer Tee, und am liebsten wäre mir mein Kakao gewesen, aber den gab es im Krankheitsfalle nur selten.

Besonders dramatisch wurde es aber, wenn man mir zuredete, im Krankheitsfalle zumindest einmal täglich „einen kleinen Teller“ warme Suppe zu essen. Ich hatte eigentlich überhaupt keinen Appetit und wollte nur liegen und ausruhen. Auch diesmal kam meine Mutter pünktlich zur Mittagessenszeit mit der von der Ärztin empfohlenen Hühnersuppe, die durch ihre Vitamine und andere wertvolle Inhaltsstoffe mein Immunsystem aufbauen sollte. Wenig begeistert nahm ich den Teller, ließ mir den ersten Löffel von meiner Mutter widerwillig einflößen, blies aber lange und heftig auf die heiße Suppe, sodass letztlich nur weniger als die Hälfte den Weg in meinen Mund fand. Dann begab sie sich wieder in die Küche und überließ mich meinem Schicksal. Mit schwacher Stimme rief ich ihr hinterher: „Ich kann schon alleine weiter essen!“

Nach einigen Minuten, als meine Mutter Nachschau hielt, war mein Teller tatsächlich leer. Ich stellte mich schlafend, was meine Mutter aber nicht davon abhielt, mir noch einen zweiten Suppenteller zu servieren. Am nächsten Tag, an dem es mir ein wenig besser ging, brachte sie mir wieder zwei Hühnersuppenteller zum Mittagessen, die ich zu ihrer Überraschung schnell gegessen hatte. Danach sollte ich kurz aufstehen, um mich ins Wohnzimmer zu setzen. Als meine Mutter in der Zwischenzeit mein Bett neu bezog, entfuhr ihr ein Schreckensschrei: „Mein Gott, hier in deinen Nachttopf hast du also die gute Hühnersuppe geleert!“

Seit diesem Tag, an dem mein kleines Geheimnis entdeckt worden war, wurde ich beim Suppenessen immer streng kontrolliert. Zum Glück hat jedoch niemand herausgefunden, dass zwei unserer schönsten Zimmerpflanzen in dieser Woche verwelkt waren, weil ich sie mit heißer Hühnersuppe gegossen hatte.

EISBRUCH

Über die vom tagelangen Dauerfrost erstarrten Wiesen stapfe ich auf den Fluss zu. Ein graues, kaltes Tuch spannt sich zwischen Himmel und Erde. Ich liebe den Winter, drücke schon im November meine Nase an die Fensterscheiben meines Kinderzimmers unter dem Dach und sehne mich nach Schneeflocken. Verkrusteter Schnee auf den Wiesen knirscht unter meinen Füßen. Bald erreiche ich den Fluss. Eine dicke Eisschicht bedeckt den sonst quirligen Flusslauf. Eisige Stille liegt über dem Gewässer, in dem ich im Sommer schwimme. Ich stelle mir vor, wie das Wasser unter der Eisschicht dahinströmt, und in mir erwacht ein abenteuerlicher Drang, zur Mitte des Flussbettes zu gehen. Wie in Trance setze ich meine Füße auf das Eis, das von einer Schicht Puderzuckerschnee bedeckt ist.

Es hält stand. Eine unsichtbare Energie treibt mich hinaus. Ein paar Schritte vom Ufer entfernt beginnt das Eis zu knacken. Wie gebannt bleibe ich, der Flusseroberer, erschrocken stehen. Rund um meine Schuhe perlt Wasser aus Eisritzen. Eine furchtbare Angst steigt in mir auf. Ich sehe mich unter einer dicken Eisschicht treiben, ohne Chance, je wieder nach oben zu gelangen. Neben mir schwimmen Fische.

„Leg dich langsam auf den Bauch“, höre ich meinen Großvater in mir sagen. Ich gehorche der Stimme und lege mich unendlich langsam auf das Eis, robbe zum Ufer, fasse einen Weidenast und ziehe mich auf die Böschung. Ich schaue auf den Fluss und fühle, wie der Tod mich wieder entlässt.

DIE ERZÄHLUNGEN MEINER OMA

Meine Oma ist anders als alle anderen, denn sie ist seit ihrer Kindheit blind und wurde schon immer von ihren Eltern, ihrem Ehemann und später auch von ihren Kindern betreut. Sie kommt nach unserem Umzug in unser neues Haus zu uns und wird Teil unserer Wohngemeinschaft.

Meine Oma wurde sehr jung verwitwet mit sechs Kindern. Sie ist knapp über 50 Jahre alt, mollig, hat lange dünne Haare, die mit Henna gefärbt sind. Ihr Gesicht ist rund, freundlich, mit einer schönen rosigen Haut. Trotz ihrer Blindheit ist meine Oma ein humorvoller Mensch. Sie erzählt uns oft Geschichten, Sagen, Fabeln oder auch Märchen, die sehr lebendig sind, und entführt uns in eine andere Welt.

Ihre Geschichten fangen immer spannend an: „Es war einmal ein sehr geiziger Mann in einem kleinen Dorf. Er sparte sein ganzes Vermögen und versteckte es in einem großen Koffer unter dem Dach. Jeden Abend schaute er mit Genugtuung seinen Reichtum an und ging dann mit tiefer Zufriedenheit schlafen.

In dem Dorf kam es zu einer Dürre und Trockenheit. Es hatte so lange nicht geregnet, dass die Ernte zum Leben nicht reichte. Die Menschen suchten verzweifelt den Mann auf in der Hoffnung, dass er sie mit einem kleinen Betrag unterstützen konnte. Dies taten sie, um sich damit in der Nachbarschaft etwas zum Essen besorgen zu können. Der geizige Mann sagte: „Nein, ich gebe euch kein Geld, da ich nicht sicher bin, das Geld wieder zurückzubekommen“. Für sich selbst kaufte er gutes Essen und freute sich über seine Klugheit und seinen Reichtum. Seine Nachbarn hungerten, und er war nicht bereit, ihnen unter die Arme zu greifen.

Im Winter machte er sich ein Feuer an, um sich zu wärmen. In dieser Nacht fiel er in einen tiefen Schlaf und bemerkte nicht, wie sich das Feuer im ganzen Haus verbreitete. Er konnte sich nicht mehr retten, und niemand hörte seine Hilferufe. Von seinem Haus blieb nichts als Asche übrig. Die Nachbarn waren entsetzt und fragten sich, ob er seinen Reichtum wohl in die Hölle mitgenommen hätte, damit es niemandem besser gehen konnte als ihm selbst.“

SAUERKRAUT

Zweifellos bemühte sich meine Mutter immer, mir ein gesundes Essen vorzusetzen. Beim Sauerkraut, das sie mit vielen Gewürzen weichkochen ließ, war das aber gar nicht so einfach. Das Wichtigste in ihrem alten Rezept war nämlich, neben Zwiebeln auch viel Schmalz zu verwenden, umso besser schmeckte es angeblich. Damals war Schmalz noch ein üblicherweise verwendetes Kochfett. Meine Mutter setzte es sparsam ein und achtete darauf, das Sauerkraut regelmäßig umzurühren, damit alles gleichermaßen fein kochen konnte.

Als wieder einmal Sauerkraut mit Knödeln aufgetischt wurde, sagte ich nach einem kleinen Bissen: „Bei der Juli-Tante hat es mir aber viel besser geschmeckt!“ Ich aß nur widerwillig weiter. Am Vortag hatte die Tante mir ein schon sehr braun gebranntes, etliche Male aufgewärmtes Sauerkraut zum Probieren gegeben. Das schmeckte mir ausgezeichnet, besonders die schwarze Kruste, die ich aus dem Topf kratzte, fand ich einfach himmlisch! So habe ich schon als Kind das ungesunde Essen dem gesunden vorgezogen. Und meine Mutter war an diesem Nachmittag ein bisschen traurig.

EINGEWEIDE DER DUNKELHEIT

Ins Bett zu gehen bedeutete für mich, reglos dazuliegen, damit meine Arme, Knie oder Füße nicht an die Kante rutschen konnten. Unter dem Bett befanden sich nämlich ein unendlich dunkler Abgrund und ein großes Krokodil, das mich verschlingen konnte. Es schlief ebenso so regungslos wie ich. Der harte Schuppenpanzer erstreckte sich über seinen gesamten Rumpf, den Schwanz und die Extremitäten. Sein Körper war mit festen Schuppen übersät, es sah aus wie ein rotäugiger Drache. Ich wollte nicht von einem rotäugigen Drachen in die Tiefe der Dunkelheit gezogen werden, aus der ich womöglich nie zurückkäme. Ich erkannte, dass die Dunkelheit die Macht hatte, Dinge zu transformieren, Monster und unheimliche Geräusche zu erzeugen. Tagsüber existierte nichts davon, unter dem Bett befanden sich nur meine Hausschuhe und ganz hinten die Fußleiste. Der Parkettboden glänzte im Licht. Aber nachts in der Dunkelheit war dies die Höhle des Monsters. Ich konnte nur noch in der Mitte des Bettes schlafen, und als ich einmal von der Nässe meines Urins aufwachte, wagte ich nicht, aufzustehen. Mein Schlafanzug war nass und kalt, doch ich durfte mich nicht aufrichten, denn das Krokodil würde mich an den Beinen nach unten ziehen. Lange verharrten wir so, ich bewegungslos in der Mitte des Bettes, das Krokodil darunter.

GLASWAND

Wo seid ihr? Das Bettlaken durchgeschwitzt. Fieberfantasien in mir. Sehnsucht nach Wärme trotz heißer Haut. Mein Kopf schmerzt. Trübe meine Augen, verschwommen das Krankenzimmer. Ganz schwach pfeift meine Lunge bei jedem Atemzug. Diese furchtbare Einsamkeit. Nur mein Teddy bei mir. Wo sind Mama, Papa? Ich brauche euch doch bei diesem hohen Fieber, einsam im Krankenzimmer. Nur weiße Kittel kommen ab und zu zu mir, sie sind kalt. Endlich sehe ich dich, Mama, draußen hinter der dicken Glasscheibe. Ich taumele aus dem Bett, presse meine Händchen und meine Nase an das kalte Glas, spüre meinen Herzschlag. Deine Hand auf der anderen Seite. Und die kühle Scheibe zwischen unserer Haut. Neben dir ein böse blickender Weißkittel. Er lässt dich nicht zu mir. Stimmt‘s? Will in den Arm genommen werden. Ich kann nicht weinen vor Schmerz. Kinder brauchen Nähe. Das muss doch auch der Weißkittel wissen. Deine Tränen tropfen auf deine Hand. Jetzt hältst du mich in Gedanken im Arm. Die Glasscheibe trennt nicht mehr. Ich spüre deine Wärme durch das Glas. Die Angst weicht. Ein kleines bisschen davon nehme ich mit ins Altwerden.

PRIMELWIESE

Zweifellos waren die Wintermonate meiner Kinderzeit wesentlich kälter und schneereicher, der Frühling zeigte sich frühestens Mitte März mit den ersten frühblühenden Pflanzen. Leider gab es damals auf unserem Gartenrasen nur wenige Wiesenblumen, er sah nach der Winterzeit immer sehr traurig aus.

Einer der ersten Frühlingsboten ist die Primel, ihr monatelanges Blühen verbreitet große Freude. So schlug mir mein Großvater eines Tages einen Ausflug zu den nahen Waldwiesen vor, auf denen gelbe Primeln und auch die verwandten Himmelschlüssel in großer Zahl blühten. Wir versorgten uns mit kleinen Stoffsäcken und Messern und spazierten damit zur nahen Waldlichtung. Dort gruben wir zwei oder drei Primelstöcke aus und pflanzten sie dann in unseren eigenen Garten.

Zuvor galt es noch, diverse Unkräuter mit bloßen Händen auszureißen, manche wie den Löwenzahn mussten wir auch mit einem Werkzeug ausstechen. Eine Spezialität meines Großvaters war es auch, den steinigen Weingartenboden mit kräftigem Mist zu düngen. Jedem Pferdekarren, der an unserem Garten vorbeifuhr, lief er hinterher, um die frischen Pferdeäpfel einzusammeln und sie zum Kompostbeet zu bringen.

Nach einigen unserer Waldrunden zeigten sich in den folgenden Jahren immer mehr Primelgewächse als Bodendecker in unserem Garten. Mein Großvater, der eigentlich Tischler war, hatte als Hobbygärtner ein goldenes Händchen. Auch das Veredeln von Rosen und Bäumen zählte zu seinen Lieblingstätigkeiten. Später strahlten dann Primeln und die unterschiedlichsten Rosensorten in unserem Garten um die Wette. Unsere Nachbarin aber zeigte sich jedes Jahr aufs Neue höchst erstaunt darüber, wie es zu der wundersamen Blütenvermehrung in unserem Garten gekommen war.

DAS WEIßE DES UNIVERSUMS

In Kinderzeichnungen haben die Bäume meist keine Wurzeln, aber meine hatten welche. Warum die anderen Kinder in der Schule wurzellose Bäume malten, weiß ich nicht. Meine hatten Zweige, Blätter, Früchte und Blüten. Ich hatte viele Buntstifte und zeichnete gern eine Art Watte, die die Blätter darstellen sollte. Aber meine Bäume hatten immer auch dicke oder dünne gewundene Wurzeln. Wenn ich Früchte zeichnete, mussten sie rund sein, was einfacher war, und der Baum musste ein Orangenbaum oder Apfelbaum sein. Einmal habe ich auch einen Birnbaum gemalt, die Birnen sahen aus wie hängende Fische. Da es keine Fischbäume gibt, habe ich nie mehr einen Birnbaum gemalt. Die Lehrerin interessierte sich sehr für die Wurzeln meiner Bäume. Für sie bedeutete der Baum mit seinen offenliegenden Wurzeln einen Mangel an Schutz, und sie lass meine Eltern rufen. Sie glaubte, dass es mir als Kind an Sicherheit und Vertrauen in der Familie mangelte. Ich glaube, dass die Wurzeln meiner Bäume genauso feststanden wie das Haus, die Sonne, die Blumen und die Menschen, die aus feinen Strichen gemacht waren. Alles war gefangen und gefärbt im Weiß des Universums auf Papier.

DIE SPRACHE DER FREUNDSCHAFT

Es ist mein erster Schultag. Meine Mama weckt mich sehr früh und hilft mir bei den Vorbereitungen. Ich gehe allein zur Schule und bemerke ein Mädchen in meinem Alter, das mir folgt. Ich gehe langsamer, um ihr Gelegenheit zu geben, mich zu überholen. Als wir auf gleicher Höhe sind, schauen wir uns flüchtig, aber auch neugierig mit einem kleinen Lächeln an. Wir passen unser Tempo so an, dass wir in einem kleinen Spiel gegenseitig wie unser Spiegelbild erscheinen. Sie wird rot, ihr Gesicht verrät mir bei jedem unserer Blickkontakte, dass sie schüchtern ist. Doch trotz unseres Schweigens sprechen unsere Blicke eine eigene Sprache. Es ist ein Spiel der versteckten Sprache der Freundschaft, noch nicht aufgeblüht, doch deutlich spürbar ist diese neue Knospe in unserer inneren Heimat.

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