Kitabı oku: «LebensLichtSpuren», sayfa 4

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WIE GROß IST DAS MEER?

Heute werde ich zum ersten Mal in meinem Leben das Meer sehen. Ungeduldig und aufgeregt warte ich auf den ersten Anblick. Ich frage meinem Vater, der ruhig neben mir im Bus sitzt, wie groß ein Meer sein kann, er antwortet: „Sehr groß“. Ich kann mir keinen Reim über die wahre Größe des Meeres machen. Als wir unterwegs einen Fluss sehen, frage ich eifrig, ob wir angekommen seien, ob dies das Meer sei. Mein Vater lächelt, küsst mich sanft auf die Wange und sagt: „Nein, das Meer ist viel größer als ein Fluss. Du musst dir vorstellen, dass im Meer Millionen Fische schwimmen.“ Ich quäle mich, weil ich keine richtige Vorstellung vom Meer habe. Unruhig frage ich: „Wie groß kann eigentlich ein Meer sein? Wohin fließt das ganze Wasser, und wie können so viele Tiere in das Meer passen?“

Endlich erreichen wir das Meer. Soweit das Auge reicht, gibt es keine Erde mehr, nur Wasser. Am Horizont vermischen sich Himmel und Meer, als ob die Erde vom Wasser verschlungen wäre. Der Anblick macht mir Angst. Mir kommt es so vor, als ob ein Riese vor uns säße, der mit einer unheimlichen Kraft alles Lebendige verschlingt. Erst jetzt erfahre ich wie winzig klein ich bin und frage mich: Wenn das Meer so groß ist, wie groß ist dann erst unsere Erde?

MÄUSERETTEN

Jedes Jahr im Frühjahr und Herbst tritt der nahe Fluss über die Ufer, so, als sei ihm sein Bett zu eng, als sehne er sich nach Weite. Die Hechte nutzen das Hochwasser, um ihren Laich in den Mulden der Wiesen abzulegen, nicht ahnend, dass das Wasser wieder in sein Bett zurückfließen wird. Uns Kinder fasziniert das Naturschauspiel. Wo sonst Kühe und Schafe sattes Gras weiden, breitet sich vor unseren Augen im ganzen Tal eine gräuliche Wasserfläche aus, vom Westwind gekräuselt. Für die Wiesenmäuse eine Katastrophe. Panisch verlassen sie ihre mühsam gegrabenen Gänge, retten sich auf die Holzpfosten der Weidezäune. Darauf haben wir gewartet. Vom Jagdfieber erregt, stapfen wir mit alten Zigarrenkisten unterm Arm in Gummistiefeln durch das Wasser zu den Rettungsinseln der Mäuse, sammeln die piepsenden Tiere an den Schwänzen ein. In der nebligen Abenddämmerung entlassen wir unsere Gefangenen in die Kellerfenster der Häuser von Bauern, die sich uns gegenüber beim Spielen im Sommer böse verhalten haben; zum Beispiel, wenn ein Ball über den Zaun hinweg in den Bauerngarten geraten war und der Bauer das Spielzeug wütend einbehielt. Die unschuldigen Mäuse sind unsere kindliche Rache.

BÜCHER

Ungeduldig warte ich auf meinen Vater an der Tür, denn heute bringt er mir ein neues Buch. Allein durch das Berühren eines Buches werden alle meine Sinne erweckt, das Sehen, Riechen, Schmecken, Hören und Ertasten. Durch diese sinnliche Wahrnehmung wird der Hunger meines Geistes gestillt.

Beim Anblick eines Buches erweitern sich die magischen Bilder meiner Fantasie. Der faszinierende Geruch eines Buches verkündet den Duft der Bäume. Die Wörter schmecken süß, und ich höre eine leise Melodie bei dem Lesen des Titels. Kein Spielzeug der Welt oder auch das Spielen mit Gleichgesinnten können mir so viel Glück schenken wie ein schönes Kinderbuch. Denn die Bücher selbst werden zu einem Spielzeug, wenn sie mich zum Träumen einladen.

LACHEN ODER WEINEN

Tödlich getroffen im karstigen Gebirge, gestützt von seinem Blutsbruder, schweiften seine Gedanken noch einmal in die Vergangenheit, hin zum Silbersee und zum Beginn ihrer jahrelangen Freundschaft, die auch mich immer wieder mit ganzer Leidenschaft in den Bann gezogen hatte.

„Winnetous Seele muss gehen. Winnetou ist bereit. Leb wohl …“

Als man durch die Kinolautsprecher deutlich die Sterbeglocken von Santa Fe vernehmen konnte, kommentierte ich mit meinem Schulfreund das doch allzu pathetische Ende unseres Leinwandidols.

„Requiem im Dom!“, sagte mein Freund.

„Gleich tragen sie ihn hinaus auf den Zentralfriedhof!“, fügte ich hinzu – und dann konnten wir unser bislang unterdrücktes Lachen kaum mehr für uns behalten. Winnetous treuer Rappe wieherte zum Abschied, und die Dame in der Reihe vor uns drehte sich fürsorglich um und meinte mit wässriger Stimme: „Ihr braucht nicht zu weinen, sein Tod ist ja nur im Film, sie werden bald wieder gemeinsam einen neuen Film drehen!“

„Ja!“, platzten wir lachend-weinend im Chor heraus, sahen uns kurz an und mussten dann heftig weiterlachen. Dieses Erlebnis, das ich mit dreizehn Jahren hatte, prägte mich für mein weiteres Leben. Ich wusste seitdem, dass sich ein tiefes, den ganzen Körper berührendes, tränenauslösendes Lachen genauso anhört wie ein trauriges Schluchzen und Weinen. Meine damals gewonnene Erkenntnis half mir auch an jenem bitterkalten Wintertag, als ich mit meinem Großvater einen stark vereisten Platz überqueren musste, um zum großen Weihnachtsmarkt zu gelangen. Es war nahezu ein unmögliches Unterfangen! Einmal, zweimal, nein, dreimal riss es ihm förmlich die Füße vom Boden und er lag auf der eisigen Straße.

Es sah sehr komisch für mich aus und ich musste jedes Mal auflachen, wenn mein Großvater einen weiteren Sturzflug machte. Er aber beruhigte mich lächelnd: „Ist nichts passiert, du brauchst nicht zu weinen!“

Da hatte ich an diesem Tag doppeltes Glück, denn mein Lachen war mir recht peinlich gewesen. Und irgendwie liebte ich doch meinen Großvater noch mehr als diesen Winnetou.

SCHLÄGE

Ich liebe den Keller unseres Hauses. Er ist mein Zufluchtsort, wenn ich Schläge vom Vater oder vom Großvater einstecken muss. Meine Mutter weint dann mehr als ich. Ich werde von Schlag zu Schlag verbitterter, wütender, giere aber auch nach Freiheit. Unter dem Haus fühle ich mich sicher wegen der vielen Verstecke, in denen ich meine kindliche Fantasie auslebe. Mein Großvater reißt mich oft aus den Armen meiner Mutter, wenn ich etwas angestellt habe, und verprügelt mich brutal. Wahrscheinlich gibt er die Schläge seiner Kindheit an mich weiter. Ich habe Angst vor ihm. Mein Vater schlägt mich auch, aber nie fest, weil er unsicher ist, nicht mit mir fertig wird. Durch seine Schläge spüre ich noch seine Liebe.

An einem Ferientag spiele ich wieder im Keller. Im Vorratsraum steht ein Steinfass mit Kleie für die Hühner. Es raschelt im Fass. Eine Maus ist darin, versucht panisch, an der glatten Wand des Fasses hochzuklettern. Sie sieht putzig aus mit ihren runden Miniaturaugen und den feinen Barthaaren. Mir ist, als bäte sie mich um Hilfe. Großvaters feste Schritte nähern sich. Ich erstarre. „Was treibst du dich hier wieder rum?“, tönt er, als er mich sieht. Sein Blick erfasst die hilflose Maus, und mit klobiger Hand versucht er sie zu fangen. Wie in Trance beginne ich zu schreien. „Lass sie frei, lass sie frei!“, brülle ich und trommele mit den Fäusten gegen die Beine meines Großvaters. „Weg da, du Lümmel!“, posaunt er und stößt mich weg, so dass ich auf den Steinboden fliege. Ich gebe nicht auf, schreie um so lauter. Mutter erscheint auf der Kellertreppe mit ängstlichen Augen. Einen Moment trifft mein verzweifelter Blick auf den meines Großvaters. Er hält die Maus in der Hand, will sie erschlagen. Doch mein Blick erweicht ihn. Er öffnet die Kellertür und lässt die Maus in den Hof entkommen. Ich habe ihn und seine Schläge besiegt.

KORREKTURLESEN

Solange ich mich erinnern kann, sitzt mein Vater an einem kleinen Tisch und schreibt. Er schreibt Artikel für Zeitschriften, Wochenzeitungen oder auch seine eigenen Bücher.

Meine älteren Geschwister helfen meinem Vater beim Korrekturlesen. Wenn ich in die vierte Klasse komme, wird auch mir diese Aufgabe zugeteilt. Das Lesen schwieriger Texte ist am Anfang sehr mühselig. Obwohl ich beim Lesen kein Wort verstehe, bin ich fasziniert von der Macht der Wörter. Denn gemeinsam schaffen sie es, etwas auszudrücken. Die Ausdrücke bilden Sätze, und diese Sätze lassen ein ganzes Buch entstehen. Bald lese ich die Texte eifrig und träume sogar oft von ihnen. Die Wörter tanzen vor meinen Augen und ich versuche, ihre Plätze spielerisch zu vertauschen, um dem Satz eine neue Bedeutung zu verleihen. Manchmal male ich die Buchstaben mit bunten Farben, dann werden die Worte lebendig.

MIT EINEM RIESEN SPIELEN

Bei meiner Taufe, als ich zwei Jahre alt war, betrat ich dieses riesige Haus. „Das ist das Haus Gottes!“, sagte meine Mutter. Ich schaute auf die hohe Decke und dachte, Gott sei sicher ein sehr großer Mann, ein Riese. Und warum diese Bänke? „Gott erhält viele Besuche“, erklärte meine Mutter. Also war er ein netter Mann, und bald stellte ich mir vor, wie er sich bückte, um mit mir zu spielen.

„Wo ist er?“, wollte ich wissen, damit wir so schnell wie möglich spielen konnten. Ich hatte noch nie mit einem Riesen gespielt!

„Überall“, antwortete meine Mutter. Aber das war keine Antwort für mich. Ich verstand nicht, was das bedeuten sollte und kam zu dem Schluss, dass Gott wie mein Vater war, der zur Arbeit ging und den ganzen Tag von zu Hause weg war. Und wir gingen in eine Ecke der Kirche, wo der Priester kaltes Wasser über meinen Kopf fließen ließ. Wenn ich meiner Schwester Wasser auf den Kopf gießen würde, hätte man mit mir geschimpft. Aber hier goss der Priester Wasser auf meinen Kopf, und keiner der Erwachsenen sagte etwas. Sie machten ernste Gesichter und der Priester sprach unverständliche Dinge. Ich wollte auf dem Schoß meiner Mutter sitzen und nicht auf dem meiner Patin, und mein Vater sah bedeutsam zu meiner Mutter hin. Als Rettung hatte ich bloß meinen Schnuller. Ich fing an, ihn in meinem Mund zu drehen und am Gummi zu kauen und sehnte mich danach, zu wissen, wann Gott endlich nach Hause kommen würde.

STILLZEIT

Nachmittagssonne durchflutet den Bauernhof. Über dem Misthaufen tanzen hunderte Fliegen und Mücken im orangefarbenen Licht. Wie wohl ich mich an Mutters Hand fühle, die leere Milchkanne in der anderen. Die schwüle Sommerluft schwanger mit dem Geruch aus den Ställen. Ich reiße mich von Mutter los, stürme in den Kuhstall. Schwalben zischen über meinem Kopf. Ich spüre den zarten Hauch ihrer Flügel über meine Haare streichen. Drinnen sitzt die Bäuerin auf einem Schemel, ein Tuch um den Kopf gebunden, die Stirn am warmen Kuhbauch. Meine kleine Seele lächelt ihr zu. Sie liebt mich, weil sie selbst keine Kinder bekommen konnte. „Komm zu mir!“, ruft sie, umarmt mich, als ich bei ihr stehe, die Schuhe voller Gülle. Wie immer nimmt sie mich auf den Schoß. Sie riecht wie die Kühe. Wie ich das genieße, in mich einsauge. Ich schmiege mich an sie, lege meinen Kopf in ihren Arm, schließe die Augen, öffne meinen Mund. Sie spritzt mir frische Milch aus der Euterzitze in den Mund. Nie werde ich das vergessen, dieses Kitzeln im Hals, den warmen Kuhgeschmack und -geruch, die Zärtlichkeit der Bäuerin. Mutter steht neben uns und lacht.

MEINE LIEBLINGSMÄRCHEN

„Nun kam Johannes an die Reihe, er stieg auf sein Pferdchen und es ging …“

„trapp trapp trapp trapp trapp“, unterbrach ich meine Mutter.

„… und schon waren sie oben auf dem Berg, und nochmals …“ „trapp trapp trapp trapp trapp“, setzte ich fort. „Und sie waren dreimal um das Schloss herum, als ob Johannes´ Pferd schon unzählige Male den gefährlichen Weg gelaufen wäre. Die wunderschöne Prinzessin kam heraus, umarmte Johannes und erkannte ihr entlaufenes Pferd. Johannes und die Prinzessin lebten von nun an glücklich und zufrieden auf dem Zauberschloss des gläsernen Berges …“

„Noch einmal Mama, noch einmal!“, rief ich und wollte absolut nicht schlafen gehen. Das Märchen über den Kaufmann, der drei Söhne hatte, von denen gerade der Jüngste wachend in der Nacht ein Pferd als Hirsedieb entlarvte und schließlich mit ihm die Bergprinzessin erlöste, konnte ich einfach immer wieder hören. Und an manchen Abenden musste meine Mutter das Bechstein-Märchen bestimmt drei- oder viermal erzählen. So heftig bettelte ich übrigens auch bei meinem Vater, der eigentlich gar keine Märchen erzählte. Dafür aber die Geschichte über einen ängstlichen Mann, der sich so sehr gefürchtet hatte, dass er sich mit der eigenen Pistole, die sicherheitshalber stets griffbereit unter seinem Polster lag, in den Fuß schoss, da er diesen, als er sich im Bett bewegte, für einen Einbrecher gehalten hatte. So begleiteten mich die vertrauten Geschichten meiner Eltern immer zur guten Nacht, und ich konnte danach tief und glücklich an die zehn Stunden durchschlafen. Heutzutage gelingt mir das nicht einmal mit zwei Schlaftabletten.


AUFWACHEN

Aufgewachsen bin ich in einem Beamtenhaus mit vielen Vorschriften, doch in mir keimte schon früh ein Freiheitswille, der jedoch bis zum Schulabschluss versteckt bleiben musste. Einem rohen Ei gleich, beginne ich eine kaufmännische Lehre im Binnenhafen, ich getraue mich nicht viel. Wie ein Schleier umfängt mich der Anpassungsdruck durch Vater und Großvater. Ich habe großes Glück, meinen Kollegen kennen zu lernen, in dessen Abteilung ich meine Lehrlingstätigkeit beginne. Er ist äußerst gebildet und ahnt wohl meinen Wissendurst jenseits des Beamtendenkens, denn er verstrickt mich immer mehr in Diskussionen über Moral, Kapitalismus, Demonstrationen, Naturzerstörung und über die Verantwortung, die nach seiner Ansicht jeder zu übernehmen habe, um die Gesellschaft demokratisch voranzubringen.

Er bezieht ein intellektuelles Politmagazin, liest mir im Büro oft Artikel vor und wir diskutieren eifrig über dieses und jenes, und ganz langsam erschließt sich mir ein neuer Horizont. Es ist wie ein Aufwachen. Vor allem im Winter haben wir ungeahnte kommunikative Freiräume, da der Binnenschiffsverkehr mit Baumaterialen weitgehend zum Erliegen kommt. Wenn ich meinem Kollegen nicht begegnet wäre, würde ich sicher immer noch verletzlich wie ein rohes Ei leben. Doch als mich später die Studentenrevolte erfasst, weiß ich, wer Pate gestanden hat.

AUF DEM SCHULHOF

Morgens vor Unterrichtsbeginn ist es üblich, aufgereiht im Schulhof zu stehen. Dann wird die Nationalhymne unseres Landes, welche gleichzeitig ein Lobgesang für den König ist, gesungen. Unsere Schulrektorin, eine kleine korpulente Frau Ende vierzig, geht mit düsterem Gesicht wie ein Monster über den Schulhof, sie verbreitet mit ihrem Erscheinen Angst und Unbehagen. Kein Lächeln, keine freundliche Begegnung kann man von ihr erwarten. Mit einem langen Stock läuft sie herum, damit wir ihre Sprache besser verstehen. Am Ende jeden Monats erinnert sie die Schülerinnen über einen Lautsprecher an die Schulden ihrer Eltern, die noch zu begleichen sind. In unserer Schule mit etwa 200 Schülerinnen, von welchen die meisten aus der Mittelschicht stammen, gibt es auch einige Mädchen aus ärmeren Verhältnissen. Um sie für die Schule anzumelden, müssen die Eltern hohe Gebühren zahlen. Es gab zum einen die Möglichkeit, zu Schuljahresbeginn die gesamte Summe zu begleichen oder diese in monatlichen Raten zu bezahlen.

Eines Tages soll nach der morgendlichen Zeremonie eine Mitschülerin, deren Vater als Hilfsarbeiter bei der Busgesellschaft in der Hauptstadt arbeitet, hervortreten. Wir stehen alle noch aufgereiht im Schulhof. Das zarte Mädchen, ärmlich gekleidet, geht mit gesenktem Kopf nach vorne. Die Schulleiterin nimmt ihren Stock und schlägt gnadenlos auf sie ein. Das Mädchen weint still und schaut auf dem Boden. Die Schulrektorin schlägt unaufhaltsam weiter, sie möchte das Mädchen vor uns erniedrigen. Das Mädchen steht hingegen tapfer da und trägt mit Würde die Last ihrer Armut auf den Schultern, für die sie ebenso wenig kann wie ihre Eltern. In unseren Augen verliert die Schulrektorin gerade ihre letzten menschlichen Züge.

FLUG ÜBER DAS TOR

„Komm, Papa, vielleicht funktioniert es, wenn wir uns gleichzeitig gegen das Tor stemmen … probieren wir es mit Anlauf!“ Gesagt, getan. Wir gingen ein paar Schritte zurück und warfen uns mit aller Wucht gegen das Tor. Doch es bewegte sich keinen Zentimeter. Der Schnee, den ein Schneepflug vor unserem Gartentor aufgeschüttet hatte und der sich nun als vereister Block außerhalb wie auch innerhalb des Gitters fast einen Meter hoch auftürmte, war einfach nicht zu überwinden.

„Ich glaube, wir müssen unverrichteter Dinge wieder heimfahren!“, meinte mein Vater resignierend. Dabei hatte ich mir diesen Winter-Ferientag so schön vorgestellt. Mein Vater wollte nachschauen, ob der strenge Winter im Garten oder am Haus Schäden angerichtet hatte, und ich freute mich auf ein paar schöne Stunden im Schnee, wobei ich einen Schneemann bauen wollte. Nach einem Augenblick der Verzweiflung hatte ich eine Idee: „Papa, du könntest mich über den Zaun werfen, und ich versuche dann von innen das Tor freizubekommen!“

Mein Vater zögerte kurz, vielleicht hatte er Angst, dass ich es von der anderen Seite auch nicht schaffen würde, aber dann willigte er ein, machte eine Räuberleiter und ich stieg von hier aus auf seine Schultern. So packte er mich und schubste mich mit Schwung über das Tor. Und ich genoss den freien Flug durch die Luft … und landete weich im unberührten Tiefschnee.

Mit den Händen in meinen warmen Winterfäustlingen buddelte ich den Schnee zur Seite. Zunächst ging das auch ganz leicht und machte mir durchaus auch Spaß. Dann aber geriet ich an die aufgeschüttete Eisschicht und musste immer und immer wieder kräftig gegen den harten Schnee treten, bis sich nach unzähligen Versuchen endlich etwas rührte. Mein Vater, der die ganze Zeit über von außen kräftig gegen das Tor drückte, hatte Erfolg, das Tor bewegte sich nun. Nach und nach schafften wir gemeinsam einen so großen Türspalt, dass auch mein Vater in den Garten eintreten konnte. Als dieser schöne, abenteuerliche Wintertag zu Ende ging, wollten wir meiner Mutter lieber nichts von meiner Gartentor-Flug-Bezwingung erzählen. Sie wunderte sich nämlich sehr über meine zerkratzten neuen Stiefel.

GITTER DES TAGES

Mehrmals täglich ging ich auf die Toilette, kletterte auf die Kloschüssel und erreichte so das schmale Fenster oben in der Wand. Der Wind fuhr über mein Gesicht und ich sah den Himmel, die Dächer der Häuser und den Platz, der vor der Schule lag. Er war so nah, aber unerreichbar! Im Gefängnis führte eine Treppe bis zu einem fensterlosen Raum, in dem acht Tische Platz fanden. Der Flur erstreckte sich bis zu einer kleinen Küche, am Ende waren die beiden Toilettentüren: für Männer und Frauen. Seitlich der Treppe befanden sich im breiten Korridor zwei Tische, einer für den Leiter der Buchhaltung, der andere für seine Sekretärin. Im vorderen Bereich gab es den einzigen Raum mit einem Fenster, der zur Begrüßung von Gästen genutzt wurde, die aber nur selten erschienen. Die zwölf Angestellten an den Tischen mussten Belege addieren und subtrahieren, Bilanzen machen und auf der Schreibmaschine schreiben. Ich stand oft auf, um auf die Toilette zu gehen. Dann warf ich einen Blick auf den Platz, wo meine Freundin und ich auf einem kleinen Hügel gestanden hatten, um uns Gedichte vorzulesen, die wir selbst geschrieben hatten.

Der Baum gab sein Rascheln und seinen Schatten dazu. Ich war fünfzehn Jahre alt und gefangen in diesem Kerker, ich durfte draußen keine Gedichte mehr lesen. Ich sollte acht Stunden am Tag rechnen, und abends ging ich in die Schule. Meine Arbeitskollegen fühlten sich nicht so eingesperrt wie ich, aber sie schrieben auch keine Gedichte und zeichneten keine Bilder. Ich ging immer wieder auf die Toilette, um das Fenster aufzusuchen wie eine Fliege, die dem Licht folgt und der Freiheit und dabei gegen eine unsichtbare Barriere stößt.

LIEBLINGSSCHRIFTSTELLER

Es gibt einen Autor, der fasziniert mich. Ich habe ihm zwei Jahre meiner Jugend geschenkt. In meinem 16. und 17. Lebensjahr habe ich alles von ihm gelesen, komplett; Gedichte, Dramen, Theaterkritiken. Ich bin wie besessen, berauscht von ihm und vernachlässige dabei mein eigenes Jungsein. Was zieht mich eigentlich so an? Vielleicht seine Einsicht: das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Ich habe aufgegeben, gegen diesen Rausch anzukämpfen, obwohl er mich auch gelehrt hat: wer nicht kämpft, hat schon verloren. Ich glaube, es sind vor allem seine Gedichte, die eine unglaubliche analytische Tiefe haben, auch wenn sie nur ein paar Verse umfassen. Seine Dichtkunst bringt alles auf den Punkt und ist doch voller Poesie. Ja, ich liebe es auch, zu verdichten, eine ganze Weltanschauung in fünf Zeilen zum Leben zu erwecken. Manchmal werde ich ihm allerdings untreu, meine Poesie sucht neben aller intellektuellen Erkenntnis und politischem Drang auch die Liebe und das Glück. Ganz verschämt lese ich jetzt abwechselnd Friedrich Schiller und Nikos Kazantzakis, und so wachsen zwei literarische Vorbilder in mir, bevor ich erwachsen werde.

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