Kitabı oku: «Das Rascheln des Präriegrases», sayfa 2

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Wir setzten unseren Weg durch die endlose Weite der Prärie fort. Die Sonne war längst am Horizont verschwunden, und es wurde schnell dunkel.

Ich dachte an meine Tante. Ich kannte sie eigentlich nicht. Ich hatte sie ein paar Mal gesehen, doch das letzte Mal war schon lange her. Ich konnte mich kaum an sie erinnern. Ich hatte in den Fotoalben meiner Mutter ein Foto von ihr gesucht, bevor ich abgereist war. Ich nahm ein kleines Papierstück aus meiner Hosentasche, faltete es auseinander und betrachtete eine junge Frau, die mich abenteuerlustig und voller Energie anschaute. Sie stand auf einem Hügel, hatte die Arme ausgebreitet und strahlte über das ganze Gesicht. Auf dem Rücken trug sie einen grossen Tramperrucksack, der Wind wehte ihr die langen braunen Haare ins Gesicht und hinter ihr breitete sich eine weite karge Landschaft aus. Ich fuhr über das Foto, drehte es um und versuchte, die unleserliche Schrift zu entziffern. Pine Ridge Indian Reservation 1999.

Da war Tante Jul etwa fünfundzwanzig Jahre alt und ich gerade mal drei. Das war ein Drama gewesen. Als Jul alleine nach Amerika in ein Indianerreservat reiste und sich in einen Indianer verliebte und nicht mehr zurückkam. Ihre Eltern waren schockiert, doch sie konnten nichts machen. Jul hatte ihre grosse Liebe und ihre Heimat gefunden. Sie blieb dort und ist seither nur für ein, zwei Besuche nach Hause zurückgekehrt. Ihre Eltern unterstützten sie von da an nicht mehr, doch Jul hatte die Ausbildung zur Lehrerin in der Schweiz abgeschlossen und fand hier Arbeit. Sie heiratete Bill, bekam drei Kinder und lebte auf einem Hof inmitten der Prärie. Das war alles, was ich wusste.

Ich hatte sie immer heimlich bewundert, dass sie ihrer Heimat den Rücken gekehrt hatte, um sich in einer ganz anderen Welt niederzulassen. Ich bewunderte sie für ihren Mut und die Kraft, sich ihrer Familie zu widersetzen, um ihren Traum zu leben und nicht nach den Vorstellungen der Eltern. Meine Mutter, ihre ältere Schwester, hatte diese Entscheidung nie verstanden. Aber ich glaube, insgeheim bewunderte sie ihre kleine Schwester ebenfalls, aber würde es nie zugeben.

«Zeig mal! Wer ist das auf dem Foto?», fragte Liam.

«Ich muss dich leider enttäuschen, wenn du gedacht hast, es wäre mein Freund. Es ist Tante Jul.»

Liam betrachtete die Fotografie. «Eine eindrucksvolle Aufnahme!»

«Ja, das war 1999, als sie das erste Mal im Reservat war.»

«Deine Tante ist schon lange hier. Womöglich kennt sie das Leben hier besser als ich.»

«Hat sie sich sehr verändert?»

«Was?»

«Ich meine Tante Jul von diesem Foto zu heute?»

«Ach so. Nein, ich denke nicht. Ich meine, klar hat sie sich verändert, aber sie ist immer noch die Gleiche geblieben. Sie ist eine wirklich tolle Frau!»

«Hmmm …»

«Du musst dir keine Sorgen machen. Du wirst sie mögen, und sie wird dich mögen. Alle freuen sich auf dich!»

«Wenn du meinst.» So schnell konnte mich Liam nicht überzeugen. Meine Gedanken schwirrten zurück in die Schweiz.

Es ging mir einfach nicht in den Kopf, wieso meine Eltern mich zu Tante Jul schickten. Sie verstanden sich überhaupt nicht. Meine Mutter hatte praktisch keinen Kontakt mehr zu ihr, oder täuschte ich mich? Vielleicht dachten sie, ich passe gut hier her, weil ich auch so ein komischer Vogel sei. Vielleicht war Tante Jul die Einzige, die mich noch nicht aufgegeben hatte. Sollte ich mich darüber freuen?

Was machte ich bloss hier? Ich sass in diesem verfluchten Truck, weit weg von zu Hause, von meinen Freunden, auf dem Highway Richtung Nirgendwo. Was sollte ich hier draussen? Das war die absolute Verbannung. Was würde aus mir werden? Aus meinem Leben? Nein, nein, nein, ich würde jetzt nicht in Selbstmitleid zerfliessen, das kam nicht in Frage. Ich hatte das alles tausendmal durchgekaut. Jetzt war Schluss, ich würde das Beste daraus machen! Liam war locker drauf, und das würde bestimmt toll werden. Ich würde neue Leute kennenlernen, und verdammt noch mal: Jetzt sollte ich mich zusammenreissen! Meine Vernunft war scheinbar noch vorhanden und bewahrte mich vor dem ultimativen Tiefpunkt.

Ich betrachtete Liam verstohlen von der Seite. Er sah nicht schlecht aus, er sah sogar sehr gut aus. Er hatte schulterlange, rabenschwarze Haare, nein nicht zu einem langen Zopf zusammengebunden. Er war sehr schlank, gross, braungebrannt und athletisch. Die Wangenknochen waren markant. Seine dunkelbraunen bis schwarzen Augen funkelten neugierig, und sein Mund schien immer zu schmunzeln. Ich fühlte mich nicht zu ihm hingezogen. Ich hatte eher das Gefühl, dass wir gute Freunde werden würden.

«Können wir Musik hören?», fragte ich ihn, um die Stille zu durchbrechen.

«Klar», antwortete er und schaltete das Radio ein.

Liam zappte durch die Sender auf der Suche nach einem, der ihm gefiel. Schliesslich fand er einen, bei dem nicht nur ein monotones Rauschen ertönte. Es war KILI Radio, der Sender des Pine Ridge Indianerreservats. Neben dem normalen Radioprogramm mit Wettervorhersagen, Verkehrsmeldungen, Neuigkeiten und Musikwünschen, würden auch alte Gesänge und Geschichten ausgestrahlt, erklärte Liam.

Ich hörte fremde Klänge und Stimmen, die mich in eine andere Welt zu ziehen schienen. Liam summte leise mit, und ich vergass meine Sorgen. Wir redeten nicht mehr besonders viel. Doch wenn wir redeten, war es vertraut, als würden wir uns seit Jahren kennen und nicht erst seit wenigen Stunden. Ich mochte seine ruhige, aber neugierige Art zuzuhören, seinen Humor und war beeindruckt von seinem Wissen.

Nach etwa dreieinhalb Stunden Autofahrt fuhren wir um einen Hügel herum und in der Ferne konnte man ein Licht in der Dunkelheit leuchten sehen.

«Ist es das?», fragte ich Liam aufgeregt und setzte mich aufrecht hin.

«Ja, wir sind gleich da.»

Seit etwa einer dreiviertel Stunde waren wir über die holprige, nicht asphaltierte Strasse des Pine Ridge Reservats gefahren. Durch das leichte Hin- und Herschaukeln wäre ich fast eingenickt, doch jetzt war an Schlaf nicht mehr zu denken. Es war halb elf Uhr abends, und ich war todmüde von der langen Reise. Dennoch war ich ganz kribbelig und konnte es kaum erwarten, meine Tante und ihre Familie kennenzulernen. Meine anfängliche Skepsis war der Neugier gewichen, und ich reckte den Kopf, um mehr zu sehen. Was lächerlich war. Es war stockdunkel, abgesehen von den Scheinwerfern des Autos, die die Umgebung für kurze Zeit in Licht tauchten.

Als wir vor dem Haus hielten, tauchte aus dem Nichts ein dunkler Schatten von der Veranda auf. Ein grosser Hund rannte wild bellend und schwanzwedelnd um den Truck herum. «Hier sind wir. Und das ist Sky, die uns willkommen heisst.»

Ich stieg freudig aus. Sky sprang sofort auf mich zu, um mich gründlich zu beschnuppern. Ich musste lachen, kraulte sie hinter den Ohren und dachte mir: Da freut sich immerhin jemand über meine Ankunft.

Liam und ich luden mein Gepäck ab, als meine Tante aus dem Haus kam und rief: «Samira! Da bist du ja. Mein Gott, lass dich ansehen!»

Etwas zurückhaltend sagte ich: «Hi, Tante Julia. Ja, hier bin ich.»

Meine Tante hatte lange, braune Haare – wie auf dem Foto – zusammengebunden zu einem Pferdeschwanz, trug zerschlissene Jeans, ein T-Shirt, darüber ein kariertes Hemd, war braun gebrannt und ihre Augen strahlten voller Wärme. Sie umarmte mich ganz unerwartet und drückte mich an sich. «Nenn mich einfach Jul.»

«Okay», murmelte ich und war überrumpelt und überwältigt von ihrer Energie und Herzlichkeit. Liam hatte Recht gehabt, sie schien die Gleiche geblieben zu sein. Ihre Augen strahlten, sie sah glücklich und zufrieden aus, genau wie auf dem Foto.

Schon sprudelten die nächsten Worte aus ihr heraus wie ein Wasserfall: «Und hattest du eine gute Fahrt mit Liam? Hat er dich gut unterhalten? Es tut mir leid, dass ich dich nicht abholen konnte. Es kam etwas dazwischen. Hast du Hunger? Komm rein, ich werde dir alle vorstellen. Hey, Liam komm auch, du bist sicher hungrig und hast noch nichts gegessen.»

«Oh ja, vielen Dank, das wäre toll.»

Wir gingen hinein, und meine Tante stellte mir ihren Mann Bill und ihre drei Kinder Leon, Naomi und Ron vor. Bill war ein grosser Mann um die vierzig, mit einem freundlichen Gesicht und einer tiefen Stimme. Er war mir sofort sympathisch, und sein Händedruck war kräftig und herzlich. Ich fühlte mich willkommen, und das war ein Gefühl, mit dem ich nicht gerechnet hatte.

Die Augen der Kinder glänzten aufgeregt und neugierig. Ich schätzte Leon auf etwa acht Jahre, Naomi und Ron um die zehn Jahre herum. Leon hatte die Energie seiner Mutter, seine Augen leuchteten, genauso wie ihre, voller Energie. Naomi strahlte eine Ruhe aus, welche auch von Bill aus ging, und Ron, Ron war etwas dazwischen. Sie waren alle aufgeblieben, weil sie mich unbedingt sehen wollten, bevor sie zu Bett gingen. Wir setzten uns um den grossen Eichentisch im Wohnzimmer, und nachdem meine Tante das Essen aufgewärmt hatte, schöpfte sie Liam und mir die Teller voll. Ich hatte riesigen Hunger und ass zwei grosse Portionen Lasagne. Ich hatte die naive Vorstellung gehabt, dass man sich hier nur von getrocknetem Fleisch, Bohnen und Wurzeln ernähre. Das war früher bestimmt so gewesen, doch die Zeiten verändern sich. Ich schämte mich für meine Gedanken, für mein Misstrauen, wie gut, dass niemand Gedanken lesen konnte.

Ich musste von der Reise und von der Schweiz berichten. Doch viel gab es nicht zu erzählen. Die Müdigkeit machte sich ausserdem bemerkbar. Schliesslich war ich seit morgens um sieben Uhr unterwegs. Zuerst von Zürich nach Amsterdam, dann nach Minneapolis und anschliessend nach Rapid City. Der Zeitunterschied betrug acht Stunden. In der Schweiz war es jetzt gegen halb acht Uhr morgens. Ich war seit über 24 Stunden wach, und das ganze Warten, Umsteigen, Fliegen, Autofahren mit all den neuen Eindrücken war mir jetzt zu viel. Ich wünschte allen Gute Nacht, bedankte mich nochmals bei Liam fürs Abholen, und dann folgte ich meiner Tante die Treppe nach oben. Jul führte mich in ein kleines Zimmer auf der Vorderseite des Hauses. Es sah nett aus, und auf dem Nachttischchen stand ein kleiner Blumenstrauss.

«Gute Nacht», sagte meine Tante und ging aus dem Zimmer. Bevor sie die Türe schloss, drehte sie sich um: «Samira?»

«Ja?»

«Ich freue mich, dass du hier bist.»

Ich murmelte so etwas wie: «Ich auch», und legte mich dann samt den Kleidern auf das Bett, wo ich sofort einschlief.


Ich erwachte von den Sonnenstrahlen, die auf meinen Wangen tanzten. Für einen kurzen Moment schien alles vergessen zu sein, alle meine Sorgen und Ängste wie in Luft aufgelöst. Ich betrachtete die kleinen Staubteilchen, die im Sonnenlicht auf und ab schwebten. Dann sah ich mich ratlos in einem fremden Zimmer um. Ich fragte mich, wo ich war. Ich stand verwirrt auf und setzte mich erschöpft auf das Bett zurück, als die Erinnerungen wie ein Gewitter über mich hereinbrachen. Die Ruhe und Zufriedenheit, die ich zuerst verspürt hatte, waren urplötzlich verschwunden. Ich war nicht zu Hause in der Schweiz, ich würde nicht aufstehen und mit meinen Freundinnen nach Spanien in den Urlaub fahren, nein, nichts war normal. Ich war in Pine Ridge, in der Verbannung. Ich ging zum Fenster, zog die schweren, dunklen Vorhänge zu und kroch ins Bett zurück.

Ich musste wohl eingeschlafen sein. Als ich wieder aufwachte und auf die Uhr schaute, war es Nachmittag um halb drei. Nun hatte ich mehr als genug geschlafen, und ich spürte meinen Bauch knurren, ich hatte tierischen Hunger. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, wann und was ich zuletzt gegessen hatte. Hastig stand ich auf und zog die Vorhänge beiseite. Ich fühlte mich jetzt deutlich besser als am Morgen, und meine Lebensgeister waren wieder wach. Ich öffnete das Fenster, und eine drückende Hitze kam mir entgegen. Die Luft war stickig und schwer, trotzdem lehnte ich mich aus dem Fenster und schaute mich um. Die Landschaft war trocken, karg und eintönig. Kein Baum, kein grünes Gras. Weit und breit nur Hügel mit vertrocknetem, beige-gelblichem Gras. Das war also die Prärie?! Irgendwie gefiel mir diese Trostlosigkeit. Es passte ganz gut zu meiner momentanen Stimmung. Ich schloss das Fenster und zog meine Kleider aus. Ich fühlte mich schmutzig von der langen Reise, und ging unter die Dusche. Es war herrlich, das warme Wasser über die Schultern prasseln zu lassen, und die steifen Glieder zu dehnen und zu lockern.

Anschliessend schlüpfte ich in Shorts und T-Shirt. Meine nassen Haare band ich zu einem Pferdeschwanz zusammen, etwas Mascara auftragen, die All Stars binden und es konnte losgehen. Ich lief die Treppe hinunter, hielt aber inne, als ich die vielen Bilder an der Wand sah. Ich ging die Stufen neugierig zurück und betrachtete jedes Bild Schritt für Schritt, bis ich im Erdgeschoss angelangt war. Es waren Familienbilder: von den Kindern, von irgendwelchen Zeremonien, und auch von Jul und Bills Hochzeit gab es eine Fotografie.

Das Haus war ganz ruhig und so rief ich zögernd: «Hallo? Jul?»

Als niemand antwortete, ging ich in die Küche. Auf dem Küchentisch fand ich einen Zettel, auf dem mir meine Tante eine Notiz hinterlassen hatte.

Guten Morgen Samira (oder inzwischen Guten Nachmittag?)

Ich hoffe, du hast gut geschlafen und bist nun erholt und munter.

Im Kühlschrank hat es einen Teig für Pancakes, Marmelade, Erdnussbutter usw. Es hat auch noch Spaghetti Bolognese von heute

Mittag. Nimm dir, was du magst …

Ich bin einkaufen gefahren und habe die Kinder mitgenommen.

Bill ist bei den Rindern.

Schau dich etwas um, aber geh nicht zu weit weg vom Hof. Wir sind bald zurück.

Bis später

Deine Tante Jul

PS: Meine Nummer +1 605 459 78 65

Na gut, dann war ich also auf mich allein gestellt. Ich sah mich in der Küche um und entdeckte einen kleinen Radio im Regal. Ich stellte ihn an, und eine Stimme ertönte: «Hallo zusammen! Ich bin wieder zurück! Jetzt kann es weitergehen mit den Musikwünschen von KILI Radio! Ruft an und wünscht euch was! Hier bei eurem KILI Radio! Nun spielen wir The Monsters von Eminem und Rihanna, gewünscht von Loren aus Kyle! Ich wünsche euch viel Spass!»

Aus dem Kühlschrank holte ich den Pancaketeig, erhitzte etwas Butter in der Bratpfanne und fügte eine grosse Portion Teig hinzu. Mein Fuss schlug im Takt der Musik, und bald schnipsten auch meine Finger mit. Als sich Kyra aus Wanblee Happy von Pharell Williams wünschte, drehte ich den Radio auf und tanzte laut mitsingend durch die Küche. Diesen Song musste man einfach lieben!

Ich hatte meinen Pancake ganz vergessen, bis mir ein beissender Geruch in die Nase stieg. Mein Pancake! Scheisse! Schnell flitzte ich zur Pfanne. Es war zu spät. Ich kratzte ihn aus der Bratpfanne, tat nochmals Butter hinein und startete einen neuen Versuch. Nun bewachte ich den Pancake wie einen Goldschatz, und dieses Mal verkohlte er nicht. Nachdem ich es geschafft hatte, mir einigermassen passable Pancakes zu braten, die ich mit viel Marmelade ass, machte ich mich neugierig auf Erkundungstour. Sky hatte mich sofort entdeckt und kam schwanzwedelnd auf mich zu.

Ich wollte früher immer einen Hund haben. Sie sind liebenswerte und treue Gefährten. Meine Eltern waren total dagegen. Ich zitiere, was meine Mutter gesagt hatte: «Ein Hund braucht nur viel Zeit und Futter, und zudem gräbt er Löcher im Garten und zerkratzt den Boden im Haus.» Damit war das Thema erledigt. Ich fand mich irgendwann damit ab, dass wir weder einen Hund noch irgendein anderes Haustier haben würden. Ich kniete auf den Boden und streichelte Sky ausgiebig, dann ging ich Richtung Stall, von wo ich ein Wiehern gehört hatte.

Ich war keine Pferdenärrin, und ich war noch nie geritten. Aber ich mochte diese Tiere mit ihren grossen, klugen Augen und den Ohren, die sie nach vorne und hinten bewegten. Man wusste immer, ob sie zufrieden, aufgeregt, ängstlich oder wild waren. Ganz im Gegensatz zu vielen Menschen, bei denen ich nie den Durchblick hatte, wie es ihnen ging, da ihr Gesicht eine Maske war und sie nicht über ihre Gefühle sprachen oder keine hatten. Ich muss gestehen: Ich hatte auch eine Maske auf. Es war einfacher, die ganzen Gedanken und Gefühle zu verdecken, anstatt offen damit herumzulaufen. Egal, was soll’s, ich zerbrach mir jetzt nicht den Kopf darüber. Ich würde dafür noch mehr als genug Zeit haben.

Ich stand am Koppelzaun und hielt die Hand schützend vor die Augen. Etwas weiter unten bei einer kleinen Buschgruppe standen ein paar Pferde und grasten.

Automatisch dachte ich an meine Schwester Charlotte. Seit sie ein kleines Mädchen war, ritt sie klassisch englisch und hatte schon massenhaft Preise bei Turnieren abgeräumt. Ich konnte nie verstehen, wieso sie ritt, denn ich hatte immer das Gefühl, als würde es ihr keinen Spass machen. Ich ertrug es nicht, wie grob sie mit ihrem Pferd umging. Wie sie ihre Fersen in seinen Bauch schlug, an den Zügeln riss und das Pferd in der erzwungenen Haltung im Kreis trabte. Furchtbar! Sie war nicht die Einzige, die so ritt, praktisch alle, die ich bisher gesehen hatte, sahen das Pferd nicht als ein Individuum mit Herz und Seele, sondern als ersetzbare Turniermaschine. Ich stellte es mir wunderschön vor, auf einem Pferderücken durch die Landschaft getragen zu werden, über Felder zu galoppieren, als würde man fliegen. Bei Charlotte ging es bei allem nur um das Eine: zu gewinnen. Als ihr Springpferd Alexander verletzt war, wurde nicht lange gezögert. Innerhalb von wenigen Tagen war Alexander vergessen, verkauft und das, obwohl sie jahrelang auf ihm geritten war und mit ihm Turniere gewonnen hatte. Alexander war ihr tapferer Begleiter und Freund über Jahre gewesen. Hatte ihre Launen und ihre harten Worte geduldet und sie auf das Podest getragen. Doch dann war er plötzlich nicht mehr von Nutzen und wurde aus dem Weg geschafft. Ich werde nie seine traurigen Augen vergessen, als er von seinem neuen Besitzer in den Pferdeanhänger geführt wurde. Sein Wiehern hatte mir Gänsehaut auf die Arme gejagt.

Von daher hatte ich ein sehr negatives Bild vom klassischen Reitsport. Soviel ich wusste, gab es auch andere Reitweisen und Philosophien rund um das Pferd. Doch wirklich eine Ahnung von Pferden hatte ich nicht. Ich hatte viel indirekt durch meine Schwester in Erfahrung gebracht, weil der Reitsport oft Thema am Familientisch war. Selbstverständlich musste ich auch an die wichtigsten Turniere mitgehen, da sie Familienanlässe waren. Selber zu reiten, hatte ich nie in Betracht gezogen. Ich wollte nicht mit Charlotte konkurrieren. Sie nutzte jede Gelegenheit, mich zu übertrumpfen und wissen zu lassen, sie sei die Beste und ich würde nie besser als sie sein.

Ich vermisste weder meine Schwester noch meine Eltern. Bestimmt nicht! Immerhin etwas Positives an der ganzen Sache: Ich hatte nun ganze zwei, nein, waren es nicht drei Monate, die ich hier sein würde? Egal, auf jeden Fall musste ich sie eine ganze Weile nicht ertragen. Herrlich.

Wieso war ich eigentlich auf der Reise hierher nicht abgehauen? Dann hätte ich mein Schicksal selbst in die Hand nehmen können. Irgendwie war das für mich keine Option. Vielleicht weil ich trotz allem noch einen Hauch Vernunft besitze oder vielleicht auch weil ich Angst hatte. Egal. Nun war ich hier.

Total versunken in meinen trübsinnigen Gedanken, lehnte ich am Koppelzaun und hatte gar nicht bemerkt, wie die Pferde, neugierig geworden, zu mir herübergekommen waren. Ich zuckte überrascht zusammen, als mich eine weiche Nase vorsichtig anstupfte.

«Oh, hallo, meine Liebe. Na, wie heisst denn du? Ich bin Samira.» Ein grosses, braunes Pferd stand vor mir und musterte mich, während seine Ohren hin- und herwackelten. Ich schmunzelte. Es sah zu komisch aus. Das Pferd schnaubte empört, als hätte es meine Gedanken gelesen. Jetzt lachte ich erst recht.

Ich liess mich von den anderen drei Pferden, die gespannt daneben standen, beschnuppern. Zwei von ihnen waren braun, eines hatte vier weisse Fesseln und eine helle Mähne und das andere eine dunkle. Das vierte Pferd war ein Schecke. Sie waren sehr neugierig und stupften mich immer wieder mit ihren weichen Nüstern. Sie hatten kluge, grosse Augen, welche mich wachsam, aber neugierig musterten. Ihr Fell war weich wie Seide und glänzte in der Sonne, als wäre es mit Tausenden Diamanten übersät. Ich strich mit den Fingern über ihr Fell und genoss die Nähe dieser wunderschönen Wesen. Ich hatte keine Angst vor ihnen und fühlte mich ruhig und entspannt.

Irgendwann hatten die vier genug Streicheleinheiten und gingen, um am vertrockneten Grass zu knabbern. Ich beobachtete sie eine Weile, dann suchte ich einen Schattenplatz, denn es war brütend heiss in der Sonne. Schliesslich setzte ich mich auf die Schaukel, die am Baum hing, der neben dem Haus stand. Ich schaukelte leicht hin und her und starrte in die Weite hinaus. Was konnte ich bloss tun? Es war mir eindeutig zu heiss, um meine Erkundungstour fortzusetzen. Ich hatte kein Netz, ich wusste nicht, ob sie hier Wireless hatten, und falls sie hatten, wie das Passwort lautete. Es war niemand da, mit dem ich etwas hätte unternehmen, sprechen oder, was weiss ich, machen können. Na toll, an meinem ersten Tag hier im Reservat wurde ich einfach alleine auf dem Hof gelassen.

Was würde ich die ganze Zeit über hier machen? Ich hatte keine Ahnung und schaute mich verzweifelt um. Nichts als Hügel mit vertrocknetem Gras und noch einer und noch einer … dann der Himmel. Mehr war hier nicht zu sehen. Was fand meine Tante an dieser Landschaft so bezaubernd, um sich hier niederzulassen! Die Trostlosigkeit machte mich traurig. Ich fühlte mich einsam. Was genau hatte mir daran gefallen, als ich aus dem Fenster geschaut hatte? Ich scharrte mürrisch mit den Schuhen auf der vertrockneten Erde. Dann beschloss ich, meine Headphones zu holen und Musik zu hören.

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9783858302274
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