Kitabı oku: «Terra Aluvis Vol. 1», sayfa 3

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"Ob du mich verstanden hast, Herby!?" Drohend beugte sich die Frau über den kleinen Knaben, welcher sich wimmernd seine blutende Wange hielt. Sein weißblondes, topfförmig geschnittenes Haar verbarg seine Augen und ein türkises Seidenbarett zierte sein Haupt mit einer einzelnen, großen Feder. Durch den gleichfarbigen Umhang und eine entsprechend passende Tunika wirkte das Kind fast wie jemand, der versuchte, als edler Knappe durch die Welt zu ziehen und große Heldenabenteuer zu erleben.

Nun hob der Junge den Kopf und richtete seine hellblauen, mit funkelnden Tränen besetzten Augen auf die aufbrausende Frau. "A-aber Träume können doch nicht einfach auf Befehl verändert werden!", erwiderte er verzweifelt, "Was kann ich denn dafür, dass ich gesehen habe, wer dieses Mädchen entführt hat?! Ich kann doch nicht einfach sagen 'Traum, hör auf!' oder 'Träum' was Anderes'!'"

Daraufhin stampfte die Frau zornig auf und holte zu einem weiteren Schlag aus. "Deine Frechheit werde ich dir noch austreiben-!" – Doch weiter kam sie nicht, denn ihre mit scharfen Fingernägeln besetzte Hand wurde plötzlich von jemandem ergriffen. Die Fremde begann zu fluchen und zu zerren, aber der Prinz hielt sie fest umklammert. "Was zum …!", regte sie sich auf und versuchte, ihren Bezwinger allein Kraft ihres Todesblickes in die Flucht zu schlagen. "Ihr wagt es!", knurrte die Frau und rümpfte auf einmal abfällig die Nase, "Wer seid Ihr überhaupt?"

Sacris blieb ruhig, ganz ruhig … und hob lediglich eine Augenbraue. Die Menge um sie herum hielt den Atem an. "Sacris Faryen, Kronprinz und Erbe der königlichen Faryen Dynastie. Ich bin ebenfalls erfreut, Eure Bekanntschaft zu machen", sprach er betont nüchtern, "Würdet Ihr nun die Höflichkeit besitzen, mir Euren Namen zu nennen und zu erklären, was das hier zu bedeuten hat?"

Lewyn wandte sich unterdessen an die sie umgebenden Leute und erhob die Stimme: "Also dann … Hier gibt es nichts weiter zu sehen! Geht nun bitte wieder eures Weges!", und er scheuchte sie gemächlich fort, "Los, geht schon, geht! Geht weiter!" So zerliefen sich die Menschen – die einen mehr, die anderen weniger murrend – allmählich wieder über den ganzen Markt, sodass die beiden Männer mit dem Jungen und der Frau alleine zurückblieben.

Die blutroten Augen der Fremden hatten sich bei der Erwähnung des königlichen Status' für einen kurzen Moment geweitet, dann aber wieder ihren typisch zynischen Ausdruck angenommen. "Was mischt Ihr Euch denn bitte in meine Privat­angelegenheiten ein?!" Sacris hob die Augenbraue daraufhin erneut, behielt jedoch seine Fassung. "Verzeiht, aber durch Euer auffälliges Störverhalten habt Ihr es gerade zu einer sehr öffentlichen Angelegenheit gemacht."

In diesem Moment erschien eine kleine Stadtpatrouille in ihrem Sichtfeld, welche bereits in ihre Richtung eilte. Das war dem Prinzen nicht entgangen, so fuhr er knapp zu dieser hin nickend fort: "Wenn Ihr Euch weigert, mir Euren Namen zu nennen, kann ich Euch selbstverständlich auch gerne gleich den Henxern dort übergeben." Als die henxischen Wachen Seine Königliche Hoheit erkannten, blieben sie demonstrativ stehen, als würden sie auf eine Art Anweisung warten …

Allmählich schien der Frau die Lage zu dämmern, in welcher sie sich befand, denn der Zug am Arm verringerte sich und sie nahm eine resignierte Haltung ein. Da ließ sie der junge Mann los und schickte die Patrouille mit einem Wink fort. "Laetitia … Laetitia Vendetta, wenn Ihr es genau wissen wollt", stellte sie sich mit einer giftigen Grimasse vor, die wohl einst ein Lächeln hätte werden sollen. "Laetitia Vendetta …", wiederholte Sacris langsam, "Gut, Laetitia. Nun sagt mir, was Euch das Recht gibt, diesen Jungen namens … Herby?, wenn ich es richtig verstanden habe, derartig anzugreifen?"

Lewyn hatte sich derweil zu dem kleinen Knaben auf das Kopfsteinpflaster hingekniet und dessen Wange begutachtet. Das waren ja richtige Schnittwunden, aus denen er blutete …! "Das sieht aber gar nicht gut aus …", bemerkte der lang­haarige Mann sanft und schüttelte den Kopf. "Da hat sie dich ja ganz schön zugerichtet, was, Kleiner?" Mit einem freundlichen Lächeln versuchte er, das Kind zum Reden aufzumuntern. "Wie heißt du denn eigentlich?" Der Junge sah ihn zunächst verwirrt an, fing sich aber recht schnell und antwortete: "Ich … ich bin Herby."

Lewyn lächelte erneut und tätschelte ihn. "Also gut, Herby-", ein ganz leichtes Kribbeln, welches sich plötzlich von den Fingern aus in seinen gesamten Körper ausbreitete, ließ den hellhaarigen Mann innerlich stocken – doch versuchte er, sich davon nichts anmerken zu lassen, und fuhr fort, als wäre nichts gewesen: "Sag, wieso ist sie denn so fürchterlich sauer auf dich?"

Da wurde der Junge traurig und rief: "Sie ist immer so! Ständig schimpft sie mit mir und schlägt mich und-" In diesem Moment trat Laetitia mit einem ihrer schweren Lederstiefel zwischen die beiden und fing an, erneut zu keifen: "'Immer so'?! Pass auf, dass du dir nicht noch eine deftige Tracht Prügel für zu Hause einfängst!" – "Lasst ihn sprechen!", befahl der Prinz, welcher daran interessiert war, die näheren Umstände zu erfahren; so hatte sich die Frau geweigert, irgendeine Er­­klärung zu liefern.

"Sie ist … immer so …?" Lewyn verzog ungläubig das Gesicht und sah fassungslos zu der Frau neben ihnen auf. "Ich dachte, eine Mutter … liebt ihr Kind …?" – "Er ist aber nicht mein Kind!", warf Laetitia angewidert mit lautstarkem Protest ein, "Ich bin zwar für seine Erziehung zuständig, aber ich würde mich erhängen, wäre diese Missgeburt mein Kind!" Und schon wollte sie wieder auf den armen Jungen losgehen, da hielt sie Sacris zum zweiten Mal zurück.

"Ich träume …", wisperte Herby auf einmal leise und zog mit den Fingern einen Kreis über das staubige Kopfsteinpflaster vor ihnen, "Ich habe viele und seltsame Träume … Träume von Orten, an denen ich noch niemals zuvor gewesen bin, aber das Gefühl habe, dass es sie wirklich gibt …!", und er sah Lewyn mit einem Stirnrunzeln an, "Ich träume von Menschen, von Dingen … Alles so wirklich und doch so … sonderbar …" Während der Junge redete, verklärte sich sein Blick zunehmend, bis er derart geistesabwesend wirkte, als befände er sich in einer gänzlich anderen Sphäre. Und dennoch ruhten seine Augen ununterbrochen auf seinem langhaarigen Gegenüber, als würde er ihn ganz konzentriert ansehen …

"Seht Ihr jetzt, wo das Problem liegt?!", rief Laetitia aufgebracht und ruderte in ihrer Rage mit den Armen, "Er spricht ständig von diesen Träumen und seinen ach so großen Prophezeiungen – Hirngespinste sind das, nichts als Hirngespinste!" – "Aber das ist doch kein Grund, gleich so gewalttätig zu werden …!", entgegnete Lewyn erschüttert und konnte seinen Blick vom befremdlichen Gesichtsausdruck des Kindes nur mit großer Mühe abwenden.

"Schön! Die Verantwortung liegt jedoch bei mir, dass aus ihm ein anständiger Kerl und kein hirnrissiger 'Möchtegern-Traumseher' wird!", erwiderte die Fremde bissig und stemmte ihre Hände in die Seiten, "Und abgesehen davon, was wisst Ihr schon darüber …! Erst heute hat er wieder diesen irren Traum gehabt-" – "Es war kein Traum, sondern eine Vision gewesen …!", setzte Herby sofort mit gedämpfter und geheimnisvoller, ja, nahezu verschwörerischer Stimme zu einer Erzählung an.

"Na, was hab ich gesagt?!", deutete die Frau mit dem Zeigefinger wütend auf das kleine Kind, "Ein Möchtegern-Traumseher! Man sollte ihn ordentlich-" – "Schht!", unterbrach sie der Blonde hastig, als er bemerkte, dass Herby wieder diesen entrückten Gesichtsausdruck annahm und wegzutreten begann.

Dieser Junge war etwas Besonderes, dessen war sich Lewyn sicher. Seine Ausstrahlung, … seine Verhaltensweise, … seine ganze Erscheinung …! – All dies unterschied sich so sehr von dem, was dem jungen Mann bisher begegnet war, dass er sich gänzlich davon eingefangen fühlte. Herby weckte in ihm ein Interesse, das er nicht genauer zu erklären vermochte. Er kam einfach nicht umhin, den Worten dieses Kindes lauschen zu wollen …

"Beim nächsten Vollmond werden sie kommen

Die Gleichen, die in jene Siedlung eingedrungen sind

Zum Berg des Ahiveth

Und ihr Opfer wird bei ihnen sein

Um es zu stoßen in den Schlund des Todes.

Einer wird kommen, sie zu retten,

Doch es wird vergebens sein …"

Nach einer Weile klärte sich der Blick des Jungen wieder und er sah die beiden Männer ernst an, als erwartete er bestätigende Worte oder irgendeine Bewahrheitung seiner Vision. Ein unbehaglicher Moment der Stille entstand, in welchem zumindest Sacris für seinen Teil nicht das Geringste mit dem Gesagten anfangen konnte.

"Nun …", meinte Lewyn nachdenklich, ohne den Blick von den hellen, klaren Augen des Jungen abzuwenden, "Sage mir, mein kleiner Freund: Wie sah es denn aus, das 'Opfer', das du gesehen hast …?" Daraufhin schloss Herby seine Lider und begann, langsam mit der Hand umherzuwirbeln. "Ihr Aussehen, ihr Aussehen …", murmelte er und zog unglücklich die Augenbrauen zusammen, "Ich … ich kann sie nicht sehen … Ich kann sie nicht erkennen …! Ich weiß nur, dass sie ein Mädchen ist."

"Ein Mädchen?", hakte Lewyn zögernd nach; aber der Junge hörte ihn nicht und fuhr im Fluss seiner Gedanken fort: "Und die Person, die sie retten sollte, … sie … sie sah aus wie … – argh!", und er fasste sich angestrengt an die Stirn, "Wie sah sie bloß aus?! Es, es war ein Mann …! Ein Mann, ja …! Ein-", dann fiel es Herby wie Schuppen von den Augen und er starrte ganz unvermittelt Lewyn an. "Du warst es."

"Was!?", entfuhr es dem Prinzen, welchem die Bedeutung jener Worte schlagartig klar wurde, "Weißt du, was du da gerade sagst, Bursche?! Du beliebst wohl zu scherzen, doch rate ich dir: Treib es nicht zu weit!" Vollkommen uneingeschüchtert ignorierte der kleine Junge ihn jedoch und sah allein sein langhaariges Gegenüber an, … welches seinen Blick still erwiderte.

So schob Herby vorsichtig eine Hand nach vorne – sodass sich ihrer beider Fingerspitzen berührten – und starrte den jungen Mann vor sich dabei ohne Unterlass mit seinen eisblauen, sonderbaren Augen an …

Lewyn schnappte unmerklich nach Luft. Da! Da war dieses leichte Kribbeln wieder …! Ja, er wusste es. Er wusste, dass es stimmte! Er konnte deutlich spüren, dass sein Schicksal an das des Kindes geknüpft war … Und er merkte auch, dass sich der Junge dessen genauso bewusst war wie er-

"Das reicht jetzt!", platzte es plötzlich aus Laetitia heraus und alle Anwesenden zuckten zusammen. "Herby, wir gehen!", mit diesen Worten, hatte sie den Knaben am Arm gepackt und ihn in einem derartigen Tempo die Straße hinabgezerrt, dass er kaum mit seinen kurzen Beinchen hinterherkam.

Wäre da nicht der Ernst der Lage gewesen, hätte Sacris nun vermutlich verblüfft feststellen können, wie gekonnt diese Frau doch tatsächlich mit ihrem Schuhwerk auf dem Kopfstein­pflaster laufen konnte. Doch er verschwendete keinen weiteren Atemzug für sie. Vielmehr ruhte sein Blick auf dem Rücken der langhaarigen Gestalt zu seinen Füßen, welche auch weiterhin auf dem Boden verharrte …

Dem Prinzen bangte davor, mit seinem Freund zu sprechen – so sehr fürchtete er, was nun kommen würde; Lewyn war schließlich viel zu empfänglich für solcherlei Dinge, als dass er sich nun keine ernsthaften Sorgen um ihn machen müsste …! Vollmond würde in weniger als zwei Wochen eintreten … und es waren sicherlich mindestens zwölf Tagesritte bis zum Feld der Himmelsspeere im nordwestlichen Teil des Gebirges des Grauens, in welchem sich der Berg des Ahiveth befand.

Man sagte, das Feld der Himmelsspeere war ein Überbleibsel jener Schlacht, welche einst vor Urzeiten stattgefunden hatte, als der Himmel selbst noch mit der Erde um die Macht gerungen hatte. Die Erde hatte sich geweigert, dem Himmelsgewölbe nachzugeben, und sich zu einem wallenden Monument aufgetürmt. Daraufhin war ihr schönes Antlitz von den schneidenden Böen des Himmelszorns entstellt und in großen Teilen gänzlich hinweggefegt worden. Zurückgeblieben waren Speeren ähnliche, bizarre Gebilde, die dem Wind zum Trotz in die Höhe ragten und sich nicht beugen ließen. Manchen Felsen sagte man sogar nach, beseelt zu sein und nach Vergeltung zu trachten. Die Menschen mieden diesen Ort der ewigen Stürme, denn er galt als verflucht: Nicht auch nur einer von jenen, die zum Feld der Himmelsspeere aufgebrochen waren, war jemals wieder von dort zurückgekehrt.

Als sich Lewyn nach einer Weile noch immer nicht geregt hatte, kniete sich Sacris neben ihm hin und suchte seinen Blick. Sein Freund schaute mit starren und glasigen Augen in die Ferne und rührte sich nicht. Der Prinz erschauderte in Unbehagen und fuhr einmal mit der Hand durch das Sichtfeld seines Gefährten hindurch. "Lewyn …?"

Ganz plötzlich schrak Lewyn auf, als wäre er wieder zu sich gekommen, blinzelte flüchtig zu seinem dunkelhaarigen Begleiter hinauf und erhob sich hastig. "Lewyn …?", fragte Sacris unsicher, richtete sich ebenfalls wieder auf und folgte dem Blonden nach, der sich bereits in Bewegung gesetzt hatte.

"Lewyn …!", wiederholte der Prinz nun etwas bestimmter, als er zu ihm aufgeschlossen und noch immer keine Reaktion vernommen hatte. "Was ist denn …?", erwiderte sein Freund auf einmal leise und abwesend, ohne den Blick von einem unendlich fernen Punkt am Horizont abzuwenden.

Sacris runzelte die Stirn. Das gefiel ihm überhaupt nicht. "Lewyn, was … was ist los mit dir?" Sein Gefährte antwortete auf diese Frage nichts – entweder ignorierte Lewyn ihn bewusst oder hörte ihn schlichtweg nicht. Und dass sich sein Innerstes gerade auch noch so anfühlte, als hätte sich eine große Faust darum geschlossen, machte die Situation nicht leichter. Tatsächlich fühlte der dunkelhaarige Mann auf einmal etwas in sich aufsteigen, was er so noch nie zuvor in seinem Leben verspürt hatte: Panik.

"Verdammt, Lewyn, ich rede mit dir!", rief Sacris in das unerträgliche Schweigen hinein, packte seinen Freund an der Schulter und sah ihn eindringlich an. Der Blonde wandte ihm schier gleichgültig seine Aufmerksamkeit zu. "Ja, kaum zu überhören", meinte er knapp. "Was … was ist denn nur los mit dir?!" Der Prinz verstand das Verhalten seines Gefährten nicht. "Was soll denn los sein?", entgegnete Lewyn erschreckend nüchtern. Sacris zögerte einen Moment, ehe er auf ihn einging: "Was … was wirst du denn jetzt unternehmen …?" Daraufhin schwieg der Blonde und wich seinem Blick wieder abwesend in die Ferne aus.

"Lewyn, bitte, rede mit mir …!" Der Ruf des Prinzen wurde zu einem Flehen.

Da wandte sich ihm Lewyn unerwartet mit einem mehr als undefiniert sonderbaren Gesichtsausdruck zu. "Habe ich eine Wahl …?", kam es tonlos von ihm. Der dunkelhaarige Mann stutzte, setzte zu einer Erwiderung an – bis er erkannte, dass er überhaupt nicht wusste, was er auf diese Frage, geschweige denn diesen befremdlichen Blick hin sagen sollte! – und … ließ es schließlich ganz bleiben. Beklommen schweigend betrachtete Sacris seinen Freund und biss sich auf die Unterlippe. Celine … Sie wünschten sich beide ihr unbekümmertes Lachen zurück, ja, … aber …!

Als Lewyn merkte, dass von seinem Gegenüber nichts mehr kommen würde, wandte er sich wortlos zum Gehen – doch Sacris hielt ihn instinktiv zurück und sprach: "Aber du hast den Jungen doch gehört: Es wird vergebens sein! Wenn du ihm Glauben schenkst, wieso dann nicht wenigstens konsequent?!" Der Blonde sah ihn mit erhobener Augenbraue an und entgegnete kühl: "Du hast aber auch gehört, dass es diejenigen sein werden, die in unsere Städte eindringen." – "Dafür gibt es keine Garantie", warf sein Gefährte sachlich ein. Da legte Lewyn mit einem Mal begeistert den Kopf schief und wies mit einer Hand in die Welt hinaus. "Siehst du denn nicht, was das für eine Gelegenheit ist, Sacris? Wenn die Wurzel des Übels erst einmal bekannt ist, kann endlich wieder Frieden zwischen den Menschen und den Elfen einkehren …!"

Nun … Der Prinz musst dieser Aussage zustimmen. Wenn der Junge die Wahrheit gesagt hatte, so würde sich dort zumindest offenbaren, wer das Verschwinden der Menschen zu verschulden hatte. "Also gut, damit hast du durchaus recht …", meinte er daher ernstlich nachdenkend und nickte langsam, "Aber wir wissen dennoch nicht, wer oder was uns dort erwarten wird. Und wenn-" – "Moment mal, 'wir'?", hakte Lewyn sofort nach und verengte die Augen zu Schlitzen. "Ja, natürlich 'wir'! Was denn sonst!?", entgegnete sein Freund verwirrt kopfschüttelnd, "Denkst du etwa, ich lasse dich allen Ernstes alleine aufbrechen?!" – "Vergiss es, ich werde ohne dich gehen!", erwiderte der langhaarige Mann bestimmt, "Du bleibst hier."

"Stell dich nicht so an, Lewyn", fuhr ihn Sacris ernst an, "Das wäre vollkommener Irrsinn – und das weißt du genauso gut wie ich!" Während sein Gefährte still den Kopf schüttelte, atmete der Prinz einmal durch, um seinen Ärger zu zügeln, und begann, in etwas ruhigerem Tonfall von Neuem zu ar­­gumentieren: "Wenn der Junge bereits sagt, dass es zwecklos ist, ihr zu Hilfe zu eilen, impliziert es doch schon, dass wir ihnen unterlegen sind, oder?" – "Ja, aber dann kennen wir wenigstens unseren Feind und können beim nächsten Mal gezielter gegen ihn vorgehen!", erklärte Lewyn zuversichtlich. Der Prinz lachte trocken und rief: "Und du meinst, wir überleben das Ganze, um daraus Schlüsse für ein 'nächstes Mal' ziehen zu können? Das hier ist kein Nachmittagsausritt, Lewyn; wir sprechen hier vom Feld der Himmelsspeere!"

Der hellhaarige, junge Mann hielt einen Moment inne, ehe er sich verzweifelt die Haare raufte und zu rechtfertigen begann: "Ich … ich muss wenigstens versuchen, sie zu retten, sonst werde ich meines Lebens nicht mehr froh …!" Mit einem Mal schaute Lewyn seinen Freund voller Qual an und vergrub die bebenden Finger in dessen Oberteil. "Sacris, ich … i-ich kann sie doch nicht einfach allein auf dem Berg zurücklassen …!" Seine Stimme nahm einen weinerlichen Unterton an und er lehnte sich näher und näher an seinen dunkel­haarigen Gefährten, dass sich zunehmend Mitleid in dessen Blick legte. Wie konnte Sacris in diesem Moment auch anders, als dem Leid seines Freundes nachzugeben?

Aber dann richtete Lewyn das Wort wieder gegen ihn und schwenkte unerwartet in den Angriff um: "Ich meine: Willst du Celine etwa einfach so im Stich lassen?! Das kann doch nicht dein Ernst sein, Sacris!", und er schlug ihm gegen die Brust, "Abgesehen davon warst du schließlich selbst dabei, als Vater mich kurz vor seinem Tode bat, Sorge für Celine zu tragen – gerade du müsstest doch eigentlich am besten wissen, wie ich dazu stehe!"

Der Prinz seufzte schwermütig, legte seinem Freund eine beschwichtigende Hand auf die Schulter und erklärte sanft: "Bitte, versteh mich nicht falsch, Lewyn, aber wenn es dir nur darum geht, dein Gewissen zu beruhigen, dann kann ich diese Reise unter keinen Umständen zulassen." Und noch ehe Lewyn etwas erwidern konnte, ergriff Sacris seinen Kopf vorsichtig mit beiden Händen und redete zutiefst besorgt auf ihn ein: "Ich habe nämlich schon seit Anbeginn dieser ganzen Geschichte ein sehr mieses Gefühl und es wird nicht gerade besser, wo du nun diesen wahnwitzigen Entschluss fasst, auf gut Glück den Helden zu spielen …!"

Aber Lewyn wies jede Wärme seines Freundes ab und brachte wieder einen Schritt Abstand zwischen sie. Voll Ablehnung verengte er die Augen zu Schlitzen und meinte harsch: "Also willst du lieber zusehen, wie sich die Völker im Krieg niedermetzeln?!", und er zeigte mit dem Zeigefinger auf sein dunkel­haariges Gegenüber, "Du bist der nächste König! Das kann dir doch unmöglich egal sein!"

Der Prinz zwang sich, Ruhe zu bewahren. "Ein toter König nützt niemandem etwas", sprach er besonnen, "Ich bin der Meinung, wir sollten meinen Vater bitten, uns zu helfen." – "Nein, das lehne ich strikt ab!", entgegnete Lewyn auf der Stelle und stemmte kopfschüttelnd die Hände in die Seiten. "Warum?", hakte Sacris nach. So fügte sein Gefährte etwas kleinlaut hinzu: "Er … er würde …", der Blonde zögerte und sah verlegen zu Boden, "Er würde sich niemals durch die Worte eines kleinen Kindes zu so etwas überreden lassen …"

Da wusste der Prinz auch nicht mehr weiter und verzweifelte regelrecht: "Lewyn, verdammt noch mal! Was soll das? Du scheinst dem Jungen ja umso mehr zu glauben!" Mit beiden Armen wies Sacris auf seinen Freund und wusste einfach nicht, wie er seinen inneren Gefühlswallungen – seiner Sorge, seiner Furcht! – Ausdruck verleihen sollte. "Ich meine, du … du bist ja geradezu todesmutig dazu bereit, jedes seiner Worte für bare Münze zu nehmen! – oder zumindest die Teile seiner Prophezeiung, die dir zusagen."

"Tzeh!", stieg der Blonde sofort erbost auf seine Anklage ein, "Du hast ihn ja auch nicht erlebt, wie ich ihn erlebt habe!" Dann nahmen seine azurblauen Augen jedoch plötzlich einen geheimnisvoll entrückten Ausdruck an und er wurde ebenso beschwörend wie der kleine Junge zuvor. "Da war eine, eine … 'Verbindung' zwischen uns, die-", doch Lewyn brach sofort ab, als er dem skeptischen Blick seines Freundes begegnete. Er schloss seinen Mund und drehte den Kopf zur Seite. "Ich … ich habe verstanden", sprach er leise, doch entschlossen, "Lassen wir das. Ich gehe alleine."

Somit wandte sich der hellhaarige Mann ohne Umschweife zum Gehen – nur hinderte ihn leider wie zuvor eine beharrlich festhaltende Hand an seiner Schulter daran, sich von der Stelle zu bewegen.

Der Prinz schüttelte fassungslos den Kopf und konnte nicht glauben, was gerade vor sich ging. "Lass mich, Sacris", zischte der Blonde, als sein Gegenüber auch weiterhin keine Anstalten machte, ihn loszulassen, "Lass. Mich. Gehen. Habe ich gesagt." Dabei schwang in seiner Stimme eine solch ungeahnte Bedrohlichkeit mit, dass sich dem dunkel­haar­igen, jungen Mann sämtliche Nackenhaare sträubten. Ein eisiger Schauer kroch Sacris den Rücken hinauf und er fühlte, dass ihn der Schreck über diese Situation lähmte. Das … war nicht mehr der Lewyn, den er kannte. Wie … wie war das möglich? Was war bloß mit ihm geschehen?!

Unfähig, etwas zu tun oder zu sagen, ließ der Prinz jedoch auch weiterhin nicht von seinem Freund ab und blickte stattdessen stirnrunzelnd zu Boden …

Lewyn hatte indes allerdings schon die Hände zu Fäusten geballt und atmete gerade betont deutlich ein und aus. Da lachte Sacris mit einem Mal bitter auf und meinte mit gesenktem Blick: "Und ich soll dich dann jetzt einfach so in den Tod ziehen lassen, ja …?", und er sah seinen Gefährten innerlich zerrissen an, "Einfach mal 'Tschüss!', nachwinken … und gut ist …?"

Augenblicklich wandte sich ihm Lewyn mit hasserfüllten, eiskalten Augen zu und fuhr ihn dabei mit messerscharf schneidender Stimme an: "Du hast dein Königreich, doch was habe ich? Mir ist nichts geblieben – weder Vater noch Mutter! – und das Letzte, was ich noch habe, werde ich auch ver­suchen zu retten! … und sollte ich dabei letztlich zu Grunde gehen."

Sacris war unmerklich zusammengezuckt und starrte sein Gegenüber vollkommen starr und entsetzt an. Der vernich­tende Blick seines Freundes gab ihm endgültig den Rest. Er wich ihm schmerzlich verletzt zur Seite aus und wartete einige endlose Sekunden, bis er schließlich mit kaum vernehmbarem Flüstern entgegnete: "Du hast … also nichts, ja …?", und der Griff seiner Hand löste sich, "Wenn du das so siehst, … will ich dich nicht weiter aufhalten." Ohne aufzublicken machte der dunkel­haarige Mann auf dem Absatz kehrt und schritt mit rauschendem, dunkelroten Mantel zügig zum Schloss davon.

In jener Nacht sollte der Prinz keine Ruhe finden. Er wälzte sich rastlos im Schlaf hin und her und wachte immer wieder schweißgebadet auf, nur um festzustellen, dass es bloß ein Traum gewesen war; aber die Bilder wollten nicht verschwinden und brannten sich regelrecht in seinen Geist ein, bis er es nicht mehr aushielt, aus dem Bett aufsprang und fluchend nach seinem Schwert griff.

Kurze Zeit später stand Sacris barfuß und lediglich mit einer dunklen Hose bekleidet auf der obersten Ebene des tempelartigen Palastes. Diese besaß zur Hälfte eine säulengestützte Überdachung, lag ansonsten aber frei unter dem weiten Nachthimmel. Dort schwang der junge Mann sein schlicht gehaltenes, einschneidiges Schwert; denn im Kampf hatte der Prinz schon seit jeher den Einklang mit sich selbst gefunden – jede Zierde lenkte nur unnötig ab.

Der Himmel war dunkel und bewölkt, die stehende Luft schwül und angespannt. In der Ferne läutete eine leise Glocke zur dritten Stunde, während das Meer in endlosem Rauschen sein Dasein fristete … Abgesehen davon herrschte völlige Ruhe: keine Tiere, keine Menschen, nichts. Lediglich das surrende Geräusch der scharfen, schmalen Klinge durchbrach die Stille dieser sternlosen Nacht.

Sacris versuchte, sich auf seine Techniken zu konzentrieren, die Hiebe und Stöße präzise und doch kraftvoll auszuführen. Er setzte langsam einen Fuß vor den anderen, wich elegant zur Seite aus, blockte parallel dazu, holte in einer beschleunigten Bewegung von unten aus, drehte sich dabei um seine eigene Achse und … verharrte in der vollendeten Bewegung aufrecht – das Schwert zur Seite gerichtet, wo sein Blick zornig bei seiner Schwertspitze hängenblieb. "Was wollt Ihr hier, Mercurio?"

Der königliche Berater blickte mit hochgezogenen Augen­­brauen auf die Klinge, welche weniger als eine Daumenbreite von seiner Kehle entfernt war. "Ihr … habt eine erstaunliche Begabung für den Umgang mit dem Schwert, habe ich das je erwähnt?" Der kahlköpfige Mann senkte eine der beiden Augenbrauen und sah zum Prinzen auf. Dieser starrte ihn unbeirrt an. "Lenkt nicht ab, Mercurio, ansonsten stelle ich mich beim nächsten Mal vielleicht aus Versehen ein wenig ungeschickter an."

Der königliche Berater hob die zweite Augenbraue wieder an und ging behutsam einen Schritt zur Seite, wobei er die Schwertspitze von ihrer stumpfen Kante aus mit sanfter Gewalt von sich wegschob; so machte es schließlich nicht den Anschein, als würde der Prinz die Klinge allzu schnell freiwillig senken.

Der Wissende begann, langsam vor sich hin zu schreiten, und legte seine gespreizten Finger aneinander. Er blinzelte mehrmals und legte dabei nachdenklich die Stirn in Falten. "Nun, wenn Ihr mir gestatten würdet, dies zu bemerken: Ich kann mich nicht entsinnen, Euch jemals dermaßen schlecht gelaunt erlebt zu haben …" Langsam und deutlich ertönten die Worte des Mercurios durch die Nacht und seine grauen Augen musterte den jungen Mann vor sich sehr genau. "Mein Prinz, … was beschäftigt Euch so sehr?"

Sacris nahm das Schwert zurück, behielt den Berater aber aufmerksam im Blick. "Seid Ihr jetzt etwa hergekommen, um mich zu bemuttern?", entgegnete er kühl spottend, "Verkennt nicht Eure Position, Mercurio." Jener hielt daraufhin im Schreiten inne und sah ihn ruhig an. "Mein Prinz …", sagte der Wissende betont sachlich und wählte seine Worte weise, "Ich bin ein Berater. Lasst mich Euch also den 'Ratschlag' geben …", er schaute flüchtig auf die Waffe herab und wieder zum jungen Mann vor sich hinauf, "… nichts 'Unbedachtes' anzustellen."

Sacris sah ihn grimmig an und schwieg. So schenkte ihm der Mercurio einen bedeutungsvollen Blick und fuhr fort: "Wie Ihr wisst, befindet sich Seine Königliche Majestät zur Zeit in einem höchst labilen Gesundheitszustand. Die Sorge um das Überleben seines einzigen Sohnes könnte ihn regelrecht 'zu Grabe bringen', wenn Ihr versteht, was ich meine …", er hielt kurz inne und nickte leicht, "Gehabt Euch wohl." Noch ehe Sacris etwas erwidern konnte, war der Mercurio Hal mit einer fließenden Bewegung in die Dunkelheit entschwunden.

Nun war er wieder alleine, der Prinz der Menschen, starrte auf die Stelle, an welcher noch vor einem Atemzug der königliche Berater gestanden hatte, … und runzelte die Stirn. Ja, die Wissenden … Langsam schien er zu begreifen, warum man sie so nannte. Ihm schauderte es innerlich und er wandte sich ab.

Sacris ließ sich die Worte des Mercurios allerdings noch einmal durch den Kopf gehen und schritt dabei gedankenversunken auf die halbhohe, abgerundete Steinmauer zu, welche die oberste Ebene des Palastes eingrenzte. Vor der Mauer blieb er stehen, stellte einen Fuß darauf und stützte sich mit dem Ellbogen auf seinem angewinkelten Knie ab.

Bedrückt ließ der Prinz den Blick in die Ferne schweifen … Das Meer war unruhig in dieser Nacht, sehr unruhig. Die schwarzen Wellen brachen sich unaufhörlich an den felsigen Klippen der Bucht und der raue Wind, welcher plötzlich vom kalten Ozean her aufzog, vermochte einen größeren Sturm mit sich zu tragen …

Lewyn lag wach in seinem Bett und starrte an die dunkle Decke seines Zimmers. Ein großer Aufbruch stand ihm kurz bevor und … er würde alleine gehen.

Was ihn erwartete, was auf ihn zukam – das wusste der hellhaarige, junge Mann nicht im Geringsten abzuschätzen. War es richtig oder falsch? Darum ging es hier nicht. Er musste fort. Er musste zum Berg des Ahiveth. Er musste mehr erfahren. Er musste Celine retten.

Der Prinz sog die kühle, frische Luft ein und blickte zu den rasch über ihm hinwegziehenden Wolken hinauf. Schwer behangen drohten diese jeden Moment aufzubrechen und alles unter sich zu begraben. Es war eine wahrlich finstere Nacht: eine Nacht, in welcher die Geister nicht ruhten – weder die lebenden noch die toten …

Plötzlich knurrte Sacris auf und hieb mit einem wuchtigen Schlag ins Nichts vor sich. In dem Moment schien der aufbrausende Wind selbst den Atem anzuhalten. Ein weiteres Mal zeichneten sich vor seinem inneren Auge die Bilder und Eindrücke des Alptraumes ab. Ein weiteres Mal krampfte sich sein Innerstes zusammen. Ein weiteres Mal wollte er einfach nur aufschreien! "Verflucht, Lewyn …!" Der junge Mann rammte sein Schwert in den kahlen Stein des Bodens und brach in sich zusammen. "Warum tust du mir das an?!"

Ein tiefes Donnern und Grollen fuhr durch die Nacht und leitete ein solch heftiges Gewitter ein, dass viele Einwohner Hymaeticas unverhofft aus ihrem leichten Schlaf gerissen wurden. Mächtige Blitze zuckten durch den violetten Himmel und der Regen ergoss sich in derart großen Mengen über das Land, dass sich die Straßen der Stadt in reißende Flüsse und ihre Dächer in Wasserfälle verwandelten. Karren und Fässer, die lose und unbefestigt waren, wurden in den Strömen davongetragen. Die peitschenden Böen bogen Äste und Wipfel zur Erde hinab und, was zu alt oder zu schwach war, wurde er­barmungslos mit­gerissen. Das Vieh in den Ställen und Höfen scheute und schnaubte aufgebracht, suchte Schutz, wo es nur konnte, und rückte verzweifelt zusammen, um dem fürchter­lichen Gewitter trotzen zu können.