Kitabı oku: «KLEINER DRACHE», sayfa 3
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Früher war alles besser, dachte Kung, obwohl er erst zweiundzwanzig war. Die Hacks waren besser und die Drogen auch. Vielleicht konnte er früher auch nur mehr davon vertragen. Jetzt sah er aus wie dreißig, ach was, wie vierzig, und wenn er mal eine Nacht durchmachte, zitterten ihm morgens die Hände so sehr, dass er kaum noch eine Flasche Wasser ansetzen konnte.
Wasser war die einzige Medizin, die ihn vom finalen Burn-out trennte. Klares, sauberes, kühles Wasser und das Sanktuar.
Hong Gezi hatte ihn darauf gebracht. Er hatte keine Ahnung, wer hinter diesem Fakeprofil steckte, aber irgendwas in der Art, wie sie ihren jämmerlichen Zustand und die Wohltaten der Drei Wahrheiten schilderte, hatte ihn veranlasst, dem Link zu folgen. Vermutlich lag es daran, dass die Selbstbespiegelung bei Hong Gezi so lang und die vermeintliche Problemlösung so knapp ausgefallen war.
Unbewusst setzte er »knapp« mit »effektiv« gleich.
Der Link brachte ihn auf eine Seite mit dem Schriftzug Die Drei Wahrheiten. Kein Darknet und keine Kryptoserver nötig, keine Verschlüsselung. Das war verdächtig. Egal, dachte er. Hong Gezi hat’s auch überlebt. Er setzte das VR-Gear auf, schob die rechte Hand in einen Datenhandschuh und gelangte in ein graues Nichts, in dem sich drei beschriftete Portale abzeichneten: Vertrauen, Verehrung, Versenkung. Während er noch überlegte, ob er sich wieder ausklinken sollte, öffnete sich das Vertrauenportal, und er schwebte hindurch – in einen leeren, großen Kugelraum, dessen Innenbegrenzung aus einer durchscheinenden Schicht scrollender, einander überlagernder Worte bestand. Die Worte waren deutlich zu erkennen und bildeten Sätze, doch es waren einfach zu viele, um einen herauszugreifen. Gleichzeitig vernahm Kung einen gewaltigen Flüsterchor, eine Art kosmisches Gesäusel. Waren die Worte und das Geflüster kongruent? Er konnte es nicht sagen. Dann vernahm er eine einzelne, laute, verständliche Stimme, und sie sagte: »Wähle deinen Vertrauten.« Gesichter tauchten vor ihm auf, Männer und Frauen, Junge und Alte, und nach einer Weile, als es ihm langweilig wurde, sagte er bei einer etwa dreißigjährigen Frau mit freundlichem Blick Halt. Ihr Gesicht lächelte und bekam einen Körper. Sie verneigte sich vor ihm und sagte: »Ich heiße Mei und bin jetzt deine Vertraute. Ich bin immer für dich da.« Dann verschwand sie.
Der zweite Raum war ein weißer Kubus von etwa fünfzig Meter Seitenlänge. Trotz seiner Größe und Leere machte er den Eindruck eines Zimmers. Genau in der Mitte befand sich ein niedriger Sockel mit einer Art Kasten darauf. Kung schwebte hinüber. Aus fünf Meter Abstand stellte er fest, dass der Kasten ein Computer war – nicht irgendein Computer, sondern sein allererster Rechner, ein schwarzer Lenovo mit transparenter Seitenwand, durch die er in das blau ausgestrahlte Innere sah. Er hatte diesen Kasten geliebt und liebte ihn immer noch, doch ehe er ihn genauer in Augenschein nehmen konnte, traten Gestalten aus den Wänden hervor, viele Männer und einige wenige Frauen, und nahmen im Halbkreis hinter seinem geliebten ersten Rechner Aufstellung, darunter Konrad Zuse, der Erbauer des ersten programmgesteuerten Rechners, Noam Chomsky, der Begründer der Chomsky-Hierarchie, Bill Gates, der Erfinder von Windows, Linus Torvalds, der Initiator von Linux, und Liu Chuanzhi, der Gründer des Lenovo-Konzerns. Einige Personen kannte er nicht, doch er spürte, sie waren erschienen, um dem Kasten auf dem Podest Respekt zu erweisen. Und der Kasten, sein geliebter erster Rechner, morphte, die Kanten rundeten sich, das Gehäuse wurde gedrungener, kraftvoller, und plötzlich zoomte sein Blick hinein, schwenkte über Mainboard und Grafikkarte, stürzte in den Prozessor und raste die Schaltungsbahnen entlang, drang in eine Erweiterung ein, in eine kristallorganische Masse, in etwas noch nie Gesehenes, und er begriff, dass er und die Riesen der Vergangenheit sich versammelt hatten, um dem Neuen zu huldigen, und was er in diesem Moment empfand, verdammt wollte er sein, war Verehrung für den Schöpfergeist und die Schönheit dieser von Menschen erschaffenen Struktur.
Als er in den dritten Raum schwebte, war er bereit. Empfänglich. Deshalb war er zunächst enttäuscht. Drei Kinder hockten um eine Bodenmulde herum, durchscheinende, fahle Gestalten, wie aus einem alten, verblassten Papierbild herauskopiert und auf 3-D extrapoliert. Dann erkannte er sie: Das waren er selbst, seine verstorbene Schwester Chen-Chen und der Junge von nebenan. Er wusste auch, was in der Mulde lag: eine Murmel. Sie hatten sie in Erdlabyrinthen trainiert und mit ihr gemeinsam an Nachbarschaftswettbewerben teilgenommen. Der Hals schnürte sich ihm zu. Und da stieg die Murmel auch schon empor. Im Gegensatz zu den Kindern wirkte sie real und körperlich. Ein leuchtendes Schlierenmuster wanderte darüber hinweg, als ob sie rotierte. Gleichzeitig wurde sie größer, immer größer, und ehe Kung sich versah, befand er sich innerhalb der Kugel und sah, dass die Schlieren lebendige Blattmuster waren, die wuchsen und an ihren Rändern neue Blattinseln ausbildeten, die sich wiederum an ihren Rändern reproduzierten. Immer tiefer tauchte er in das fraktale Muster ein, und gleichzeitig verspürte er eine tiefe Ruhe wie schon lange nicht mehr.
Dies war seine erste Begegnung mit den Drei Wahrheiten, und seitdem war er ein Follower. Wenn es ihm schlecht ging, besprach er sich mit Mei oder suchte das Sanktuar auf und meditierte. Das war keine Frage des Glaubens, sagte er sich, sondern reine Logik. Die Drei Wahrheiten funktionierten. Sie waren effektiv. Und sie gewannen immer mehr Anhänger. Viele stellten allerdings auch Fragen nach dem unbekannten Betreiber des Portals. Doch solange es wirkte, war ihm egal, ob dahinter ein hundertjähriger Weiser steckte oder der genialische Algorithmus eines wahnsinnigen Freaks. Er wusste, wann ihm etwas guttat.
Der Eckplatz vor dem Eingang des Premiumstores Himmlische Geschöpfe war mit Plastband abgesperrt. Ein grau Uniformierter und ein AnBot leiteten den Fußgänger- und Botverkehr außen an der Absperrung vorbei, ein zweiter Beamter schaute ihnen zu. Eine Drohne hing reglos in der Luft, die Kamera drehte sich und filmte die Autos und die Passanten. Als Xialong sich mit ihrem SegBike dem Laden näherte, bekam sie ein mulmiges Gefühl.
Heute Morgen hatte sie sich noch zuversichtlich gefühlt. Onkel Wu hatte ihr ein karges Frühstück mit kaltem Reis und eingelegten süßsauren Sojasprossen bereitet, dazu gab es den ersten Teeaufguss des Tages. Wie schon ungezählte Generationen vor ihm hielt er an dem Brauch der armen, einfachen Leute fest, den Morgentee im Laufe des Tages immer wieder aufzugießen, bis abends ein heißer Sud dabei herauskam, dessen Geschmack und Farbe sich allenfalls erahnen ließen. Seine ruhige Stimme und die unaufdringliche Art und Weise, wie er ihr beim Essen zuschaute, taten ihr gut und bestärkten sie in der im Schlaf gewonnenen Überzeugung, dass der gestrige Tag wenig mehr gewesen war als ein böser Traum, ein Ausrutscher des Irrealen in den Alltag hinein, für den sich bald eine Erklärung finden würde. Zhang Sammo würde ihr einen Techniker schicken, der ihre Netzverbindung wiederherstellen und Ken samt ihrem Terminkalender debuggen würde. Sie würde neue Termine für eine Videokonferenz ausmachen und bei der Polizei wegen des Vorfalls vor und in ihrer Wohnung Anzeige erstatten. Genau genommen war sie gar nicht mehr sicher, dass es sich um einen Drohnenanschlag gehandelt hatte. Auf Kens Urteil war zu dem Zeitpunkt schon kein Verlass mehr gewesen. Möglicherweise war die angebliche Drohne lediglich ein besonders großes exotisches Mottenexemplar gewesen. Sie hätte nicht in Panik geraten, sondern das tote Tier genauer untersuchen sollen, dann hätte sie sich einige Aufregung erspart.
»Sie können hier nicht rein«, sagte der zweite Uniformierte, als sie das Bike abgestellt hatte und vor die Absperrung getreten war. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, hinter der AR-Brille huschte sein gelangweilter Blick umher, er sah sie nicht. »Gehen Sie weiter.«
»Aber ich sehe Angestellte im Geschäft. Ich arbeite hier.«
»Ach ja?«
»Allerdings«, sagte sie schnippisch. »Ich bin sogar die Chefin. Genau genommen gehört mir der Laden. Also sagen Sie mir gefälligst, was hier los ist.«
Er musterte ihr zerknittertes Kostüm und das SegBike, das ihr gefolgt war wie ein Hund. Was er sah, überzeugte ihn anscheinend nicht. »Das Geschäft wird gerade mit Sprengstoffsonden untersucht«, sagte er unfreundlich. »Heute Morgen ist eine Drohmail der Liga zum Schutz humanen Lebens eingetroffen. Möglicherweise handelt es sich um einen Fake, aber es wäre trotzdem besser, wenn Sie in der Nähe warten würden, bis die Durchsuchung abgeschlossen ist.«
»Also, ich glaube das nicht«, sagte Xialong entschlossen. »Lassen Sie mich auf der Stelle durch.«
Der Polizist seufzte. »Wenn Sie mir Ihren Namen sagen würden …«
»Wei Xialong«, sagte sie.
Er trat ein paar Schritte beiseite, hob den Arm vor den Mund und sprach halblaut in sein Com. Eine zweite Kameradrohne schwebte dicht über den Passanten heran. Der Polizist kam zurück.
»Frau Wei befindet sich in ihrem Büro«, sagte er. »Bitte weisen Sie sich aus.«
»Mein Com ist defekt«, sagte Xialong. Sie hatte es nicht überprüft, doch auf einmal war sie sicher, dass die holografische Identprojektion nicht funktionieren würde. Der Horror des Vortags war kein Albtraum gewesen. Er ging einfach weiter.
»Sie irren sich, wenn Sie glauben, Frau Wei sei im Geschäft«, sagte sie mit leiser, nicht sehr überzeugender Stimme. »Ich bin Wei Xialong. Bitte rufen Sie Zhang Sammo heraus, er kann es bezeugen.«
»Ich habe gerade eben mit diesem Herrn gesprochen«, sagte der Polizist, hob den Arm und hielt ihr das Com vors Gesicht. Vermutlich wurde ihr Bild an jemanden übermittelt, der es überprüfen würde. Der AnBot zielte mit einer Waffe auf die zweite Drohne. Ein dunkler Schatten schoss aus dem klobigen Lauf und entfaltete sich zu einem Netz. Es traf die Drohne und hüllte sie ein. Das Gerät begann zu trudeln, schwenkte zur Straße ab, schlitterte über ein Autodach, prallte auf die Fahrbahn und wurde überrollt.
Cheng Ko stand auf dem Namensschild des Polizisten. Während er und Xialong einander unschlüssig fixierten, trat ein Mann aus dem Eingang des Geschäfts. Xialong kannte ihn nicht, also war er vermutlich ein Kriminalbeamter in Zivil.
»Festnehmen!«, rief er und hob befehlend die Hand. »Nehmt die Frau fest!«
Der AnBot schwenkte herum und fuhr eine Art Trichter aus. Cheng Ko langte über das Absperrband hinweg und packte Xialong beim Arm. Sie riss sich los, machte kehrt und stieß gegen einen Transportbot. Sie kippte vornüber und stützte sich auf dessen gepolstertem Rücken ab. Der Bot erstarrte, offenbar hatte sich eine Schutzschaltung aktiviert.
»Bitte behindern Sie mich nicht!«, plärrte der Bot. »Ich bin im Auftrag einer hilfsbedürftigen Person unterwegs. Bitte …«
Xialong wandte sich zur Seite, stürmte zwischen Gaffern und VR-Blinden hindurch und rannte weiter, ohne sich umzusehen. Das SegBike blieb hinter ihr zurück. Erst als sie keine Luft mehr bekam, notgedrungen stehen blieb und feststellte, dass ihr niemand folgte, holte sie den Zettel aus der Kostümtasche, den Onkel Wu ihr gegeben hatte. Da sie kein Bottaxi anhalten konnte, gab sie die Adresse in den offline gespeicherten Stadtplan des Coms ein. Die Entfernung betrug 2,47 Kilometer.
5
Er träumte von einer schwarz-roten Schlange. Sie war so dick wie ein Finger und ringelte sich um seinen Arm. Sie bestand aus Segmenten, die entweder ein- oder zweifarbig waren. Wenn man die Reihenfolge variierte, entstünde ein Code. Die Zahl der Buchstaben war aufgrund der Länge der Schlange vorgegeben, ebenso die Zahl der möglichen Kombinationen der Segmente. Dafür musste es eine Formel geben, und vermutlich war sie einfacher, als es auf den ersten Blick erscheinen mochte. Trotzdem kam er nicht drauf. Vielleicht lag es an der ringelnden Bewegung, an diesem lebendigen, trockenen Gleiten auf seiner Haut, dass er sich nicht konzentrieren konnte. Er versuchte es trotzdem, strengte sich an … dann begriff er, dass die sich ringelnde Schlange das umlaufende Wake-up-Signal seines rhythmisch kontrahierenden Armbandcoms war.
Er schlug die Augen auf. Es war viertel nach elf, verflucht früh für seine Verhältnisse, und an seinem Arbeitsplatz blinkte das Besucher-Icon. Er hatte etwa viereinhalb Stunden geschlafen, viel zu wenig nach einer arbeitsreichen Nacht. Benommen glotzte er den Stream der Türcam an, den das Com in die Dunkelheit projizierte, dann wälzte er sich auf die Seite, tastete auf der Kiste neben dem Bett zwischen Snackkartons, Atemmasken, aktiven Nasenstöpseln und InEars nach einer sechseckigen Pille und steckte sie sich in den Mund.
Dann raus aus dem Bett und zur Tür getappt, mit einer Hand den Slip mit dem ausgeleierten Gummibund haltend: »Ja?«
»Sind Sie … Kung?« Das Gesicht vom Monitor, erschreckt und ängstlich.
»Komm rein.«
Er überließ es ihr, die Tür zu schließen, tappte zurück ins Halbdunkel der Monitore und Stand-by-LEDs, ließ sich in einen Sessel fallen und stand noch einmal auf, um den Slip über seine Blöße hochzuziehen. Die junge Frau nestelte verunsichert an ihrer Kostümjacke.
»Du bist nicht Linh«, krächzte er.
»Ich bin Xialong. Ich …«
»Hab Linh erst morgen erwartet, aber egal. Ich brauche je einen Pack Sechser und Dreier und zehn Portionen Neeze. Aber, he, das Zeug ist mächtig, hätte fast den Arzt gebraucht.« Er beugte sich vor und tastete auf dem Tisch nach einem Geldstick.
»Meinst du Rauschgift?«, fragte Xialong.
»Hä?« Er hob den Kopf, blickte schräg von unten in ihr rundliches, erschrockenes Gesicht. »Was ist eigentlich los mit dir?« Er ließ den Stick fallen, schnellte hoch, trat vor sie hin, riss ihre Jacke auseinander und zog ihr die Bluse hoch, ehe sie reagieren konnte. »Da ist ja nichts.« Linh hatte immer einen gut gefüllten Bauchgürtel dabei, aber diese Besucherin hatte nichts weiter vorzuweisen als ihren nackten, flachen Bauch.
Xialong, von Furcht gelähmt, starrte den Slip an, der ihm die Beine runterrutschte, dann wanderte ihr Blick zu seinem Schulterhöcker. Der Bann löste sich. Mit einem Aufschrei raffte sie die Jacke vor der Brust zusammen und wich Richtung Tür zurück, doch Kung, den die Sechsertablette wiederbelebt hatte, stellte seine Beweglichkeit dadurch wieder her, dass er den um seine Füße gewickelten Slip wegkickte und ihr splitternackt den Weg verstellte. Sie hob abwehrend die Arme vor Gesicht.
»Bitte tu mir nichts«, bettelte sie.
»Nein, nein, nein«, sagte er, »so geht das nicht. Du tauchst hier auf, reißt mich aus dem Tiefschlaf und hast keine Ware dabei – ich würde sagen, du schuldest mir eine Erklärung.« Vielleicht sollte ich mir besser ein Handtuch um die Hüfte binden, ging ihm durch den Kopf.
»Ein Handtuch, ein Handtuch«, murmelte er, wandte sich zum Bett, das wie ein Fremdkörper inmitten der Elektronik stand, zog das Laken unter der platt gewalzten Holoformdecke hervor und legte es sich um wie einen Ganzkörperlatz. »Besser?«
»Etwas«, sagte Xialong, hinter ihren Armen hervorlugend. Argwöhnisch beobachtete sie, wie Kung sich wieder setzte, dann rückte sie vorsichtig näher.
»Also«, sagte Kung.
»Was … also?«
»Vielleicht solltest du dich ebenfalls setzen. Jetzt setz dich schon.«
Sie gehorchte. Ihre Haare waren strähnig, sie hatte dunkle Augenringe, ihr Rock war zerknittert und die Jacke sowieso. Trotzdem machte sie irgendwie den Eindruck, als sähe sie normalerweise ganz anders aus. Als gehörte sie hier nicht her. Plötzlich zeigte sie über seine Schulter hinweg und sagte: »Der elfte Tag?«
Er drehte sich zu dem Monitor mit dem Tibet-Stream um. »Der zwölfte«, sagte er, nicht weil sein Zeitgefühl sich auf einmal wiederhergestellt hatte, sondern weil es rechts unten eingeblendet wurde. Schon erstaunlich, dass die Typen vom FreeVee es schafften, einen nahezu unterbrechungsfreien Stream zu senden.
Xialong nickte, sah auf ihre Hände. »Onkel Wu hat mich geschickt«, sagte sie leise.
»Ah.« Kung nahm eine Wasserflasche vom Tisch und trank. Dann richtete er die Webcam, die seitlich an seinem Monitor klemmte, unauffällig auf seine Besucherin und startete ein Programm.
»Du hast ihm die Fernsehwand eingerichtet.«
»Stimmt.«
»Mit illegalen Sendern.«
»Nicht nur.«
Xialong lächelte zaghaft, das erste Mal. »Onkel Wu hat mir deine Adresse gegeben.«
»Weshalb?«
»Er … er hat gemeint, du könntest mir vielleicht helfen.«
Kung schüttelte den Kopf. Er ahnte, dass dieser Besuch nichts als Ärger bedeutete und dass es am besten wäre, ihn möglichst kurz zu gestalten. Trotzdem sagte er, vielleicht aus Neugier: »Komm drauf an.«
»Worauf kommt es an?«, fragte Xialong. In diesem Moment war die Gesichtserkennung abgeschlossen. Die Infos wurden in einem Fenster angezeigt. Da er den gesamten Datenverkehr verschlüsselt und zerhackt über anonyme Server schickte, hatte die Auswertung einige Zeit gedauert. Das war eines der Zugeständnisse, die man in diesen Zeiten machen musste, wenn man den Sicherheitsbehörden ein Schnippchen schlagen wollte.
Wei Xialong, 28, ledig, Mutter Wei Lanlong, Vater unbekannt, keine Geschwister. Mit Sondergenehmigung zu Hause unterrichtet, dann Besuch der Tsinghua-Universität Beijing, Abschluss in Betriebswirtschaft. Der Mutter gehört der Jiqiren-Konzern, Wei Xialong leitet derzeit den Premiumstore Himmlische Geschöpfe in Beijing, Straße der Goldenen Chrysanthemen.
Die Kurzinfos wurden von ein paar Fotos ergänzt, Aufnahmen von Xialong in unterschiedlichem Alter, beginnend mit der Studienzeit. Keine Kinderbilder, keine peinlichen Partyfotos, kein öffentliches Profil. Das Geschäft war von außen zu sehen, auch ein paar Botmodelle des Mutterkonzerns.
»Wow«, sagte Kung.
»Was, wow?«, fragte Xialong.
»Tut mir leid, ich muss pissen.« Er erhob sich überstürzt und stolperte durch den Durchgang nach nebenan, wo neben einem Regal mit Elektronikteilen, Sachen zum Anziehen und Instantpackungen für den Küchenautomaten auch das Klo und die Dusche untergebracht waren, alles ohne Tür, ohne Vorhang, ohne jede Abteilung. Er bekam kaum Besuch, und noch keiner hatte sich je über einen Mangel an Hygiene oder gar Intimsphäre in seiner Wohnung beschwert. Die Leute, die zu ihm kamen, interessierten sich für andere Dinge. Die junge Frau aber hatte etwas an sich, das ihn seine normalerweise ausgeblendete Wohnrealität mit anderen Augen betrachten ließ. Bei ihm war es nicht nur schmutzig, sondern siffig. Der in die Decke eingelassene Ventilator rasselte, dicke Staubfäden schwankten unter dem Abdeckgitter im Aufwind. Das Ding beförderte die verbrauchte, von den Prozessoren aufgeheizte Luft nach draußen, aber wo kam eigentlich die frische nach? Die Fenster waren versiegelt, Tageslicht und Geräusche störten ihn beim Arbeiten. Genau genommen lebte er im permanenten Unterdruck. Und im Entlüftungsrohr wuchsen bestimmt Bakterien, die jeden Biologen in Verzückung versetzt hätten. Nicht nur da oben.
Er erleichterte sich, wusch sich das Gesicht und putzte sich sogar die Zähne. Einen sauberen Slip konnte er nicht finden, die waren wohl noch alle in der Wäscherei, deshalb begnügte er sich mit Jeans und T-Shirt. Als er mit zwei Packungen veganem Gemüseomelett ins Arbeitsschlafzimmer trat, schaute Xialong auf das Display mit dem Tibet-Stream, versunken in den Anblick der sich monoton drehenden Gebetsmühle, in der der Kleine Mönch eingeschlossen war. Wie schaffte der das ohne Essen und Trinken? Hätte er nicht längst tot sein müssen?
Kung leerte die Tüten in den PrepBoy, wartete, bis das Frühstück fertig war, dann nahm er die beiden Schalen heraus, nahm vier Stäbchen aus der Schublade, schenkte lauwarmen Tee in zwei Becher und balancierte alles auf einem fleckigen Bambustablett zum Tisch.
Xialong sah ihn fragend an, und als er nickte, machte sie sich hungrig über das Omelett her. Trotzdem aß sie mit Bedacht und führte die Stäbchen zum Mund, anstatt sich den Reis aus der Schale zwischen die Lippen zu schaufeln. Kung gefiel, was er da sah, und unwillkürlich bemühte er sich, den Tee ohne lautes Schlürfen zu trinken. Als sie gegessen hatten, sagte er: »Und jetzt erzähl.«