Kitabı oku: «Das Rascheln des Präriegrases», sayfa 4
«Ist das dein Zimmer?», fragte ich überflüssigerweise, und er nickte.
Er öffnete den Kleiderschrank und nahm vorsichtig ein wunderschön verziertes Hemd hervor. Es war anders als die Kleider seiner Schwestern. Es war sehr bunt mit vielen farbigen Zotteln und Fäden verziert.
«Gefällt es dir? Ich habe den ganzen Winter dran gearbeitet.»
«Es sieht verrückt aus», sagte ich fasziniert.
Er schaute mich etwas enttäuscht an, und ich fügte schnell hinzu: «Verrückt im Sinn von unglaublich, es ist der Hammer! Du wirst bestimmt toll darin aussehen und erst recht, wenn du tanzt.»
Er strahlte mich mit seinem typischen Grinsen an: «Tja, dann musst du wohl kommen und mir zusehen!»
«Ja, das muss ich wohl machen. Schliesslich bist du mein FastCousin.»
«Ja, könnte man so sagen. Fast-Cousine … das tönt ziemlich cool!»
«Nein, sind wir ehrlich, es tönt absolut beschissen! Lassen wir das lieber!»
«Okay.»
Ich setzte mich auf seinen Stuhl und sah mich etwas genauer im Zimmer um. «Du liest viel.»
«Meine Hauptbeschäftigung im Winter.»
«Ist es sehr kalt im Winter?»
«Ja. Wenn man ein Haus hat, das gut isoliert ist und genügend Brennholz für den Ofen hat, ist es kein Problem. Aber es gibt jedes Jahr Leute, die es nicht über den Winter schaffen.»
Ich konnte mir das nicht vorstellen. In der Schweiz starb man, wenn man eine unheilbare Krankheit wie Krebs oder einen Unfall hatte. Hier starben Menschen, weil sie nicht genügend Geld für Brennholz hatten und deshalb erfroren. Das war krass. Ich wollte nicht länger darüber nachdenken, und fragte Liam, was ich ihn schon lange fragen wollte: «Was machst du den ganzen Tag? Du hast jetzt Ferien, oder?»
«Ja, so könnte man es nennen.»
«Was kann man hier überhaupt machen? Gibt es hier irgendwelche Clubs oder Bars? Wie weit weg ist die nächste grössere Stadt? Also ich meine grösser als Kyle, ich meine eine richtige Stadt …»
Er sass auf seinem Bett und schaute mich stirnrunzelnd an. «Naja, man kann eine Menge machen: reiten, baden, campen, grillieren, lesen … im Reservat bestand bis vor einem Jahr Alkoholverbot, darum gibt es keine Clubs oder Bars.»
«Moment einmal! Ihr hattet hier ein Gesetz, das den Alkoholkonsum verbot?»
«Genau. Aber wirklich viel hat es nicht genützt. Denn es gab viele Möglichkeiten, trotzdem an Alkohol zu kommen. Leider.»
«Und wieso wurde es aufgehoben?»
«Frag mich nicht! Die Aufhebung hat das Alkoholproblem auch nicht gelöst. Jetzt ist es legal, und wieso sollte man nun aufhören, zu trinken? Es gibt viele, die ihre Sozialhilfebeiträge versaufen und total abhängig werden vom Alkohol. Obwohl ihre Familien zu Hause kaum etwas zu essen haben, geschweige denn Feuerholz für den Winter, warme Kleider, Spielsachen oder Geschenke für die Kinder. Der Alkohol zerstört die Chance für eine Zukunft, für ein einigermassen normales Leben. Viele Weisse sehen deswegen in uns Indianern nur ein faules, versoffenes Pack.»
Er war immer wütender geworden. Ich hatte offensichtlich einen wunden Punkt getroffen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich kam mir total unwissend vor. Eigentlich dachte ich, dass ich mit Liam gut auskam. Nun war ich mir nicht mehr so sicher. Wir kamen aus zwei völlig verschiedenen Welten und hatten womöglich keinerlei Verständnis für diejenige des anderen. Ich hatte keine Ahnung vom Leben im Reservat. Ich wollte nicht hier sein. Ich wollte zurück in die Schweiz. Verdammt.
«Ich hatte keine Ahnung. Ich weiss nicht, wie das Leben hier ist. Ich wollte nur wissen … ich dachte … ach, vergiss es einfach!» Ich stand auf und ging aus dem Zimmer, ich hörte wie Liam aufsprang und meinen Namen rief. Doch ich wollte nur noch raus. Ich sprang die Treppe von der Veranda hinunter und schaute mich um. Wo sollte ich hin? Den Weg nach Hause kannte ich nicht. Auf gut Glück drauflos laufen war keine Option. Ich hatte Angst mich zu verlaufen, und wer wusste schon wie Indianer auf ein junges weisses Mädchen reagierten, das alleine durch die Gegend irrte?
Schliesslich ging ich zur Pferdekoppel. Dort standen vier Pferde und hoben neugierig ihre Köpfe, als ich mich an den Zaun lehnte. Sie kamen alle und beschnupperten mich. Ich strich über ihr weiches Fell und schlüpfte schliesslich zwischen den Holzlatten hindurch, um sie besser kraulen und streicheln zu können. Zwei Stuten hatten einen kugelrunden Bauch, und ich nahm an, sie seien trächtig. Ich setzte mich auf den harten Boden und sah den Pferden zu, wie sie an dem vertrockneten Gras herumknabberten oder einfach da standen und die letzten Sonnenstrahlen genossen. Der grössere Schecke hatte das Sagen über die kleine Herde. Denn er blickte immer wieder wachsam in die Gegend. Als die Pferde kurz den Kopf hoben, um dann ruhig weiterzugrasen, drehte ich mich um. Liam kam auf mich zu. Ich hatte ihn nicht bemerkt und staunte über das Gehör der Pferde. Liam schwang sich mit einem geschmeidigen Sprung über den Zaun und liess sich im Schneidersitz neben mir zu Boden.
«Samira, es tut mir leid. Ich weiss, du wolltest nur wissen, was im Res so läuft. Beim Thema Alkohol drehe ich immer ein wenig durch. Ich wollte dich nicht belehren. Du kommst aus der Schweiz, du kennst das Leben hier nicht. Ich habe meine Wurzeln hier im Res, und ich kenne dein Leben nicht.»
«Ist schon okay. Du musst dich nicht entschuldigen. Weisst du, ich fühle mich einfach allein und verloren. Ich kenne niemanden, und ich habe keinen blassen Schimmer, wie das Leben hier ist. Ich vermisse mein Leben, das ich kannte und liebte!»
Er dachte eine Weile nach, dann sagt er: «Weisst du was, ich werde ein paar Freunde zusammentrommeln, und dann werden wir morgen Abend zusammen ein Feuer machen. Ich werde sie dir vorstellen, dann wirst du bald ein paar Leute mehr kennen. Das Leben hier ist anders als deines in der Schweiz, aber es ist nicht alles schlecht. Ich werde es dir zeigen, wenn du willst.»
«Das wäre toll! Ich würde gerne deine Freunde kennenlernen, und ja, ich würde gerne dein Leben kennenlernen. Ich will einfach nicht herumhängen und mich zu Tode langweilen. Ich will das Beste aus meiner Zeit hier machen.»
«Los, komm, ich bringe dich nach Hause!», sagte Liam und sprang auf die Füsse. Ich streckte ihm meine Hände hin, und er zog mich hoch.
«Hol deine Tasche und sag Bill Bescheid, ich werde bis dann bereit sein.»
Ich lief zum Haus zurück, und als ich wieder auf die Veranda hinaustrat, blieb ich überrascht stehen. Ich weiss auch nicht, was ich gedacht hatte. Aber sicher nicht an das, was mich vor dem Haus erwartete: Liam sass auf dem grossen Schecken und grinste mich amüsiert an, als er mein verwundertes Gesicht sah.
«Das ist jetzt nicht dein Ernst? Ich kann nicht reiten! Ich bin noch nie geritten!»
«Na los, nur keine Angst! Ich kann reiten, ich werde dich halten, und du musst nur die Bewegungen von Heyoka mitmachen», sagte Liam seelenruhig und zwinkerte mir zu.
Ich lachte: «Denkst du etwa ich habe Angst?» Ich lief zu ihm, er schwang sich vom Pferd, verschränkte die Hände zu einer Räuberleiter und eins, zwei, drei, schon sass ich auf dem Pferderücken. Mit einem Satz schwang sich Liam vom Boden auf das Pferd und sass hinter mir. Er nahm die Zügel in die Hand und schloss gleichzeitig seine Arme um meine Taille. Ob mir das recht war, konnte ich mich nicht fragen, denn schon ging es los.
Wir ritten querfeldein. Liam gab mir immer wieder kleine Tipps, und so ging es ganz gut, zumindest, solange wir im Schritt blieben. Ich konnte es kaum glauben: Ich ritt auf einem Pferd ohne Sattel durch die Weiten der Prärie, hinter mir auf dem Pferd ein waschechter Indianer. Es war ein tolles Gefühl auf dem Pferd durch die Gegend zu reiten, Hügel hinauf und hinab, durch kleine Täler, vorbei an Trailern und quer über Strassen. Es sah alles ganz anders aus als aus dem Auto. Ich nahm die Umgebung anders war. Intensiver.
Als wir einen weiteren Hügel erklommen und ich im Tal Juls Farm sah, ging die Sonne am Horizont langsam unter. Der Himmel hatte die knalligsten Farben, und es sah richtig kitschig, aber wunderschön aus. Ich war glücklich.
Wir ritten ins Tal hinunter auf einem kleinen Trampelweg, der zum Haus führte. Vor der Veranda hielt Liam das Pferd mit einem tiefen Hohw an und schwang sich hinab. Dann nickte er mir zu, auch abzusteigen. Meine Pobacken und Oberschenkel schmerzten höllisch, und als ich mich bewegen wollte, leisteten sie gehörig Widerstand. Ich stöhnte, und Liam sagte lachend: «Muskelkater ist ganz normal, mit der Zeit wird er vergehen. Los, schwing dein Bein über den Rücken und lass dich dann langsam hinuntergleiten. Ich werde dich auffangen.»
Ich folgte seinen Anweisungen und schwang mein Bein über Heyokas Rücken. Aber ich hatte zu viel Schwung und landete auf allen Vieren auf dem Boden. Liam konnte sich kaum halten vor Lachen, und Heyoka schaute mich verwundert an. Es kam mir vor, als würde sogar das Pferd über mich schmunzeln. Ich stand auf und klopfte mir den Staub von den Shorts. Ich boxte Liam in die Rippen und erwiderte: «Hey, ich dachte du fängst mich auf!»
«Entschuldige! Darauf war ich nicht gefasst. Es sah zu komisch aus.»
Wir lachten erneut.
Schliesslich kam Bill mit dem Truck um den Hügel gefahren, und Liam verabschiedete sich von mir. Er ging zu seinem Pferd, das vor dem Haus graste, schwang sich darauf und galoppierte den Hügel hinauf. Ich schaute ihnen nach, bis sie verschwunden waren.
Bill kam auf mich zu, klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter und fragte: «Und wie war es?»
«Es war toll! Ich will unbedingt reiten lernen! Kann ich eure Pferde reiten? Wirst du mir zeigen, wie es geht?», sprudelte es aus mir heraus. Ich klang und fühlte mich, wie ein zehnjähriges Mädchen, doch das war mir egal. Ich war voller Elan und spürte seit Langem endlich wieder Freude und Begeisterung.
Bill lachte. «Ganz langsam, Samira. Wir gehen jetzt ins Haus und essen zuerst. Ich bin am Verhungern.»
Meinen Hunger hatte ich nicht bemerkt. Jetzt spürte ich meinen Bauch deutlich reklamieren, und man hörte ein Knurren. Bill und ich lachten und traten in die Küche, wo Jul gerade mit dem Kochen des Abendessens fertig war.
Ich erwachte am nächsten Morgen sehr früh und fühlte mich topfit. Ich spürte zwar meinen Hintern deutlich, und es spannte in den Oberschenkeln, aber ich mochte es, wenn ich Muskelkater hatte. Dann spürte ich meinen Körper, und das gefiel mir. Es war kurz vor sechs Uhr, so früh war ich seit einer Ewigkeit nicht mehr freiwillig aufgestanden. Ich hatte noch keinen Hunger, trank nur einen Kaffee und rauchte danach meine obligatorische Zigarette. Es war ein friedlicher, ruhiger Morgen. Ich hörte Vögel zwitschern und die Grillen zirpen. Ich holte meine Kamera aus dem Zimmer und versuchte, diese herrliche Stimmung kurz vor Sonnenaufgang festzuhalten. Als die Sonne aufging, rannte ich, dicht gefolgt von Sky, den Hügel hinauf, um die Sonne von dort oben aufgehen zu sehen. Ich keuchte, als ich oben war und setzte mich auf einen Felsbrocken. Sky liess sich neben mir zu Boden fallen und hechelte. Ich kraulte sie hinter den Ohren und schaute, wie die Landschaft um mich herum von der Sonne in Beschlag genommen wurde. Ich stand auf und drehte mich auf dem Felsbrocken einmal rundherum. Von hier oben hatte man einen herrlichen Blick über das ganze Land. Es war ein magischer Moment, ich fühlte mich leicht und frei.
Sky bellte laut, sie wollte zurück zum Hof. Ich sprang vom Felsen hinunter und folgte ihr nach Hause. Als ich ins Haus kam, waren alle schon aufgestanden und wollten gerade frühstücken.
Jul schaute mich überrascht an und bemerkte: «Du bist aber früh aufgestanden!»
«Ja, ich war hellwach und dachte mir, wieso noch länger im Bett herumliegen. Ich sah den Sonnenaufgang auf dem Hügel, das war wunderschön.»
Ich setzte mich an den Tisch. Es war das erste Mal, dass die ganze Familie zusammen frühstückte. Niemand musste irgendwo hin, und so genoss die Familie Blackfooth das gemeinsame Frühstück. Nach dem Essen wollte Bill zu den Bisons reiten, um nach dem Rechten zu sehen. Er fragte mich, ob ich mitkäme. Ich war sofort dabei, denn das Reiten hatte mir grossen Spass bereitet, und ich war begierig, es nun richtig zu lernen. Wir waren auf dem Weg zur Pferdekoppel, als Ron gerannt kam und fragte, ob er auch mitkommen dürfe. Bill war einverstanden, und Ron hüpfte vor Freude auf und ab. Bill und Jul besassen insgesamt fünf Pferde, sie stammten alle von reinrassigen Mustangs ab. Aber sie waren bis auf den grossen, braunen Wallach nicht in der Wildnis geboren worden. Bill nahm den Wallach. Er hiess Eyota, was so viel wie der Grösste bedeutete. Ron holte den Schecken von der Weide, er hiess Ashki, was Junge oder Bub hiess, und ich bekam Kholàya. Sie war eine ruhige, freundliche und geduldige Stute, genau das Richtige für mich als totale Anfängerin. Nachdem ich sie gestriegelt und ihre Hufe ausgekratzt hatte – Ron zeigte mir alles – erklärte mir Bill, wie man richtig sattelt. Ich legte die Decke auf den Rücken des Pferdes, und als Bill mir den Sattel in die Hände drückte, wäre ich beinahe umgefallen. Ich war nicht gefasst, dass er so schwer war. Ich fluchte.
Lachend sagte Bill: «Wenn du ihn richtig hältst und Schwung holst, dann wirst du ihn auf den Pferderücken bringen. Du musst darauf achten, ihn nicht auf Kholàyas Rücken fallen zu lassen. Das wäre nicht sehr angenehm für sie.»
Ich dachte: Okay, das klingt alles super einfach, kein Problem. Schwingen wir dieses Monster von Sattel auf den Pferderücken und fangen ihn ab, damit er nicht mit voller Wucht auf den Rücken prallt. Bill stand auf der anderen Seite des Pferdes und nickte mir aufmunternd zu. Ich stellte mich mit dem Rücken zur Stute und während ich mich zum Pferd drehte, schwang ich den Sattel auf den Rücken und liess ihn langsam hinunter.
«Na siehst du, war nicht so schwer», meinte Bill und zeigte mir, was ich alles beachten musste. Der Sattel durfte nicht zu weit hinten liegen, aber auch nicht zu weit vorne, die Decke musste ich vorne leicht anheben und dann vorsichtig den Gurt anziehen, so fest, dass noch eine Hand zwischen Gurt und Bauch Platz hatte. Zum Schluss kam das Zaumzeug. In den Ställen in der Schweiz hatte ich Trensen gesehen mit Gebiss und Hunderten von Riemen. Es sah schrecklich aus. Bill ritt seine Pferde mit einem Bosal, einer gebisslosen Zäumung, oder mit einer einfachen Westerntrense.
Bevor wir aufbrachen, hatte ich auf Bills Empfehlung lange Hosen angezogen und mich mit Sonnencreme eingeschmiert, um mir die Beine nicht aufzuschürfen und mich in der Mittagssonne nicht zu verbrennen.
Nun waren wir bereit. Bill half Ron in den Sattel, dann kam er zu mir und lehnte auf der anderen Seite in den Steigbügel, damit mir der Sattel nicht entgegenkam, wenn ich aufstieg. Mit dem linken Fuss stieg ich in den Steigbügel, mit der einen Hand konnte ich mich in der Mähne festhalten, mit der anderen am Sattelhorn. Dann zog ich mich mit Schwung hoch, schwang das Bein über den Rücken und sass sanft ab. Bill stellte mir die Steigbügel auf die richtige Länge ein und schwang sich selbst in den Sattel. Er zeigte mir, wie ich dem Pferd die Signale geben musste, wie ich die Zügel in einer Hand zu halten hatte und wie ich sie führen sollte. Dann ging es endlich los!
Um Kholàya in den Schritt zu bringen, musste ich kurz die Beine leicht zusammendrücken, und sie lief los. Um anzuhalten, musste ich Hohw sagen und die Zügel leicht anheben. Wenn ich nach links oder rechts reiten wollte, musste ich mit der Hand in diese Richtung lenken. Was ganz wichtig war: Ich musste immer dort hinschauen, wo ich hinreiten wollte, und mich dementsprechend nach links oder rechts drehen. Es waren kleine Bewegungen und Hilfen, doch Kholàya regierte schnell und sensibel auf meine Signale. Alles war neu und aufregend für mich, und ich musste mich erst einmal an Kholàyas Bewegungen gewöhnen. Sie waren geschmeidig, und jeder Tritt war sicher. Ich konnte mich auf sie verlassen, da war ich mir sicher, schliesslich hatte sie nicht um sonst den Namen Kholàya, was übersetzt «Mein Freund» hiess.
Keine Ahnung wie lange wir ritten, ich hatte das Zeitgefühl schon lange verloren. Wir bewegten uns langsam den Hügel hinunter. Es war sehr steil, und Bill erklärte mir, ich sollte die Füsse nach vorne strecken, den Oberkörper leicht nach hinten lehnen und Kholàya einfach machen lassen. Ich liess mich von Kholàya sicher ins Tal tragen. Ich spürte meinen Hintern deutlich und auch das Ziehen in den Oberschenkeln hatte nicht nachgelassen, es wurde noch stärker. Aber ich beklagte mich nicht. Ich genoss den Ritt. Das leichte Schaukeln und die Natur um mich herum … traumhaft. Es wurde immer heisser. Im Tal bei einem Bach, der nur ein kleines Rinnsal war, machten wir eine Pause. Wir liessen die Pferde trinken und holten unsere Wasserflaschen aus den Satteltaschen. Ich trank gierig ein paar Schlucke, genoss die Erfrischung.
Bill blickte zu mir rüber: «Du machst es gut.»
«Naja, das Reiten macht mir grossen Spass.»
Nach einer Weile stiegen wir wieder in unsere Sättel und folgten dem Flüsschen bergwärts. Das Gras war hier zwar grüner als an anderen Stellen, aber vergleichbar mit dem Grün des Grases zu Hause war es noch lange nicht. Ich war froh, einen Sattel zu haben, das gab mir Halt. Ich schmunzelte: Wer hätte gedacht, dass ich jemals reiten würde. Ich am allerwenigsten.
Wir ritten weiter nordwärts, immer noch im Tal. Wir redeten kaum, wir ritten einfach. Irgendwann folgten wir einem Trampelpfad den Berg hinauf. Oben führte der Weg eine Weile dem Grat entlang. Wir hielten auf einem kleinen Plateau, wo Bill ins Tal hinunter zeigte. Weit unten konnte man eine kleine Herde sehen. Ich dachte zuerst es seien normale Rinder, dann sah ich genauer hin: Es waren Bisons. Waschechte Bisons. Ich staunte nicht schlecht. «Sind das eure Bisons?», fragte ich Bill.
«Ja, sie gehören der ganzen Familie. Ich habe dir ja von unserer Herde erzählt.»
Wir ritten einen steilen Pfad hinab, bis wir auf einer kleinen Anhöhe die Bisons aus nächster Nähe bewundern konnten.
Diese Tiere waren beeindruckend. Sie strahlten eine unbeschreibliche Kraft aus. Sie waren so gross und anmutig und schienen einer anderen Zeit entsprungen zu sein. Wenn ich sie betrachtete, konnte ich mir gut vorstellen, wie die Indianer früher auf ihren Pferden Bisons jagten. Ein lebhaftes Bild von farbig bemalten Pferden und Männern, die mit Pfeil und Bogen im vollen Galopp einen Bison erlegten, erschien in meinem Kopf. Das Geheule und Gejohle der Krieger dröhnte in meinem Kopf. Ich war fasziniert und verstand, warum die Bisons den Indianern so viel bedeuteten. Einst waren die Bisons die Lebensgrundlage aller Prärieindianer. Nun waren sie eine Erinnerung an längst vergangene Zeiten und ein Zeichen der Hoffnung für eine bessere Zukunft.
Es war nach Mittag, als wir auf den Hof zurückkamen. Ich war hungrig und müde, meine Beine und mein Po schmerzten, ich schwitzte und brauchte dringend eine Dusche. Zuerst mussten wir die Pferde versorgen. Kholàya hatte mein Herz gewonnen, und ich nahm mir Zeit, ihr verschwitztes Fell mit einem nassen Schwamm abzuwaschen und sie abzukühlen. Sie genoss es sichtlich und schnaubte zufrieden, als ich sie auf die Koppel zu den anderen Pferden brachte. Ron war müde, es war für ihn ein langer Ritt gewesen, und obwohl er herummeckerte, musste er sein Pferd alleine versorgen, das war Bill wichtig.
Nach dem Essen wollte ich duschen, mich aufs Bett werfen, Musik hören und entspannen. Doch Jul rief mich zu sich ins Büro. Ich stöhnte auf: Was will sie denn jetzt noch von mir? Ich war müde und wollte meine Ruhe haben.
Ich war noch nie in ihrem Arbeitszimmer gewesen. Es war ein kleiner Raum auf der Vorderseite des Hauses mit einem wunderschönen Ausblick ins Tal. Vor dem Fenster stand ein grosser Arbeitstisch mit vielen Schubladen. Davor sass meine Tante und tippte geschäftig auf der Tastatur ihres Computers.
Ich lehnte im Türrahmen und fragte: «Was ist?»
«Einen Moment, ich bin gleich fertig.» Schliesslich drehte sie sich um und bat mich Platz zu nehmen.
Ich setzte mich auf den Stuhl an der Wand und schaute sie erwartungsvoll an. Irgendwie hatte ich kein gutes Gefühl, denn ich hatte keine Ahnung, was sie wollte.
Jul fragte: «Wie war der Ritt? Hast du die Bisons gesehen?»
«Es war toll. Kholàya ist ein super Pferd, auf sie ist Verlass. Ja, die Bisons haben wir gesehen. Das sind sehr eindrückliche und mächtige Tiere.»
«Schön. Ich dachte mir, Reiten könnte dir gefallen. Aber dass du so schnell begeistert bist, überrascht mich etwas, denn nach den Schilderungen deiner Mutter warst du in einem ziemlichen Tief und hattest auf nichts Lust. Sie erzählte, du hättest angefangen zu rauchen und zu kiffen und viele wilde Nächte durchgemacht.»
Ich verstand nicht, worauf meine Tante hinauswollte. Ich hatte keine Lust darüber zu reden, was war und was ich alles falsch gemacht hatte.
Jul redete weiter, als ich nichts erwiderte: «Ich habe dich beobachtet, seit du hier bist, und ich finde, du machst einen offenen, neugierigen und zufriedenen Eindruck. Es ist alles neu hier, ich weiss, es kann beängstigend sein, aber auch spannend. Schau, was ich dir sagen will: Mir ist egal, was du zu Hause gemacht hast, aber hier gelten meine Regeln: 1. Ich will immer wissen, wo du bist! Wir sind hier nicht in Zürich, du kannst nicht überall alleine herumlaufen. 2. Ich kann dir den Alkohol- und Drogenkonsum nicht verbieten, aber ich möchte dich auf keinen Fall aus der Ausnüchterungszelle herausholen müssen. 3. Wenn du unbedingt Rauchen musst, okay, tu es. Ich verstehe es zwar nicht, und ich bin mir sicher, du weisst, wie ungesund es ist. Pass bitte auf, wo du die glühende Kippe hinwirfst. Das Land ist sehr trocken, und es kann unglaublich schnell ein Feuer entstehen. Du magst nun denken, ich sei paranoid und wolle dir alles verbieten, doch das sind drei simple Sachen, die mir wichtig sind. Ich will, dass du wieder Spass hast und lernst, was wirklich wichtig ist im Leben. Dass nicht immer alles rund läuft, ist normal.»
«Okay.» Ich wollte aufstehen und gehen.
Meine Tante hielt mich zurück: «Samira! Hast du verstanden, was ich dir gesagt habe?»
«Jaa, ich habe verstanden. Ich muss immer sagen, wo ich bin. Kein Alk, keine Drogen, keine Kippen wegwerfen.»
«Samira, schau mich an. Ich habe dir nichts verboten, denn, soviel ich weiss, bringen Verbote nichts. Ich sagte nur, sei vorsichtig. Das richtige Mass zu finden, kann schwer sein, aber es ist wichtig, dass man es hat.»
Ich wurde langsam ungeduldig, ich wollte endlich meine Ruhe. «Ist schon gut, Tante Jul. Ich werde keinen Ärger bauen, und ich kann auf mich selbst aufpassen.»
«Okay», meinte Tante Jul, seufzte und lehnte sich zurück in ihren Stuhl. «Na los, geh, ich bin fertig.»
Ich stand auf und ging schnell aus dem Zimmer. Als ich die Treppe hochlaufen wollte, hörte ich Jul rufen: «Ach, Samira, ich hätte es fast vergessen, Liam hat angerufen. Er holt dich um 18 Uhr ab.»
«Oh, okay, danke!», sagte ich und rannte die Treppe hinauf. In meinem Zimmer zog ich meine Schuhe aus, schlüpfte aus den Jeans und den restlichen Kleidern. Ich wickelte mein Badetuch um, nahm mein Necessaire unter den Arm und huschte ins Bad. Ich liebte es, zu duschen. Ich liess mir das kalte Wasser auf Rücken, Schultern und Kopf prasseln und schloss die Augen. Herrlich. Ich wusch meine Haare, und während ich meine Beine rasierte, liess ich die Haarmaske einwirken. Dann stieg ich aus der Dusche, rieb mich trocken und zog mich an. Ich flocht mein Haar zu zwei langen Zöpfen und ging in mein Zimmer. Ich steckte meinen iPod an die kleine Box, die ich mitgebracht hatte und hörte Musik, während ich meine Nägel schnitt, feilte und mit einem dunkelroten Nagellack lackierte. Dann legte ich mich aufs Bett und surfte im Internet herum. Ich vergass die Zeit. Verdutzt bemerkte ich, dass es bald sechs war. Ich musste mich beeilen. Ich schminkte mich vor dem kleinen Spiegel an der Wand und öffnete meine Zöpfe. Noch ein zwei Spritzer Parfum und fertig. Ich leerte meine Tasche auf dem Bett aus und räumte ein, was ich brauchte: Lippenpomade, Zigaretten, Feuerzeug, Kaugummis, Kamera und einen dicken Pulli, falls es kalt würde. Ich legte mich wieder aufs Bett und schaute aus dem Fenster. Wie lange war ich schon hier? Es kam mir vor, als wäre ich seit einer Ewigkeit in Amerika und nicht erst seit wenigen Tagen. Ich spürte, wie mir die Zeit hier gut tat. Abstand von allem, das war gut, auch wenn ich das am Anfang total schrecklich gefunden hatte.