Kitabı oku: «Das Rascheln des Präriegrases», sayfa 3
Gegen halb sechs kam meine Tante mit den Kindern zurück. Der Wagen war vollgepackt mit Einkaufstüten, die ich ihr in die Küche tragen half.
Naomi, Leon und Ron begannen auf der Veranda mit kleinen Figürchen zu spielen. Ich kniete mich zu ihnen auf den Boden und fragte: «Was spielt ihr da?»
«Wir spielen mit unseren Holzfiguren. Die hat uns Papa geschnitzt und bemalt.»
Ich betrachtete die Figuren eingehend. Sie waren unglaublich raffiniert und exakt geschnitzt, fein und liebevoll. Mit Farben ganz bunt angemalt und mit Perlen, Fäden und Stoffen verziert. «Die sind wunderschön. Euer Papa ist ja ein richtiger Künstler.»
«Hihi», kicherte Naomi verlegen und fragte: «Findest du? Unser Grossvater, also sein Vater, hat ihm das beigebracht. Das ist ein altes Kunsthandwerk der Oglala-Lakota, weisst du», sagte Naomi stolz. Ron und Leon nickten vielsagend.
«Spielst du mit uns?», fragte Leon und schaute mich hoffnungsvoll aus seinen kleinen Knopfaugen an.
«Vielleicht später. Jetzt muss ich eurer Mama in der Küche helfen.»
«Das ist aber schade.»
«Macht euch keine Sorgen, ich werde noch genügend lange hier sein, um mit euch zu spielen.» Zu lange werde ich noch hier sein, dachte ich im Stillen und wuschelte durch Leons Haare, der überrascht quiekte. Ich lachte, stand auf, griff nach den Einkaufstüten, die ich auf der Veranda abgestellt hatte und ging ins Haus. In der Küche standen weitere Einkaufstüten. Jul hatte begonnen, die Einkäufe auszuräumen und zu verstauen.
«Hier bin ich wieder. Was kann ich tun?»
«Du könntest diese Lebensmittel in den Schrank räumen, und wenn du damit fertig bist, die Kartoffeln schälen, in feine Scheiben schneiden und in die Pfanne legen. Das wäre super.»
«Okay.» Ich war froh, etwas tun zu können. Wir redeten über dies und das. Jul stellte mir keine Fragen weder über die Schule noch über meine Familie. Dafür war ich ihr dankbar. Ich hatte keine Lust, über Zuhause nachzudenken, geschweige darüber zu sprechen.
Beim Abendessen erzählte Bill von der Arbeit mit der Bisonherde. Er hatte vor zwei Jahren begonnen, Bisons zu züchten. Die Bisons wurden in ein kleines Tal getrieben, in dem es grüneres Gras gab. Es war wieder ein sehr trockener Sommer, und Bill musste ständig schauen, dass die Bisons genug zu trinken und zu fressen hatten. Bill erklärte mir, dass sie die Bisons zuerst nicht mit einem Zaun eingesperrt hätten, sondern frei herumwandern liessen wie früher. Nachdem die Herde mehrmals zu weit weg gegangen war, stellten sie einen Zaun auf. Das vereinfachte einerseits die Arbeit, andererseits brauchte es viel Zeit und Geld, um einen stabilen Zaun zu bauen. Das alles war schön und gut, doch interessierte es mich nicht wirklich. Ich hörte halbherzig zu und verzog mich nach dem Abendessen auf mein Zimmer.
Bill hatte das Wireless angeschaltet, und so legte ich mich auf mein Bett, um die Chat-Nachrichten zu lesen. Meine drei besten Freundinnen Lejla, Marie und Shona hatten mir mindestens eine Million Nachrichten geschickt, eine ungeduldiger als die andere. Ich freute mich und begann zurückzuschreiben in unserem Mädelschat.
Hey Mädels! ♡ Hier ist alles io. Meine Tante ist ganz oke und ihre Familie auch. Ich wurde von einem super Typen am Flughafen in Rapid City abgeholt. Er heisst Liam und ist echt cool drauf. So nun habt ihr von mir gehört! Ich lebe noch ☺
Und wie läuft’s so zu Hause? Schon gepackt für Spanien?
Innert wenigen Minuten kam eine Nachricht zurück, Shona war wie immer die Schnellste: Hey Darling ♡ Das tönt gar nicht übel! Schnapp dir diesen Typen ☺ und geniess es einfach! Lass dich auf ein Abenteuer ein! Halloo, du bist in Amerika!! Da können schliesslich Träume wahr werden! Okay?! Lass es krachen!! Und verkriech dich nicht unter deiner Bettdecke!! Vergiss, dass deine Eltern dich dorthin geschickt haben und mach das Beste daraus. Hey, und vergiss Spanien, das wird nicht mal halb so toll, wenn du nicht dabei bist! Vermiss dich ganz fest!
Marie, die immer die Vernünftigste unter uns vieren war, meldete sich: Hör nicht auf Shona!! Du musst schon aufpassen, mit welchen wilden Typen du da rumhängst! Und bau auf keinen Fall irgendeine Scheisse! Hast du verstanden? Reiss dich zusammen und mach nicht noch mehr Ärger.
Ich schüttelte nur den Kopf und lachte, dann antwortete ich: Mädels entspannt euch, okay. Ich werde schon nicht eine Bank ausrauben und mit wildfremden Typen ins Bett steigen! Ich habe ja nur gesagt, er ist total cool. Ich meine, er sieht schon echt gut aus, aber er ist erstens zu gross und zu schlank, und er ist einfach ein netter Kerl, versteht ihr?! Ihr seid ja so was von bescheuert. Er ist überhaupt nicht mein Typ, er wäre absolut dein Typ, Lejla! Er sieht aus wie ein Calvin-Klein-Model!!
Lejla meldete sich: Heyy honey bear ♡ Erstens, meine Liebe, habe ich bereits einen Freund. Aber schick mal ein Foto von diesem Liam ☺ Hahaha … Geniess deine Zeit dort, weit weg von allem!! Entspann dich, erhol dich und finde deine innere Mitte ☺ Das wird bestimmt toll! Lerne neue Leute kennen … mach das Beste draus! Shona hat ganz Recht!! Sieh es als ein Abenteuer und nicht als eine Bestrafung. Ich meine, deine Eltern sind ja nicht da, und deine Tante scheint ziemlich locker drauf zu sein. Von dem her stimme ich Shona absolut zu. Lass es krachen, Süsse!
Immer vernünftig bleiben! Und lass dich ja nicht einlochen!! Die haben da ganz andere Regeln!, meldete sich Marie.
Jajaja, ich bau schon keine Scheisse. Obwohl das mach ich eigentlich immer, aber vielleicht gelingt es mir ja ausnahmsweise einmal vernünftig zu sein, schrieb ich zurück.
Samira!, ich meine es ernst! Ich mache mir Sorgen um dich, schrieb Marie.
Was soll das? Bin ich 9 oder was? Ich kann ganz gut alleine klar kommen. Es bleibt mir hier nicht viel anderes übrig. Ich werde schon aufpassen … viel schlimmer kann mein Leben ja nicht mehr werden. Weisst du was, vielleicht haue ich einfach ab und gehe nach New York.
Samira, es tut mir leid, so habe ich das nicht gemeint. Ich mache mir einfach Sorgen um dich. Pass auf dich auf! Versprich es! Und halte uns auf dem laufendem! Ja?, antwortete Marie.
Jaaa, ist schon okay. Ich weiss zwar nicht, was in diesem Kaff hier passieren soll, aber ich werde euch auf dem Laufenden halten, so wie ihr mich!! Ich gehe jetzt schlafen. Ich schaltete das Handy aus, ohne die Nachricht von meinen Eltern zu lesen, geschweige denn ihnen zu antworten und legte es auf den Nachttisch.
Was denken meine Eltern sich bloss? Ich werde ihnen ganz sicher nicht zurückschreiben. So schnell werde ich ihnen nicht verzeihen. Obwohl, vielleicht haben die Mädels ja wirklich Recht und ich sollte diesen Aufenthalt nicht als Bestrafung, sondern als Abenteuer sehen. Im Moment war ich wütend und deprimiert.
Ich wusste, ich konnte mich nicht ewig in meinem Zimmer verkriechen, ich würde mir selber auf die Nerven gehen, und irgendwann würde mich die Neugier packen. Dafür war ich ein viel zu vorwitziger Mensch. Aber jetzt war ich wütend, wollte wütend sein, und ich wollte nicht positiv nach vorne sehen. Das war natürlich total idiotisch, und ich machte mir so selber die Laune zur Sau und das Leben schwer.
Ich begann meine Sachen auszupacken. Ich hatte zu viele Kleider dabei und fand kaum Platz im Schrank. Ich pinnte ein paar Fotos von meinen Freunden und meine Lieblingsschüsse an die Wand. Meine Spiegelreflexkamera war ein älteres Modell, aber genau deswegen mochte ich sie so sehr. Morgen werde ich auf Fototour gehen, beschloss ich. Ich stellte ein Foto von mir mit meinen Freundinnen, das ich in einem Rahmen mitgenommen hatte, auf den Nachttisch. Es war vom letzten Sommer in Nizza. Es war der beste Sommer überhaupt gewesen. Strand, Sommer, Sonne, Mädels, Partys, heisse Jungs, … es war genial! Ich war total versunken in meinen Erinnerungen, als es an meiner Türe klopfte. Ich drehte mich erschrocken um: «Ja?»
«Ich bin es: Jul.»
«Komm herein.»
Meine Tante trat in mein Zimmer und schaute sich um. Es herrschte ein gewaltiges Chaos. Sie schmunzelte und meinte: «Em, Samira, ich wollte mit dir noch deinen Tagesablauf besprechen. Ich meine, du bist ja nicht hier, um Ferien zu machen, sondern um uns zu unterstützen.»
«Ja?», fragte ich skeptisch, denn ich ahnte Schlimmes.
«Keine Sorge, Samira, es ist halb so schlimm. Ich werde von dir nicht verlangen, jeden Morgen um fünf Uhr aufzustehen, um die Pferde zu füttern, aber wir sind alle froh um zwei Hände mehr. Wir sind nicht in der Schweiz, hier ist alles anders, hier muss man hart arbeiten, wenn man über die Runden kommen will. Uns geht es sehr gut dank meiner Festanstellung an der High School und unseren Bisons. Bill leitet eine kleine Handwerkergruppe, die im Reservat, aber auch ausserhalb Aufträge erledigt.»
«Jaja, ich verstehe, was du meinst. Also, was muss ich tun?»
«Ich dachte mir, wir schauen Tag für Tag, was es zu tun gibt. Das ist am einfachsten. Grundsätzlich ist Bill mit dem Truck unterwegs, um Aufträge auszuführen. Ab und zu muss er nach den Bisons sehen. Da im Moment Ferien sind, arbeite ich nicht, und die Kinder gehen nicht zur Schule, somit ist es nicht so stressig.»
«Okay», erwiderte ich ungeduldig. Hier ist das Leben anders als zu Hause, das muss man mir nicht erklären. Kann sie nicht auf den Punkt kommen und geradeheraus sagen, was ich machen muss?
«Morgen früh muss man dringend den Garten pflegen. Beginnen wir um halb sieben, dann ist es noch nicht zu heiss. Okay?»
«Ja, das ist gut.»
«Super, vielen Dank!»
Ich wendete mich ab und nahm noch mehr Aufnahmen aus meiner Mappe, die ich an die Wand pinnen wollte. Jul wendete sich interessiert zu mir: «Kann ich mal sehen?»
«Ja, klar», antwortete ich und zeigte ihr die Bilder.
Sie war begeistert und meinte, ich hätte grosses Talent. Naja, das hatten mir schon viele gesagt, nur meine Eltern nicht, und genau von ihnen hätte ich gehofft, dass sie stolz auf mich wären.
Jul hob mit einer Hand mein Gesicht und meinte: «Samira, sei nicht traurig, ja? Du bist eine wunderbare, junge Frau, und du hast wirklich Talent, das sind richtig gute Fotos!»
Nach kurzem Zögern fuhr sie weiter: «Weisst du, ich bin nicht ohne Grund von zu Hause weggegangen. Ich hielt es zu Hause nicht mehr aus, und da ich eine Rebellin war, im Gegensatz zu deiner Mutter, packte ich meine sieben Sachen und machte einen Trip quer durch die USA und blieb hier hängen. Ich habe es noch keinen einzigen Tag bereut. Du kannst jetzt bestimmt nicht verstehen, was an diesem Land so besonders sein soll. Aber ich bin mir sicher, eines Tages wirst du das verstehen. Die Zeit wird wie im Flug vorbeigehen, glaub mir, und etwas Abstand von deiner Familie schadet bestimmt nicht.»
«Nein. Aber es ist unfair, dass sie mich hierhergeschickt haben. Wieso hast du bloss Ja gesagt?»
«Ach, Samira. Es tut mir leid, glaub mir. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie deine Mutter sein kann, aber sie liebt dich, vergiss das nicht. Deine Eltern wollen nur das Beste für dich.»
«Nur das Beste für mich? Soll das ein Scherz sein?»
«Lass dir etwas Zeit, sei bereit zu vergeben und offen für Neues. Sonst machst du dir das Leben selber schwer.»
«Du klingst schon fast wie meine Mutter», sagte ich mürrisch, doch meine Tante liess sich nicht provozieren.
«Lass dir Zeit. Das kommt schon wieder gut.»
«Hmm … natürlich», erwiderte ich sarkastisch und dachte: Wieso belehrst du mich, wenn du es selber nicht besser kannst? Ich soll bereit sein zu vergeben und mich versöhnen. Wer ist von zu Hause weggelaufen und hat seither kaum mehr mit seiner eigenen Familie geredet?
Jul erwiderte, als wüsste sie, was ich gerade gedacht hatte: «Ich weiss, ich muss nichts sagen, weil ich es selbst nicht auf die Reihe bekam. Aber ich will, dass du nicht denselben Fehler machst wie ich. Familie bleibt Familie. Glaub mir.»
Ich schaute betrübt zu Boden und wollte alleine sein. Jul stand unschlüssig neben mir. Schliesslich umarmte sie mich herzlich. Zuerst sträubte ich mich dagegen, dann liess ich mich von ihr drücken, und es war ganz in Ordnung.
«Morgen ist ein neuer Tag», sagte Jul optimistisch.
Ich schaute sie an und stellte überrascht fest: «Du hast ja grüne Augen! Nicht so krass wie ich, aber auch grün.» Ich hatte das bisher nicht bemerkt.
«Ja, das habe ich. Du hast die schönsten Augen, die ich je gesehen habe.»
«Wie man es sieht.»
«Gefallen dir deine Augen nicht?»
«Es geht. Sie fallen immer und überall auf, und die Reaktionen mancher Menschen sind komisch. Manche können mir fast nicht in die Augen schauen, sie finden es gruselig, andere erschrecken, wenn ich sie direkt anschaue.»
«Ich finde deine Augen schön. Sie haben eine besondere Kraft und Ausstrahlung.»
«Danke. Es wäre manchmal viel einfacher, nicht immer und überall aufzufallen und ganz normale braune Augen zu haben.»
«Du kannst wirklich zufrieden sein mit dir, genau so, wie du bist.»
«Aber …»
«Da gibt es kein Aber! Niemand ist perfekt. Wenn man akzeptieren kann, was ist, und nicht immer nur das sieht, was einem nicht gefällt, ist man viel glücklicher. Verstehst du? Denk mal darüber nach.» Jul drückte meine Hand: «Ich lasse dich jetzt alleine, schlaf gut und bis morgen früh! Und verschlaf mir nicht!»
«Jaja, gute Nacht.»
Jul war schon aus dem Zimmer und wollte gerade die Türe schliessen, da sagte ich: «Jul?»
Sie steckte den Kopf herein und schaute mich erwartungsvoll an.
«Danke!»
Sie fragte nicht wofür, sondern lächelte und schloss die Tür.
Ich hängte die restlichen Fotografien auf und verstaute meinen Kram. Irgendwie fühlte ich mich ganz gut. Ich hatte das Gefühl, Jul verstehe mich. Das zu wissen, beruhigte mich und gab mir Kraft.
Ich schaute überrascht in den Spiegel über der Kommode. Ich betrachtete mein Spiegelbild und dachte an Juls Worte. Momentan war ich ganz zufrieden mit meinem Aussehen, aber mit mir im Ganzen? Das Aussehen ist nur ein Teil von mir, der viel grössere ist in mir drin, und dort herrscht ein Riesenchaos. Ich seufzte, nahm meine Zigarettenpackung und kletterte aus dem Fenster auf das Verandadach. Ich setzte mich, lehnte mit dem Rücken gegen die Hauswand und zündete mir eine Zigarette an. Ich schmunzelte, als ich mich an die Diskussion mit Liam erinnerte. Naja, was soll’s. Ich wusste genau, es wäre besser, wenn ich nicht rauchte, doch ich liebte dieses Ritual. Ich rauchte jeden Tag drei Zigaretten. Wenn ich Stress hatte waren es mehr. Das gab ich zu. Ich hatte mir diese Grenze gesetzt, die ich meistens einhielt. Und so konnte ich mich jeden Tag auf drei Zigaretten freuen und sie in vollen Zügen geniessen. Zu viele junge Leute rauchten heutzutage, und ich gehörte dazu. Es war nicht gesund, es konnte Krebs verursachen, doch daran dachte man nicht, wenn man es tat. Wieso auch? Man konnte auch krank werden oder sterben, wenn man gesund lebte. Das Leben war unberechenbar. Das wusste ich. Also wieso sollte ich auf diese kleine Freude verzichten?
Ich legte mich auf den Rücken und betrachtete den Himmel. Ich hatte noch nie so viele Sterne gesehen. In Zürich konnte man die Sterne meist nicht gut sehen, und hier glitzerte der ganze Himmel. Es sah wunderschön aus. Ich dachte lange nach, was hier noch anders war, und plötzlich wurde es mir bewusst: die Stille. Man hörte nichts, kein Rauschen des Verkehrs, keine Fernseher oder Radios, die laut aufgedreht waren, keine lärmenden Nachbarn. Es war ganz still. Als wäre die Zeit stehen geblieben.
Am nächsten Morgen um Viertel nach sechs klingelte mein Wecker. Ich drehte mich auf die andere Seite, drückte das Kopfkissen an meine Ohren und wünschte mir, dass es nicht schon Morgen wäre. Ich überwand mich, schlug die Bettdecke zurück, setzte mich auf, stellte den Wecker mürrisch ab und zog mich an. In den Socken, mit den Schuhen in der Hand, schlich ich leise nach unten, um die Kinder nicht zu wecken. Jul stand bereits in der Küche und kochte Kaffee, es duftete herrlich. Nichts ging über einen guten Kaffee und danach eine Zigarette. Ich trank meinen Kaffee, Schluck für Schluck, und ging dann nach draussen, um eine zu rauchen. Erstaunlicherweise hatte Jul nichts gegen das Rauchen gesagt, oder vielleicht noch nicht?! Ich setzte mich auf die Bank auf der Veranda und schaute zu, wie die Sonne am Horizont erschien und immer grösser wurde. Dann gingen wir in den Garten.
Eineinhalb Stunden lang befreiten wir die Beete von Unkraut, gossen die Pflanzen und flickten den Gartenzaun. Dann standen die Kinder auf, und Jul schickte mich ins Haus, um mit ihnen zu frühstücken. Naomi zeigte mir, wie man Pancakes zubereitete. Die Pancakes, die ich am Tag zuvor gemacht hatte, waren nicht halb so gut wie ihre. Naja, was soll’s! Ich ass mit den Kindern, räumte die Küche auf und ging anschliessend mit ihnen nach draussen, um zu spielen. Ich mochte die Kinder sehr. Sie waren überhaupt nicht scheu und fragten und erzählten, wie es nur Kinder machen. Diese offene und direkte Art, ihre unverblümte Neugierde und ihre Phantasien – genau das vermisste ich bei den Erwachsenen. Es ging irgendwann zwischen Kindheit, Jugend und Erwachsenwerden verloren.
Wir spielten mit den Holzfigürchen, hatten Spass am Verstecken und Fangen. Anschliessend kramten Ron und Leon ihre Spielzeugautos hervor, und ich frisierte mit Naomi ihre Puppen. Nach dem Mittagessen brauchte ich meine Ruhe und zog mich in mein Zimmer zurück.
Meine gute Laune war verflogen. Ich brauchte eine Pause von den Kindern, doch was sollte ich nun tun? Ich hatte keine Idee. Ich versuchte mir vorzustellen, was ich zu Hause machen würde. Das nützte mir nichts. Denn alles, was mir in den Sinn kam, konnte ich hier nicht machen. Ich ärgerte mich immer mehr. Ich hasste es, herumzuhängen und mich zu langweilen. Je länger ich darüber nachdachte, was ich machen könnte, desto wütender wurde ich. Da klopfte es an meiner Zimmertüre, und Bills raue Stimme ertönte: «Samira? Ich muss nach Kyle fahren, um ein paar Dinge zu erledigen … wenn du willst, kannst du mitkommen. Dann siehst du etwas vom Reservat.»
Schon war ich aus dem Bett gesprungen, schnappte meine Tasche und riss die Zimmertür auf: «Bin bereit, es kann losgehen!» Bill schaute mich verblüfft an: «Na, dann lass uns gehen.»
Jul und Bill hatten zwei Autos, einen Jeep und einen Pick-up mit einer grossen Ladefläche, auf den wir zusteuerten. Ich nahm an, Bill brauchte ihn für seine Arbeit, um Material zu transportieren.
Neugierig schaute ich aus dem Fenster und betrachtete die Landschaft. Jul wohnte mit ihrer Familie in einem kleinen Tal an den Ausläufern eines Hügels. Als wir um den Hügel herumbogen, konnte ich mehrere Häuser oder, besser gesagt, Fertighäuser aus Plastik sehen. Die sogenannten Trailers standen verstreut, wie kleine Bauklötzchen, die irgendwo hingeworfen worden waren, in der Landschaft. Wir fuhren an dem ersten Trailer vorbei: Er sah sehr heruntergekommen und schmuddelig aus. Nach weiteren zehn Minuten bogen wir auf eine Schotterstrasse ein. Die Landschaft um uns herum war karg und trocken. Vereinzelte Grasbüschel und sonst nichts. Trostlos. Wir fuhren eine halbe Stunde oder mehr. Es kam mir endlos vor.
Inzwischen fuhren wir auf einer Asphaltstrasse. Plötzlich tauchten links und rechts von der Strasse Häuser auf, und kurz darauf waren wir in Kyle. Bill erzählte mir, Kyle sei die nächste grössere Stadt. Es gab zwei Tankstellen, eine davon hatte einen Lebensmittelladen, ein Kulturzentrum mit dem Kyle Food Stop Café, eine Kirche, die Little Wound School, was so viel wie Büffelkopfschule bedeutet, und eine Menge ziemlich heruntergekommener Wohnhäuser. Überall an den Strassenrändern und neben den Häusern stapelten sich Müll, Autowracks und einfach alles, was die Leute nicht mehr brauchten. Wie konnte man zwischen all diesem Schrott leben? Einmal mehr schien es mir, als könnte Bill meine Gedanken lesen: «Für uns Indianer haben Dinge wie Autos, Möbel oder elektronische Geräte keinen Wert. Besitz hat keinen Wert und das hat zur Folge, dass viele den Sachen keine Sorge tragen.»
«Das kann ich ja einigermassen verstehen. Aber es kann doch nicht sein, dass man alles liegen lässt. Ich dachte immer, für euch Indianer sei die Natur euer Ein und Alles!»
«Das stimmt. Die Mutter Erde ist uns heilig.»
«Warum verschmutzt ihr sie denn, wenn sie euch heilig ist?»
«Ich weiss es nicht. Ich gebe mir alle Mühe, es nicht zu tun. Die Zeiten haben sich geändert. Viele haben die alten Werte vergessen und leben ganz nach dem Motto Nummer eins in den USA: verbrauchen. Und auf der anderen Seite hat sich hier im Reservat in den letzten Jahren nicht viel getan. Die Entsorgung ist zum Beispiel sehr schlecht organisiert oder existiert gar nicht.»
«Wovon leben die Menschen hier? Gibt es Jobs?»
«Das ist das grosse Problem! Die Arbeitslosenquote liegt bei fünfundachtzig Prozent!»
«Fünfundachtzig Prozent?»
«Ja! Das ist eine unglaubliche Zahl.»
Ich schluckte leer. Das war mir unvorstellbar.
«Es gibt hier keine Arbeit, es gibt keine Industrie, das Land ist unfruchtbar und zum Teil durch Chemikalienentsorgungen der Regierung verseucht. Wer Land besitzt, verpachtet es an Grossunternehmen der weissen Farmer.»
«Gibt es so etwas wie Sozialhilfe?»
«Ja. Dazu kommen Lebensmittelmarken für Kinder.»
«Dann gehört ihr, also du und Jul, sozusagen zu den Wohlhabenden?»
«Wenn du es so formulieren willst.»
«Wie würdest du es sagen?»
«Auch wenn es hier viele Steine im Weg hat, würde ich behaupten, man kann es auch hier zu etwas bringen. Mit viel Geduld und dem Glauben, dass man etwas erreichen kann. Viele haben die Hoffnung auf Verbesserung unserer Lebensumstände aufgegeben, aber von alleine wird sich nichts ändern.»
«Hmm … die Energie, die man ausstrahlt, kommt zurück, sei es negativ oder positiv!»
«So ist es.»
Wir hielten an der Tankstelle, und Bill tankte den Wagen. Etwas ausserhalb der Stadt bogen wir auf einen Feldweg ein, der zu einer kleinen Siedlung auf einer Anhöhe führte. Bill hielt den Pick-up vor einem kleinen Haus an, das mit einem Gerüst umstellt war. Zwei junge Männer waren dabei, das Gerüst zu demontieren und auf einen alten Truck zu laden. Bill stieg aus und winkte mir. Ich folgte ihm. Er grüsste die zwei Männern und ging die Holztreppe zur Veranda hinauf. Die beiden musterten mich. Sie sagten etwas in einer mir fremden Sprache und lachten. Es musste Lakota sein, die Sprache der Lakotaindianer. Ich hob die Augenbrauen und schaute sie fragend an.
Sie lachten noch mehr, und so sprang ich die Treppe hinauf zu Bill, der vor der Haustüre stand.
«Was haben die gesagt? Was war so unglaublich lustig?», wollte ich von Bill wissen, doch er schüttelte den Kopf: «Mach dir nichts draus.»
«Ich will es aber wissen.»
«Na gut. Es gibt da eine alte Geschichte über eine Frau, die überirdisch schön war und in den Tiefen des Waldes im Norden lebte. Höchstselten wurde sie gesehen, denn sie war sehr geschickt und schnell. Viele junge Männer versuchten, sie zu finden und um ihre Liebe zu kämpfen. Aber sie hatte ein kaltes Herz und brachte alle um. Ein Blick mit ihren tief grünen Augen genügte, und die Männer starben unter höllischen Schmerzen und zerfielen in Tausende von Blättern, die der Wind davon trug.»
«Okay, und an das glaubt ihr? Das ist nicht dein Ernst?»
«Es ist eine alte Geschichte, die man sich gerne erzählt.»
«Suuper, und jetzt haben alle das Gefühl, ich sei diese grausame, wilde Frau, nur weil ich grüne Augen habe?»
Er lachte: «Nein, natürlich nicht. Mach dir nichts aus diesen zwei Witzbolden.»
Ich verzog den Mund und drehte mich überrascht um, als plötzlich eine ältere Frau die Türe öffnete. Sie begrüsste Bill, und schaute mich freudig überrascht an und meinte: «Oh, hallo meine Liebe, du bist wohl die Nichte aus der Schweiz.»
Ich schaute sie ebenfalls überrascht an und sagte: «Ja, die bin ich. Woher wissen Sie das, Mam?»
Sie und Bill lachten. «Kindchen, hier wissen immer alle sofort den neusten Klatsch.»
Na toll, dachte ich, was wussten sie wohl alles über mich?
Sie führte uns in die Küche. Wir setzten uns an den Küchentisch. Sie schenkte uns Kaffee ein und setzte sich zu uns. Ich schaute sie fragend an, und sie meinte: «Wenn hier mal etwas Spannendes passiert, wissen es sofort alle, darauf kannst du zählen! Und übrigens, Samira, du kannst mich Aaliyah nennen! Ich bin die Mutter von Bill.»
Jetzt, wo sie es sagte, erkannte ich die Ähnlichkeit: Sie hatten dieselben Augen. Wieso war ich nicht vorher draufgekommen?
Bill und Aaliyah besprachen ein paar Dinge, dann verabschiedeten wir uns und fuhren zurück auf die Asphaltstrasse. Wir fuhren etwa zwei Meilen Richtung Norden, bevor wir wieder auf einen kleinen Feldweg einbogen. Nach kurzer Zeit erreichten wir einen alten Schuppen. Zwei Trucks standen davor, und Bill parkte daneben. Dieses Mal blieb ich im Wagen und kramte meine Headphones aus meiner Tasche. Nach einer halben Stunde kam Bill zurück. Er hatte die Ladefläche des Trucks mit Holzlatten und anderen Baumaterialien beladen.
Ich bereute es langsam, mitgegangen zu sein, denn ich fragte mich, was ich hier sollte. Zusehen, wie er mit seiner Mutter Kaffee trinkt und wie er Holzlatten auflädt? Und was nützte es mir, wenn ich wusste, Kyle ist die nächste grössere Stadt, wenn es dort nicht einmal ein Kino, ein Shoppingcenter oder sonstige Freizeitangebote gab? Bill hatte bemerkt, dass ich mich langweilte, und sagte: «Sorry, das hat etwas länger gedauert, als ich dachte. Aber jetzt fahren wir zu meinem Bruder Jim, Liam ist sein Sohn.»
«Oh, okay.» Mein Interesse war geweckt. Liam war also der Cousin von Naomi, Ron und Leon. Das hatte er mir nicht erzählt. Dann war er auch irgendwie mein Cousin, oder etwa nicht? Auf jeden Fall freute ich mich auf ein Wiedersehen mit Liam. Ich mochte ihn sehr und hoffte, er würde mir die Zeit hier etwas erträglicher machen.
Ich schaute aus dem Fenster. Überall entlang der Strasse lagen Dosen und zersplitterte Glasflaschen. Da fiel mir ein farbiger Fleck nahe der Fahrbahn auf, und ich kniff die Augen zusammen, um ihn besser zu sehen. Als wir schon fast vorbeigefahren waren, erkannte ich, was es war: ein geschmücktes kleines Kreuz. Während unserer kurzen Fahrt auf dem Highway sah ich noch zwei weitere Kreuze.
«Bill?»
«Ja?»
«Hier gibt es wohl viele Unfälle?»
«Meinst du wegen den Kreuzen am Wegrand?»
«Ja.»
«Hmm … Hast du auch die vielen Flaschen bemerkt?»
«Ja.»
«Der Alkoholkonsum ist ein grosses Problem, dazu kommt die hohe Selbstmordrate, gerade unter Jugendlichen.»
Mir lief ein Schauer über den Rücken, und ich versuchte, die Bilder in meinem Kopf zu vertreiben. Schweigend fuhren wir weiter. Irgendwann erreichten wir eine Schotterstrasse. Bill hielt den Pick-up an und stieg aus. Ich schaute zu, wie er um das Auto herumging und die Beifahrertür öffnete: «Rutsch rüber! Du kannst jetzt weiterfahren.»
Ich schaute ihn wohl ziemlich verdattert an, denn er lachte. «Du weisst schon, dass ich nicht Autofahren kann?», erwiderte ich stirnrunzelnd.
«Ja klar, darum sollst du es nun lernen, denn ohne Auto ist man hier aufgeschmissen.»
Aufgeregt rutschte ich auf den Fahrersitz. Bill erklärte mir, wie ich den Pick-up zu handhaben hatte, dann lehnte er sich zurück und wartete gespannt, dass ich losfuhr. Ich startete den Motor, hob den Fuss von der Bremse und der Wagen rollte los. Ich war unsicher am Anfang, doch mit der Zeit ging es immer besser, und es machte richtig Spass. Ich war noch nie am Steuer eines Autos gesessen. Ich fuhr einen Pick-up durch die Prärie. Ich schmunzelte. Das war cool.
Wir hielten vor einem neuen Holzhaus, in dem Liam mit seiner Familie wohnte. Ich erkannte dahinter eine Koppel mit Pferden und einen Schuppen. Wir stiegen aus, und ein Hund kam schwanzwedelnd unter der Veranda hervor. Er kläffte mich kurz an, hörte aber auf, als ich in die Hocke ging und ihn meine Hände beschnuppern liess.
Da ging auch schon die Tür auf und eine kräftige Frau um die Vierzig kam heraus. Sie hiess Amelie und war Bills Schwägerin. Sie begrüsste mich herzlich und führte uns ins Haus. Im Wohnzimmer waren zwei Mädchen dabei, zwei helle Hemden mit Perlen zu besticken. Als sie uns sahen, blickten sie neugierig auf und stellten sich als Eboney und Ayana vor. Sie waren Liams jüngere Schwestern. Bill ging mit Amelie in die Küche, und ich setzte mich zu den Mädchen.
Eboney fragte mich: «Weisst du, was ein Powwow ist? Wahrscheinlich nicht, oder?»
«Ich habe schon davon gehört. Ist das ein Tanzfest?»
«Ja. Ein Powwow ist ein Musik- und Tanzfest der Indianer. Für die Weissen sind die Powwows heute in erster Linie ein Abbild der traditionellen Lebensweise der Ureinwohner, der nordamerikanischen Indianer. Für uns bedeuten die Powwows viel mehr. Die Zeremonie des Einzugs in die Tanzarena ist heilig, und beim anschliessenden Tanzen ehrt man die verstorbenen Krieger und Führer unseres Volkes. Solche Feste sind wichtig für uns Indianer. Wir können so unsere Traditionen weiterleben und sie stärken.»
Ayana nickte und hob ihr Hemd hoch: «Schau, wir sind seit Monaten daran, unsere Kleider zu nähen, mit Perlen zu besticken und mit Federn zu verzieren!»
Ich war beeindruckt von diesen wunderschönen Kleidern, die sie selbst genäht hatten. «Eure Kleider sind wunderschön! Vielleicht kann ich ja auch kommen zu diesem Powwow … Jul und Bill gehen bestimmt.»
«Ja klar, sie kommen auch. Bill wird als Tänzer teilnehmen wie jedes Jahr.»
«Genauso wie ich!», sagte plötzlich eine Stimme hinter mir, und ich drehte mich um. Liam lehnte im Türrahmen und grinste mich an. Ich lachte freudig zurück. Sein Grinsen war der Hammer: Er sah aus wie ein zu gross geratener Kobold.
Liam fragte: «Willst du mein Kleid sehen?»
«Ja, gern.»
«Na, dann komm!»
Ich folgte Liam, der am Ende des Gangs eine Tür öffnete. Wir traten in ein kleines Zimmer. Es hatte ein Fenster, davor stand ein Schreibtisch mit einem Stuhl, an der Wand neben der Türe ein Bett, daneben ein Regal, das mit Büchern vollgestopft war. Auf der anderen Seite war ein Kleiderschrank.