Kitabı oku: «KLEINER DRACHE», sayfa 2
Sie hätte gern ihre Mutter angerufen, auch wenn es ihr schwergefallen wäre, sich ihr in diesem Moment der Verunsicherung anzuvertrauen, sei es aus Angst vor Zurückweisung, aus Scham über ihr nichtverschuldetes Versagen oder schlicht und einfach Ehrfurcht. Doch ihre Mutter hatte ihren jährlichen Zweiwochenurlaub angetreten und nahm während dieser Zeit keine Gespräche entgegen. Niemand wusste, wo sie die Urlaubszeit verbrachte, ob in einem Kloster, beim Glücksspiel oder bei einem heimlichen Geliebten. Trotzdem überlegte Xialong, ob sie es nicht wenigstens versuchen sollte, doch dann schüttelte sie den Kopf, ging zur Tür, trat auf den Gang, fuhr hinunter in die Tiefgarage und setzte sich auf ihr SegBike.
2
Eigentlich hatte sie nach Hause gewollt, doch stattdessen kurvte sie ziellos durch die Gegend, vorbei an Lebenden Fassaden, Geschäften, Bürohäusern, Horden von Fußgängern und Strömen von Verkehr. Sie wartete darauf, dass sich der Nebel in ihrem Kopf lichtete, konnte aber keinen klaren Gedanken fassen. Die unerklärliche Wendung des Tages, der sie ihrem großen Ziel einen entscheidenden Schritt hätte näherbringen sollen, hatte sie stärker erschüttert, als sie sich zunächst eingestanden hatte. Auf einmal merkte sie, dass sie fast wieder an ihrem Ausgangspunkt angelangt war. Einen Straßenblock entfernt ragte der Glaspalast der Himmlischen Geschöpfe auf, ein Eckgebäude mit einem kleinen Vorplatz und einem überdachten Eingang, an dem die mit dem eigenen Fahrer oder dem Bottaxi eintreffenden Kunden auch bei Regen aussteigen konnten, ohne nass zu werden. Heute war mit Autokunden kaum zu rechnen, denn auf der Straße der Goldenen Chrysanthemen herrschte seit dem Morgen Stau, da half auch keine noch so intelligente Fahrzeuginteraktion mehr weiter, und die Luftstraße, die Ebene für die Schwebfahrzeuge, die unsichtbar über der Straße verlief, war den Behörden, Politikern und einigen wenigen VIPs mit Sondergenehmigung vorbehalten.
Mobile Händler auf wendigen SegBikes versorgten die Insassen der Fahrzeuge mit Getränken und Speisen. Einige hatten Gasflaschen mit Wasserstoff für die Brennstoffzellenautos auf den Rücken geschnallt. Junge Burschen schoben schwere Karren mit Austauschbatterien über den Gehsteig.
Xialong stieg ab und setzte sich in zweihundert Metern Entfernung auf eine Bank. Sie fühlte sich eigentümlich losgelöst von ihrer Umgebung, so als schwebe sie einen halben Meter über dem Erdboden. Die durch die Geschäftsstraße wimmelnden Menschen kamen ihr vor wie Aliens. Etwa die Hälfte trug eine AR-Brille, bei den Jungen war der Anteil noch höher. Eingesponnen in eine Zwischenwelt aus Realem und Virtuellem, staksten sie wie Cyborgs einher. Sie gestikulierten, bewegten die Münder, machten Ausfallschritte, ohne dass ein Hindernis zu sehen gewesen wäre. Wenn sie einander anrempelten, erwachten sie für einen Moment aus ihrer Halbtrance, entschuldigten sich mit der Dreifingergeste und machten da weiter, wo sie aufgehört hatten, was immer es war. Die zahlreichen Einkaufs- und Transportbots, die summend und sirrend auf dem breiten Gehsteig unterwegs waren, hatten Mühe, Zusammenstößen auszuweichen, und verharrten immer wieder in Wartestellung, bis sich vor ihnen eine Lücke auftat.
Xialongs Blick fiel auf einen Mann mittleren Alters mit orangefarbenem Haar. Er trug einen schlecht sitzenden grauen Anzug, den er offenbar in einem Secondhandladen erstanden hatte, einen dunkelroten Rucksack und Sandalen. Wie ein Bot mit defektem Sensorium hatte er sich an einer Straßenlaterne festgelaufen. Immer wieder machte er Anstalten weiterzugehen und drückte seinen Bauch gegen den Mast. Als ihm das nicht gelang, wich er einen Schritt zurück und schlug mit bloßen Fäusten auf die Laterne ein, die er wohl mit dem imaginären Gegner eines Overlayspiels identifizierte. In Wirklichkeit hatte er es mit dem metallenen Hohlmantel des Laternenmasts zu tun. Seine Hände waren aufgeplatzt, und das Blut tropfte auf den Boden. Entweder nahm er den Schmerz nicht wahr, oder er ordnete ihn der virtuellen Realität zu, in der er gefangen war.
Eine Gruppe von Schaulustigen hatte sich um ihn versammelt. Die Menschen gafften und lachten, und es wurden immer mehr. Sie feuerten den Mann an. Kinder und Erwachsene drückten sich im Straßenstau die Nase an den Fensterscheiben platt. Plötzlich schoss in drei Meter Höhe über dem Stau ein dunkelgraues Schwebfahrzeug heran und senkte sich neben der Laterne auf den Gehsteig ab. Die Gaffer machten ihm Platz und schlossen sich unwillig den strömenden Fußgängerscharen an. Männer in Jeans und weißen Hemden sprangen aus dem Fahrzeug. Da es keine Kennzeichnung trug, war nicht zu erkennen, ob sie dem Geheimdienst, der Polizei oder einem mobilen Greiftrupp für AR-Opfer angehörten. Sie legten dem Verwirrten Handfesseln an und zogen ihn ins Fahrzeug, das gleich darauf emporstieg und wie ein augenloser Tiefseefisch davonglitt.
Xialong wurde bewusst, dass ihr Com heute noch nicht geklingelt hatte. Ihr Armreif zeigte keine einzige Nachricht an, Ken hatte kein einziges Gespräch angenommen oder abgelehnt. Auf einmal kam sie sich vor wie eine Ausgestoßene. Alle Menschen hatten sie vergessen, die Welt drehte sich ohne sie weiter. Sie hob den Arm und flüsterte ins Com: »Ken, hörst du mich?«
Sein freundliches Gesicht baute sich vor ihr auf, eine zehn Zentimeter hohe holografische Projektion. »Ich höre dich klar und deutlich, Xialong«, sagte er.
»Dann sag mir, ob das Com defekt ist.«
»Das Gerät funktioniert einwandfrei.«
»Das ist unmöglich.«
»Dein Misstrauen verletzt mich.«
»Du bist nicht wirklich hilfreich, Ken«, sagte sie. »Und wenn ich’s mir recht überlege, bist du in dieser Situation sogar nutzlos.« Sie senkte den Arm, die Projektion erlosch. Eine winzige Version davon verweilte noch auf der kupferfarbenen Schuppenhaut des Armbands; sie schnippte das Ken-Icon weg. Als sie wieder aufsah, bemerkte sie ein zweites Schwebfahrzeug, das sich über der Fahrbahn der Straßenecke näherte. Es war eine teure Limousine, ein schwarzer Rochen mit getönten Fenstern. Auch die Rotorelemente waren schwarz. Das Schwebfahrzeug bog auf den kleinen Eckplatz vor dem Himmlische Geschöpfe ein und senkte sich ab. Die Türen öffneten sich, zwei Männer in dunklen Anzügen sprangen heraus und nahmen neben dem Fahrzeug Aufstellung. Eine junge Frau mit schulterlangem Haar stieg aus, bekleidet mit einem dunkelgrauen Kostüm. Sie hielt eine dunkelgelbe Schultertasche in der Hand und schritt, flankiert von den beiden Bodyguards, zum Eingang des Geschäfts. Xialong hatte die Frau noch nie im Verkaufsraum gesehen. Sie sah sie nur schräg von hinten, doch etwas an ihren Bewegungen veranlasste sie, ihr gebannt mit den Augen zu folgen, bis sie im Gebäude verschwunden war.
Xialong wohnte in einem Neunzig-Quadratmeter-Apartment im Wohnturm Ewiger Frieden, nicht weit vom Park der Glücklichen Familie gelegen. Ausschlaggebend für die Wahl waren die durch keine höheren Türme verstellte Aussicht sowie das Schwimmbad im höchsten, dem einundsiebzigsten Stock gewesen. Während sie, eingehüllt in die vertraute Enge der Expresskabine und die Geräusche der Belüftungsanlage und des Seilzugs, zu ihrem Apartment hochfuhr, stellten sich beruhigende Bilder ein, welche die verstörenden Ereignisse des noch jungen Tages relativierten. Ken – eine andere, fehlerfrei funktionierende Version von Ken – würde sie begrüßen. An der Wand hinter dem Esstisch würde die Überraschungslandschaft des Tages leuchten, und in den Himmel eingebettet wären die wichtigsten Nachrichten, darunter ein kleines Videoselfie von Choum, der ihr mitteilte, dass er das nächste Treffen gar nicht erwarten könne. Sie würde die Antwort hinauszögern und sich stattdessen die Entschuldigungen der Regionaldirektoren vorlesen lassen, die aufgrund eines Softwarefehlers in der firmeninternen Terminverwaltung die Videokonferenz versäumt hatten. Auch mit diesen Antworten würde sie sich Zeit lassen. Irgendwann aber würde die Konferenz stattfinden, sie würde die neue Strategie festlegen und am Ende die ganze Firma übernehmen, wie ihre Mutter es wollte.
Mit leisem Fauchen glitt die Kabinentür auf. Als sie auf den Gang trat, streifte etwas ihr Gesicht. Sie schlug es mit Hand weg, dann erst hörte sie das Sirren, Schwirren, Brummen. Der Flur war voll Insekten: blaue und gelbe Schmetterlinge, braune und graue Motten mit dicken Leibern. Sie saßen auf den mit klassischen Pflanzendarstellungen geschmückten Wänden und krabbelten über die Decke, flogen umher und umtanzten die Leuchtfelder. Der Anblick war grotesk und beängstigend, als hätte sich ein Teil des virtuellen Coladschungels, der diese Woche auf den Fassaden vieler Gebäude wucherte, verselbstständigt und in dieser modernen Wohnmaschine mit den hermetisch geschlossenen Fensterflächen materialisiert.
Sie hob den Arm, damit ihr PA die Bescherung sehen konnte.
»Ken?«, flüsterte sie. »Was hat das zu bedeuten?«
»Ich weiß nicht, wie die Frage gemeint ist.«
»Woher kommen die?«
»Es könnte sein, dass ein Flurnachbar eine Schmetterlingszucht betreibt und die Brutschränke und die Wohnungstür offen gelassen hat.«
Sie wandte sich nach rechts zu ihrer Wohnung und achtete darauf, auf keines der Tiere zu treten. Als sie den Kirschblütenzweig neben ihrer Tür erreicht hatte, schaute sie hoch. Ihr Blick fiel auf eine besonders dicke Motte, die sich mit ihren sechs Beinen an die Wand klammerte. Ihr dicker, behaarter Leib bewegte sich sachte auf und ab, die gefiederten Antennen zitterten. Sie wirkte größer als alle anderen Motten, der Rüssel war stark ausgeprägt und glich dem Saugorgan einer Mücke, was ihr einen Anstrich von Gefährlichkeit verlieh. Als Xialong die automatisch entriegelte Tür öffnete, hob die Motte ab und schwirrte durch den Spalt, noch ehe Xialong die Wohnung betreten konnte. Sie folgte ihr rasch, damit nicht noch mehr Tiere nachkamen, und schloss die Tür hinter sich.
Die Motte hatte sich auf den Rahmen des Bildes ihrer Mutter gesetzt, das identisch war mit dem Foto in ihrem Büro. Während Xialong sich nach einem Gegenstand umsah, mit dem sie das Insekt erschlagen konnte, bewegte die Motte die Antennen, als ob sie sich im Raum orientierte. Xialong legte die Tasche ab, lief ins Bad und kam mit einem Handtuch zurück. In diesem Moment hob die Motte vom Rahmen ab und drehte langsam eine Kurve durchs Zimmer. Von der Seite war der Saugrüssel deutlich zu erkennen. Die Flugbahn wirkte unnatürlich gleichmäßig.
»Ken?«, flüsterte Xialong, zog das InEar vom Armband ab und drückte es sich ins Ohr. »Was ist das für eine Motte?«
»Das ist keine Motte. Das ist eine …«
Xialong war stehen geblieben, folgte der Motte mit den Augen und verdrehte das Handtuch zu einem festen Strang. Als sich die Motte seitlich hinter ihr befand, kam sie näher.
»… Drohne.«
Xialong fuhr herum, holte aus und schlug zu. Der Hieb ging daneben. Die Motte wich zurück und versuchte erneut, in ihren Rücken zu gelangen. Xialong aber drehte sich mit, machte plötzlich einen Ausfallschritt, stolperte über den Staubsaugerbot und schlug im Fallen erneut mit dem Handtuch zu, diesmal begleitet von einem kleinen Schrei, der ihre Angst in Zorn verwandelte. Die Motte wurde gegen die Wand geschleudert, fiel zu Boden und drehte sich sirrend auf dem Teppich. Xialong schnellte hoch, setzte ihr nach und schlug immer wieder mit dem Handtuch zu, bis das Ding sich nicht mehr regte. Dann schaute sie sich keuchend im Zimmer nach weiteren Angreifern um, konnte aber keinen entdecken.
»Was war das, Ken?«
»Zeig mir das Gerät.«
Sie kroch zum Tisch und hielt das Com vor die Motte mit den zerknitterten Flügeln und dem verbogenen Rüssel.
»Das ist eine mir unbekannte Variante des Modells Sichere Heimat«, sagte Ken. Die Drohne Sichere Heimat wurde vor allem bei der Grenzsicherung und beim Kampf gegen den Terrorismus eingesetzt.
»Bist du sicher, dass die Drohne in unserem Haus hergestellt wurde?«, fragte Xialong entgeistert. Mit »unserem Haus« meinte sie Jiqiren, den Mutterkonzern von Himmlische Geschöpfe, und das hatte Ken auch so verstanden.
»Die Flügel wurden modifiziert, damit die Drohne lebensechter wirkt. Aber sie basiert ohne jeden Zweifel auf dem Modell Sichere Heimat. Das lässt sich auch ohne eingehendere Untersuchung sagen.«
»Das war eine Killerdrohne.«
»Ja, Xialong. Leider.«
Sie blickte sich hektisch in ihrem Apartment um: hellgraue Wände, italienische Designermöbel, die Bildwand zeigte heute eine Fantasielandschaft von Img Kowloon an, bei der Rottöne dominierten. Ein Putzbot glitt im Schleichtempo die Fensterscheibe entlang. Alles schien wie immer, dabei hatte sich alles verändert.
»Hat jemand in meiner Abwesenheit versucht, in die Wohnung einzudringen?«, fragte sie mit zitternder Stimme.
»Nein«, antwortete Ken. »Soll ich den Hausservice damit beauftragen, den Flur zu säubern?«
»Was? Ja, bitte tu das. Und sie sollen eine Bestätigung an dich senden, sobald sie fertig sind.«
Sie schaute auf das gerahmte Foto an der Wand. »Mutter«, flüsterte sie. »Was soll ich jetzt tun?« Mit großen Augen schaute sie in das so vertraute Gesicht, doch es gab keine Antwort.
Sie blieb auf dem Teppich sitzen, bis Ken sie informierte, dass der Flur von Insekten gereinigt sei. Dann richtete sie sich auf und begann zu packen. Lange brauchte sie nicht. Eine Reisetasche musste reichen.
3
Auf dem Potala-Platz vor dem verwaisten Winterpalast des letzten Dalai Lama standen siebzehn überdimensionale Gebetsmühlen, jede zweieinhalb Meter hoch. An der Ober- und Unterseite waren sie mit breiten Goldstreifen verziert, auf dem erdfarbenen Röhrenkorpus waren Mantras in ebenfalls goldener Farbe aufgemalt. Sechzehn der siebzehn Gebetsmühlen standen still, die siebzehnte drehte sich auf ihrem Podest stetig im Kreis. Vor elf Tagen hatten Glaubensbrüder die Mühle über dem ehrwürdigen Mönch Chogyal abgesenkt, und seitdem schob er unablässig die im Innern angebrachte Holzstange vor sich her und versetzte das Tongehäuse in Drehung. In der ganzen Zeit hatte er kein Wasser und keine Nahrung zu sich gekommen. Keiner der anderen sechzehn Mönche, die ihr Leben für den Protest gegen die chinesischen Unterdrücker geopfert hatten, hatte länger als drei Tage durchgehalten. Die siebzehnte Gebetsmühle aber drehte sich noch immer wie am ersten Tag, und wer sie ansah, dem trat unweigerlich die Gestalt des kleinen, hageren Chogyal vor Augen, der im finsteren Innern unermüdlich seine Kreise zog und das unsichtbare Licht der Mantras zu allen fühlenden Wesen aussandte.
Von Tag zu Tag strömten mehr Besucher herbei. Sie kamen aus Lhasa und aus anderen Orten Tibets, doch einige waren sogar aus dem chinesischen Kernland angereist. Sie alle standen reglos am Rand des Platzes, vereint in ehrfürchtigem Staunen, und starrten die sich drehende Gebetsmühle an. Einige hielten Ausdrucke mit dem Konterfei Chogyals in die Höhe, niemand sprach. Sie warteten auf den Moment, da die Drehung des Tongehäuses zum Stillstand kommen und der Kleine Mönch, wie er liebevoll genannt wurde, das Samsara, das Gefängnis des Leidens, hinter sich lassen und ins Nirvana eingehen würde.
Die staatlichen Vertreter, die Polizisten und Geheimdienstler in Zivil, schauten ebenso gebannt wie die Neugierigen, die Frommen und die Protestler. Erkennbar entweder an ihren grauen Uniformen oder ihrer gepflegten teuren Nachlässigkeit, waren sie in eine Art Lähmung verfallen. Die Vertreter der Staatsmacht, die es gewohnt waren zu prügeln, zu verhaften, zu verschleppen und die ohne Gerichtsprozess Verurteilten umzuerziehen, mit Bewusstseinsdrogen zu quälen und mit neuroaktiven Implantaten zu unterwerfen, wirkten unschlüssig, aller angemaßten Macht beraubt. Hatten sie Anweisung, sich zurückzuhalten, oder konnten auch sie sich der Ehrfurcht gebietenden Monotonie des Vorgangs auf dem Platz nicht entziehen? Fürchteten sie die Bilder, die von Drohnen, denen einfach nicht Herr zu werden war, über dunkle Kanäle ins ganze Reich übertragen wurden und sogar ihren Weg durch die Große Mauer ins Ausland fanden? Oder waren auch sie ergriffen von dem Wunder des seit elf Tagen andauernden Kreisgangs des unsichtbaren Mönchs in der Gebetsmühle? Es war, als habe er sich längst entmaterialisiert, und an seine Stelle sei eine unpersönliche Kraft getreten, die größer und wahrer war als alle Anweisungen, die in den Einsatzplänen standen, klarer und zwingender als die Worte, die über die InEars in ihre Köpfe drangen.
Ein kleiner Junge zwängte sich zwischen den Zuschauern hindurch und rannte auf den Platz. Offenbar wollte er Chogyals Gebetsmühle berühren. Der stillschweigende Waffenstillstand zwischen Zuschauern und Ordnungskräften war damit hinfällig geworden, der Bann gebrochen. Vier, fünf, sechs Männer stürmten auf die Freifläche und fingen den Jungen ab. Einer lähmte ihn mit einem Taser, einer trat ihm in die Seite, einer legte ihm Handfesseln an, zwei schwenkten Distanzwaffen, um die Zuschauer am Eingreifen zu hindern. Eine Kampfdrohne löste sich vom Befreiungsdenkmal und beschrieb langsam einen Kreis. Der bewusstlose Junge wurde zu einem grauen Wagen getragen.
Onkel Wu schaltete den Ton ab. Er schenkte sich grünen Tee nach und schüttelte den Kopf. Er wusste nicht, was er von alldem halten sollte. Viele Menschen fürchteten sich in diesen bewegten Zeiten. Sie suchten nach einem Halt in den Fluten, die sie in den Strudel des Wandels zu ziehen drohten, und klammerten sich an vieles, das fragwürdig war. Sie sehnten sich nach Offenbarungen, Zeichen, Wundern und suchten Zuflucht bei den abstrusesten Überzeugungen. Aber wenn es nun stimmte, dass Chogyal seit elf Tagen in der Finsternis der Gebetsmühle seine Kreise zog? Was wäre, wenn der Tonzylinder sich auch morgen und übermorgen noch drehte? Was hätte es zu bedeuten? Er kannte die Dokumentaraufnahmen, welche die Regierung immer dann im Fernsehen zeigte, wenn es in Tibet zu Aufständen kam. Zu sehen waren zerlumpte Menschen, die zu Füßen der prachtvollen Klöster das Land bestellten, das ihnen nicht gehörte. Verstümmelte Bettler säumten die Straßen, manche Arbeiter trugen Fußfesseln. Bis zur Übernahme der Verwaltung durch die chinesische Regierung im Jahr 1959 hatte dort Leibeigenschaft geherrscht. Jetzt waren die Menschen angeblich frei – aber weshalb hingen sie dann an den alten Traditionen und verehrten die Mönche? Onkel Wu war kein Tibeter, sondern Chinese, doch die Bilder, die alten und die neuen, ließen ihn nicht kalt. Genau genommen wühlten sie ihn stärker auf, als in seinem Alter gut für ihn war.
An der Tür wurde geklopft; die Klingelanlage (mit konfigurierbarem Signalton und Videomonitor) hatte von Anfang an nicht funktioniert. Onkel Wu sah auf die Zeitanzeige an der Videowand. Es war bereits halb elf, spät für seine Verhältnisse. Wer konnte das sein?
Er schlurfte zur Tür und machte auf. Vor ihm stand eine junge Frau mit Kostümjacke und dunkelgrauem Rock, in der Hand eine Reisetasche, die ihre rechte Schulter nach unten zog. Sie lächelte verlegen.
»Onkel Wu, darf ich eintreten?«
Jetzt erkannte er sie wieder. Das war Xialong, das kleine Mädchen, dem er im Park Geschichten vorgelesen hatte, weil ihre Kinderfrau, eine Australierin, kein Chinesisch lesen konnte. Auch später noch, als sie nicht mehr von Privatlehrern unterrichtet wurde und die Universität besuchte, hatte sie ihn hin und wieder im Park besucht und ihm jedes Mal etwas mitgebracht: ein paar Süßigkeiten, eine Flasche Reiswein, eine gebratene Taube oder frisches Obst. Nie hatte sie ihn spüren lassen, dass sie, bewacht von Drohnen und schwer bewaffneten Sicherheitskräften, hinter dem Zaun im Kleinen Himmel lebte, wie die Leute sagten, einer streng bewachten geschlossenen Gesellschaft, die für Normalsterbliche so unzugänglich war wie dereinst der Kaiserpalast für einen Reisbauern aus der Provinz. Inzwischen wohnte sie außerhalb des Kleinen Himmels, das hatte sie ihm erzählt, und erst heute Morgen war sie auf dem Weg zur Arbeit am Park vorbeigefahren und hatte ihm zugewinkt.
Er verbeugte sich und geleitete sie durch den Flur in sein kleines Wohnzimmer. Während sie die Tasche abstellte, sich setzte und sich das Haar aus dem Gesicht strich, schenkte er ihr Tee ein. Er nahm ihr gegenüber Platz und betrachtete ihr schönes Gesicht, das aufgerissen war wie das Papier einer Tuschezeichnung. Verzweiflung und Angst lugten durch die Risse, trotzdem sagte sie kein Wort, sondern wartete höflich, bis er, der Ältere, sie ansprach. Onkel Wu aber schwieg.
»Das ist verboten«, sagte sie schließlich und deutete auf die Liveübertragung vom Potala-Platz in Lhasa. Eine Regierungsdrohne machte mit Fangnetzen Jagd auf die fliegende Kamera, und das Bild schwankte und ruckte, dass einem schlecht werden konnte.
»Ja«, sagte Onkel Wu. »Die Anlage hat ein junger Freund eingerichtet, und ich weiß nicht, wie man die illegalen Kanäle löscht.«
»Aber du könntest einen anderen Kanal einschalten.«
»Ja, das könnte ich«, sagte Onkel Wu, doch er tat es nicht. Eine Weile saßen sie einander schweigend gegenüber und lauschten der Zikade in ihrem Holzkäfig. Xialong kaute auf einem Teeblatt herum, dann begannen ihre Lippen, zu beben.
»Meine Termine sind verschwunden«, sagte sie. »Den ganzen Tag lang war niemand für mich zu sprechen. Meine Mutter ist nicht erreichbar. Zu Hause wollte mich eine Motte töten. Dann ist die Netzverbindung meines Coms ausgefallen. Ich kann niemanden mehr erreichen. Ich kann mir nicht mal mehr ein Taxi rufen. Ich komme an kein Geld heran. Und Ken ist so dumm geworden wie ein Stück Holz.« Sie hob den Arm. Der Ärmel ihrer Kostümjacke fiel herab und gab das Drachenband an ihrem schmalen Arm frei.
»Warum, mein Kind, gehst du nicht zur Polizei?«
Trotz der Wärme fröstelte Xialong. »Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich traue mich nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, es wäre nicht gut.«
»Ich verstehe«, sagte Onkel Wu, obwohl er nichts verstand. Er ergriff ihre Hand, zog sie sanft auf den Tisch nieder und drückte sie. »Vielleicht solltest du erst einmal schlafen. Du kannst dich hier auf das Sofa legen. Warte, ich hole dir eine warme Decke.« Er ging in die kleine Schlafkammer und holte eine Decke aus dem Schrank. Als er zurückkam, schlief Xialong bereits, ohne sich entkleidet zu haben. Nur die Kostümjacke hatte sie über die Stuhllehne gelegt.
Besorgt und fürsorglich deckte er sie zu.