Kitabı oku: «Wirtschaft im Kontext», sayfa 5
2.3 Autonomie – Reversibilität – Unendlichkeit
Wir haben nun die Grundlagen der Wirtschaftswissenschaften in ihren elementarsten Zügen kennengelernt. Es sticht in die Augen, dass sie das Marktgeschehen nach dem Vorbild eines physikalischen Geschehens konzeptualisieren. Diese Analogie wurde auch nicht erst im Rückblick von den Historikern der Ökonomie entdeckt. Vielmehr beriefen sich die Autoren der Grenznutzenschule in der Mitte des 19. Jahrhunderts ausdrücklich auf die Physik ihrer Zeit, welche mit dem Energiebegriff gerade einen ihrer ergiebigsten Begriffe aus der Taufe gehoben hatte. Aus dieser Physik konnte sie insbesondere das Extremalprinzip übernehmen, wie es dem Pareto-Prinzip zugrundeliegt: sich selbst überlassene Systeme tendieren dazu, einen Zustand einzunehmen, in welchem eine charakteristische Größe einen Extremwert annimmt. Das Marginalprinzip schlägt die Brücke zur Mathematik, da es die Anwendung analytischer Methoden erlaubt. Damit können wir das Programm der Neoklassik endlich vollständig durch folgende drei Elemente beschreiben:
1 Methodologischer Individualismus;
2 Utilitarismus;
3 Paradigma der energetischen, mathematischen Physik.
Aus diesen drei Säulen ergeben sich auch die Züge, die die moderne Volkswirtschaftslehre charakterisieren und zunehmend infrage gestellt werden: mathematischer Formalismus, der Anspruch der Wissenschaftlichkeit gegen alle alternativen Ansätze, der zentrale Begriff des Nutzens, das Programm der Mikrofundierung, die Annahme exogener Variablen, insbesondere exogener Präferenzordnungen.45
Wichtiger für unsere Fragestellung ist aber, welche Eigenschaften des Untersuchungsgegenstands, des Wirtschaftsprozesses, durch dieses Programm vorgegeben waren. Was nämlich durchaus erst im Rückblick sichtbar wurde, waren die Schranken, die dem Programm, welches anfangs allein als Verheißung und Erfolgsgarantie erscheinen konnte, sehr wohl eingeschrieben waren. Der ›mechanistisch‹ aufgefasste Wirtschaftsprozess, wie ihn die Neoklassik vorstellt, ist gekennzeichnet durch folgende drei Eigenschaften:
1 Autonomie: keine Abhängigkeiten;
2 Reversibilität: keine Geschichte;
3 Unendlichkeit: keine Grenzen.
Mit diesen Schlagworten ist genauer folgendes gemeint:
2.3.1 Autonomie
Unter Autonomie sind zwei Besonderheiten zu verstehen. Erstens ist der Wirtschaftsprozess ein autonomer Subprozess des gesellschaftlichen Gesamtgeschehens, d. h. er kann allein durch das ökonomische Eigenschaftsspektrum des homo œconomicus erklärt werden und es gibt keine Abhängigkeiten zu anderen sozialen Teilprozessen wie Kultur, Religion, Politik. Zweitens kann und wird es in der wirklichen Welt zwar zahlreiche Interferenzen mit anderen gesellschaftlichen Subprozessen geben, aber diese sind Störungen in dem anspruchsvollen Sinne, dass sie die Markteffizienz verringern, also zu einem Zustand führen, der nicht Pareto-optimal ist. Diese Autonomie des wirtschaftlichen Prozesses ist insbesondere auch bestimmend für das Selbstverständnis der Wirtschaftswissenschaften im Verhältnis zu den anderen Sozialwissenschaften. Wir können sagen, dass sie eine Sozialwissenschaft wider Willen sind.
2.3.2 Reversibilität
Diese Eigenschaft ist aus der Mechanik bekannt: mechanische Systeme verhalten sich – abstrakt ausgedrückt – symmetrisch unter Zeitumkehr. Konkret gesprochen heißt dies, dass der zeitlich umgekehrte Ablauf eines gegebenen rein-mechanischen Vorgangs den Gesetzen der Mechanik ebenfalls entspricht. Lässt man die Filmaufzeichnung eines Stoßes zweier Billiardkugeln oder eines schwingenden Pendels rückwärts ablaufen, so zeigt sie ein nach den Gesetzen der Mechanik zulässiges Geschehen. (Man beachte, dass Reibungsverluste, die die Zeitsymmetrie in der Tat verletzen, indem z. B. die Pendelschwingung allmählich zum Erliegen kommt, keine rein-mechanischen Vorgänge sind, da dabei mechanische Energie in Wärme umgesetzt wird.) Und Gleiches gilt in der Tat auch für den Wirtschaftsprozess, wie ihn die Mikroökonomie auffasst. Jeder Tausch beispielsweise ist auch in umgekehrter Richtung denkbar. (Dass dies den Präferenzen der Akteure zuwiderläuft ist kein Einwand, da die Präferenzen ja allein aus dem ökonomischen Verhalten bekannt sind, sprich aufgrund des rückwärts laufenden Films würde man auf andere Präferenzen schließen.)
Diese Eigenschaft ist, was wir noch eingehender zu diskutieren haben werden, mit der grundsätzlichen Erfahrung der Gerichtetheit der Zeit unverträglich. Aber auch grundlegende ökonomische Phänomene wie der Zusammenhang von Verschuldung und Profit sind mit der Zeitsymmetrie nicht vereinbar. Schulden werden mit Blick auf zukünftige Gewinne gewährt sowohl als auch aufgenommen.46 Für den Augenblick behalten wir vor allem die methodologische Konsequenz der Reversibilität zurück, dass alle Geschichte aus dem rein-ökonomischen Prozess ausgeschlossen und somit auch jeder historische Ansatz in der Wirtschaftswissenschaft disqualifiziert ist. Die Welt des Gleichgewichts kennt keine Geschichte, da jede Störung des Gleichgewichts Kräfte mobilisiert, die das System wieder ins Gleichgewicht rücken, so wie eine angestoßene Kugel immer wieder zum tiefsten Punkt einer Schale zurückfinden wird. Eine relevante Geschichte – um dieses Fenster schon zu öffnen – könnte beispielsweise über das Konzept der Pfadabhängigkeit gedacht werden, wonach vorgängige Entscheidungen auch dann noch unsere aktuellen Handlungsspielräume beeinflussen, wenn sie unter Umständen getroffen werden, die heute nicht mehr relevant sind.47
2.3.3 Unendlichkeit
Ein rein mechanischer Prozess, in welchem der Energieinhalt zwischen den Formen potentieller und kinetischer Energie frei hin- und her flutet, kennt keine innere Grenze, an welcher er zum Erliegen kommen könnte, und gleiches gilt für den ökonomischen Prozess in der neoklassischen Vorstellung. Im Grunde ist dies eine direkte Folge der Autonomie und der Reversibilität. Aber es lohnt sich gleichwohl, die Unendlichkeit gesondert hervorzuheben, weil sie im Hintergrund von enormer Wirkmacht im ökonomischen Ideenkosmos ist: Die Wirtschaft ist ein sich selbst erhaltender Prozess im geschichtslosen Gleichgewicht, der sich immerdar erhalten wird. Die Bedeutung dieser Idee kann man daran ablesen, dass sie selbst dann, wenn mit dem Wachstum eine zeitlich gerichtete Größe eine zentrale Stellung einnimmt, in ihrer Macht ungebrochen ist, obgleich doch selbst die geringste konstante Wachstumsrate zu einem exponentiellen Wachstum führt, wie die Wachstumskritiker beständig unterstreichen. Die Natur wird als eine beständig fließende Quelle betrachtet, die den Wirtschaftsprozess alimentieren kann, ohne selbst eine Änderung zu erleiden. Und wo die Endlichkeit der Ressourcen sich doch drängend geltend macht, setzen die Ökonomen auf technischen Fortschritt, Erhöhung der Energieeffizienz, und Ersetzbarkeit (Substituierbarkeit) der knappen Ressource durch andere Stoffe.
2.3.4 Das ›System‹ Wirtschaft
Wenn wir hier somit behaupten, die Neoklassik verstehe den Wirtschaftsprozess als einen autonomen, reversiblen und unbegrenzten Vorgang, so soll damit freilich nicht gesagt sein, dass die Ökonomen dies nicht besser wissen. Der springende Punkt aber ist, dass, selbst wenn sie als Personen durchaus die Abhängigkeit der Wirtschaft von der Biosphäre anerkennen, sie als Ökonomen keine Sprache haben, um dies auszudrücken. Das System Wirtschaft erscheint als autonom, reversibel und unbegrenzt, aber unter »System« ist kein Gebilde von kausaler, räumlicher oder funktionaler Einheit zu verstehen. »System« bezeichnet hier vielmehr die Gesamtheit dessen, was sich durch eine bestimmte Sprache beschreiben lässt. Neoklassische Ökonomie spricht nur über Werte und Preise. Wir können mit Luhmann sagen, dass durch das Medium des Geldes und den entsprechenden binären Code »to pay or not to pay« das geschlossene, zirkuläre und selbstbezügliche Universum der Ökonomie konstituiert wird.48 Wenn wir also sagen, die Wirtschaftswissenschaftler stellen sich die Wirtschaft als autonomen, reversiblen und unbegrenzten Prozess vor, so beschreiben wir damit kein psychologisches Phänomen, sondern ein epistemologisches. Wir benennen das Bild, welches ihren Begriffen eingeschrieben ist. Wir benennen nicht, was sie glauben, sondern was sie sagen können.
2.4 Eine Sozialwissenschaft wider Willen
2.4.1 Die ›Astronomie der Warenbewegungen‹
Es zeichnet sich damit schon eine Diagnose ab, die sich noch weiter erhärten wird und die wir in der Feststellung zusammenfassen können, dass die Wirtschaftswissenschaften den merkwürdigen Status einer Sozialwissenschaft wider Willen innehaben. Sie sind einerseits fraglos eine Sozialwissenschaft, da ihr Gegenstand ein gesellschaftlicher ist, sogar der wesentlichste im materiellen Lebensprozess der Gesellschaften. Zugleich aber konzeptualisieren sie den Wirtschaftsprozess als ein mechanisches System, eine Art »Astronomie der Warenbewegungen«49, in welcher soziale Phänomene keinen Platz mehr haben. Dies geht so weit, dass im Grunde in der Gleichgewichtstheorie der Neoklassik eigentlich auch der Markt und das Privateigentum keine Rolle spielen. Sie kennt in ihrer Reinform (ohne die implementierte Spieltheorie) weder Wettbewerb noch strategisches Verhalten, da die Akteure sich niemals treffen und sich auch nicht füreinander interessieren, sondern stumm den Trajektorien ihrer Nutzenmaximierung im Schwerefeld der Güterverteilung folgen. Dies führte zu der verblüffenden Situation, dass diese Theorie, die, wie wir sahen, auch an den Freihandel geknüpft war und diesem eine wissenschaftliche Rechtfertigung beibringen sollte, in den 1930er Jahren problemlos als eine Theorie der Allokation in einer Planwirtschaft gelesen werden konnte.50
2.4.2 Ökonomische Gesetze
Den merkwürdigen Status der Wirtschaftswissenschaften überhaupt und der Neoklassik im besonderen kann man sich gut am Begriff des Gesetzes verdeutlichen. Ob es überhaupt andere als Naturgesetze geben kann, nämlich historische und soziale Gesetze, ist eine eigene, kontroverse Frage, auf die wir uns erst am Schluss dieses Buches einlassen werden (↓ 6.3.2, S. 178). Die Wirtschaftswissenschaften unterstellen zumindest Regelmäßigkeiten, über welche sich in verallgemeinernden Aussagen sprechen lässt. Akzeptieren wir dies für den Augenblick und untersuchen den Status dieser Gesetze. Es ist dabei hilfreich, sich den historischen Ursprung der Naturgesetze, die hier Pate stehen, zu vergegenwärtigen.51 Die Rede von Gesetzen der Natur haben wir heute zwar vollkommen verinnerlicht und betrachten sie als selbstverständlich, aber es genügt eine kleine Anstrengung, um zu sehen, dass diese Rede metaphorischen Ursprungs ist. Der Begriff des Gesetzes entstammt ja offenkundig dem Rechtswesen. Ein Gesetz im ursprünglichen Sinne ist eine staatlich erlassene Regel, deren Bruch sanktioniert wird. Ein wesentlicher Unterschied zum Naturgesetz springt in die Augen: gegen Naturgesetze kann man nicht verstoßen. Im historischen Entstehenskontext der Rede von Naturgesetzen, dem 17. Jahrhundert, stellte dieser Unterschied aber keine Fehlstelle dar. Die Vorstellung von Naturgesetzen entsprang der Identifizierung der Natur mit einem idealen Staatswesen mit Gott an der Spitze. Naturgesetze waren ursprünglich also göttlich erlassene Gesetze, sie zu übertreten lässt Gottes Allmacht nicht zu. Die theologische Einfassung geriet mit der Zeit in Vergessenheit, aber die Vorstellung der Notwendigkeit und Unverletzlichkeit blieb im Begriff des Naturgesetzes enthalten.
Wie verhält es sich nun mit den Gesetzen des Wirtschaftens? Zumindest lässt sich sofort festhalten, dass sich die Art, wie die Menschen ihren materiellen Lebensprozess bewältigen, in der Menschheitsgeschichte mehrfach tiefgreifend verändert hat. Allein die europäische Geschichte hat zahlreiche Wirtschaftssysteme gesehen. Und auch der jüngere Kapitalismus hat nicht nur in seiner Geschichte etliche verschiedene Erscheinungsformen gesehen (›Manchesterkapitalismus‹, Kriegsökonomie, soziale Marktwirtschaft, Neoliberalismus …), sondern stellt sich auch in der Gegenwart als ein heterogenes System dar, dessen Brüche und innere Spannungen zu übersehen ziemlich naiv wäre. Am Phänomen der Monopolbildung beispielsweise zeigt sich ja deutlich, dass ausgerechnet die erfolgreichsten kapitalistischen Akteure die Tendenz haben, sich den kapitalistischen Marktgesetzen zu entziehen und gesellschaftliche Institutionen dem entgegenwirken müssen.
Kann man nun aus dem historischen Wandel schließen, dass es uns im Prinzip freisteht, die Gesetze des Wirtschaftens frei zu wählen? Eine solche Frage führt schnell auf metaphysisches Glatteis. Aber wir müssen sie auch nicht beantworten. Es reicht, zwei Dinge festzuhalten, die für die Sozialwissenschaften wesentlich sind: Erstens gibt es einen historischen Wandel in den Wirtschaftsystemen und ihren charakteristischen Gesetzmäßigkeiten, welcher einen Unterschied zu den Naturgesetzen markiert. Die Geltung von Gesetzen des Wirtschaftens muss offenbar auf historisch bestehende Systeme eingegrenzt werden. Und zweitens nimmt der Mensch im Studium dieser Systeme eine andere Stellung ein, als in der Beschäftigung mit der Natur. Zwar ist er in beiden Fällen Teil des Systems, welches er von Innen heraus untersuchen muss. Aber die gesellschaftlichen Systeme scheint er doch in einem ganz anderen Sinne zugleich mitzutragen. Sein Untersuchungsobjekt hängt in einem ganz anderen Sinne von ihm ab. Dies nannten wir eingangs den ›schmutzigen‹ Charakter der Sozialwissenschaften (↑ S. 8).
Betrachten wir nun noch einmal die Neoklassik, wie wir sie in diesem Kapitel kennengelernt haben, so können wir ihren merkwürdigen Charakter besser erfassen. Sie untersucht fraglos einen sozialen Prozess, aber sie stellt ihn sich als einen Naturprozess vor. Sie kann daher insbesondere nicht die Geltung ihrer Gesetze auf lokale Systeme beschränken. Man kann sich die Konsequenzen dieser Tatsache leicht vor Augen führen, wenn man sich ausmalt, was aus streng neoklassischer Perspektive beispielsweise zu einer Subsistenzwirtschaft in lokalen Kollektiven mit einem bestimmten internen, ›kulturellen‹ Verteilungsmechanismus zu sagen ist. Das erste Urteil wird lauten, dass der lokale Mechanismus im Allgemeinen keine Pareto-Effizienz garantieren kann. Was uns aber mehr interessiert, ist die darin implizit enthaltene Weigerung, die lokalen Regelmäßigkeiten überhaupt als ökonomisches Phänomen zu akzeptieren. Aus der Perspektive der Neoklassik gelten ihre ökonomischen Gesetze immer und überall, nur dass sie im vorliegenden Fall von kulturellen Faktoren vollständig überformt sind. Wie an jenem Ort Menschen im Umgang mit begrenzten Ressourcen und gegebenen Technologien planmäßig ihre Bedürfnisse erfüllen – so ja die Definition des Wirtschaftens – ist für die Neoklassik überhaupt kein ökonomisches, sondern ein kulturelles Phänomen, dessen Studium sie an eine Nachbardisziplin weiterreichen möchte. Wirtschaft wird für sie erst zu Wirtschaft, wenn sie marktförmig, also gemäß den Marktgesetzen geschieht.
2.4.3 Ausblick
Wir sind damit wieder bei der Autonomie des Wirtschaftsprozesses angelangt. Sie ist der Kern der neoklassischen Vorstellung vom Wirtschaften und damit auch der Angriffspunkt der vielen alternativen Ansätze, welche sich allmählich Gehör verschaffen. Möchte man es wagen, eine Prognose über die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften abzugeben, so gelangt man freilich zu einer auf den ersten Blick recht unspektakulären Aussicht. Sollten die heterodoxen Ansätze tatsächlich weiter an Bedeutung gewinnen und sich allmählich zu einer neuen Orthodoxie zusammenfinden, so ist die Wirtschaftswissenschaft wohl ganz einfach auf dem Weg zu einer ›normalen‹ Sozialwissenschaft, womit eine Sozialwissenschaft gemeint sein soll, die den sozialen und historischen Charakter ihres Gegenstands anerkennt.
Selbstredend, sobald die einstige Heterodoxie einmal Orthodoxie geworden ist, muss sie ihren revolutionären Charme einbüßen. Aber so weit sind wir noch nicht. Die Wirtschaftswissenschaften befinden sich im Umbruch, und sie haben es, was die Situation noch komplizierter macht, auch mit einer Welt im Umbruch zu tun. Die Autonomie des Wirtschaftsprozesses wird von mehreren Seiten her infrage gestellt. Was an den sich enthüllenden Grenzflächen begrifflich geschieht, ist philosophisch hochinteressant und wird uns in den folgenden vier Kapiteln beschäftigen. Wir beginnen im folgenden Kapitel mit der Grenzfläche von individuellem ökonomischem Akteur und Gesellschaft.
3 Wirtschaft in einer sozialen Welt: Der homo œconomicus in der Gesellschaft
3.1 Der Neoklassik logische Not
Wir haben nun zumindest einen Blick in die Maschinerie der mikroökonomischen Begrifflichkeit geworfen und dabei vor allem die Bedeutung des Konzepts des homo œconomicus kennengelernt. Es ist bemerkenswert, dass man nicht erst den empirischen Abgleich mit den wirklichen Menschen abwarten muss, sondern schon auf rein begrifflicher Ebene erste Schwierigkeiten auftreten können, und zwar solche, die nicht allgemeinlogischer Natur sind, sondern sogar spezifisch die Grenze zwischen Individuum und Gesellschaft betreffen, weshalb sie uns gleich zu unserem Thema führen. In der Analyse des Gefangenendilemmas haben wir davon schon einen ersten Eindruck erhalten. Im Gegensatz zu den empirischen Erkenntnissen sind diese begrifflichen Probleme schon seit langem bekannt. Die klassischen Veröffentlichungen stammen aus den 1950er bis 70er Jahren.
3.1.1 Modell-Platonismus
Die erste für uns interessante Kritik geht auf den 1963 veröffentlichten Aufsatz Modell-Platonismus. Der neoklassische Stil des ökonomischen Denkens in kritischer Beleuchtung des deutschen Wissenschaftsphilosophen Hans Albert zurück.52 Mit dem suggestiven Namen »Modell-Platonismus« bezeichnet Albert grosso modo die Haltung eines Wissenschaftlers, der sich in seinem Modell einschließt, sich allein mehr theoretisch im Rahmen seiner Annahmen bewegt und die Konfrontation mit der Empirie vermeidet. Eine solche Haltung wird ermöglicht durch Strategien der Immunisierung gegen die empirische Überprüfung. Drei solcher Strategien identifiziert Albert in der Wirtschaftswissenschaft: Erstens die Formulierung von ceteris paribus Klauseln, die eine Behauptung unter den Vorbehalt sonst unveränderter Umstände stellt. Das Gesetz der Nachfrage zum Beispiel besagt, dass die Nachfrage nach einem Gut mit steigendem Preis abnimmt, sofern alle anderen Variablen, hier insbesondere also die Preise und Mengen der anderen Güter sowie der ausgegebene Gesamtbetrag, konstant sind. Insofern die Klausel sich auf alle Begleitumstände bezieht und diese in diesem Maße nicht spezifiziert, kann jedes Gegenbeispiel zur aufgestellten Behauptung abgewehrt werden, indem man veränderte Begleitumstände vermutet. Die Behauptung gerät damit freilich zur Tautologie ohne informativen Wert. Eine zweite Immunisierungsstrategie besteht in der Beschränkung des Anwendungsbereichs eines Modells. Die dem Modell zugrundeliegenden Annahmen werden nicht als empirische Hypothesen, sondern als Spezifizierung des Anwendungsbereichs interpretiert. Abweichungen zwischen Modell und Empirie werden einer Anwendung an falschem Ort zugeschrieben. Eine dritte Strategie besteht darin, den Anwendungsbereich einer Theorie einfach offen zu lassen, so dass man sich ungestört der Entwicklung ihrer logischen Konsequenzen widmen kann – und dies, wie in der Wirtschaftswissenschaft mit aufwendigeren mathematischen Mitteln, die den wissenschaftlichen Charakter verbürgen sollen –, ohne sich um die Realität noch zu kümmern. Dies ist der Modell-Platonismus in Reinform.
Es sollte gesagt werden, dass der Vorwurf der Immunisierung gegen Empirie mit Umsicht zu gebrauchen ist und nicht zur Kritik ›mit dem Hammer‹ taugt. Dies zeigt der Vergleich mit der Physik. Galilei hat mit ziemlicher Sicherheit niemals die Fallexperimente auf dem schiefen Turm von Pisa durchgeführt, und hätte er es doch getan, so hätte er die empirischen Ergebnisse im Widerspruch zu den Gesetzen gefunden, die heute noch mit seinem Namen verbunden sind und die vorhersagen, dass alle Körper gleich schnell fallen. Den Physiker kümmert diese Abweichung indes nicht, denn er kann sie wirkenden Reibungskräften im Medium der umgebenden Luft zuschreiben. Der Fall vom schiefen Turm von Pisa erfüllt nicht die Anwendungsbedingungen der Theorie. Ein Fall von Modellplatonismus? Der Wissenschaftsphilosoph Thomas S. Kuhn hat es in seinem berühmten Buch über die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen als eine durchaus gewöhnliche Strategie der Wissenschaften beschrieben, auf Probleme so lange als möglich mit ad hoc-Annahmen zu antworten, wie dies hier mit den Reibungskräften geschieht.53 Solche Annahmen sind nicht an sich problematisch. Alles hängt daran, ob sie sich fruchtbar in die Theorie einbinden lassen. Für Reibungskräfte, die selbst wieder detailliert untersucht und beschrieben werden können, ist dies der Fall.
Modell-Platonismus und Immunisierung gegen Empirie sind Phänomene, die die Forschung in allen Gebieten betreffen – und zwar, wie wir gerade sahen, in ihrer Bewertung viel uneindeutigere Phänomene, als manche Kritik der Wirtschaftswissenschaften annimmt. Für uns sind sie interessant, da sie in der Wirtschaftswissenschaft mit der Grenze von Individuum und Gesellschaft zusammenhängen. Wie wir bereits sahen, teilt diese Grenze für die Neoklassik auch die Ökonomie von der Soziologie. Albert betonte, dass diese Isolierung der Ökonomie von der Soziologie mit dem Modell-Platonismus zusammenhänge: die Neoklassik muss sich von der Soziologie isolieren, und dies ist eine Form von Modellplatonismus.54 Es stimmt natürlich, dass, wie Albert feststellt, die Immunisierung gegen außerökonomische Faktoren per se ein Fall von Immunisierung ist. Aber diese Analyse ist unzureichend, denn sie beantwortet nicht, warum soziale Faktoren unbedingt ausgeblendet werden müssen, sprich warum es sich dabei nicht um einen reparablen, sondern im Modell festgeschriebenen Fehler handelt. Die Erklärung – wie sie übrigens schon in den 1920er Jahren von Alfred Sohn-Rethel gegeben wurde, der, damals noch Doktorand in Nationalökonomie, erst vierzig Jahre später als Wissenschaftsphilosoph im Umkreis der Frankfurter Schule bekannter werden sollte – besteht darin, dass die Ökonomie ihren Erklärungen den rationalen Akteur zugrundelegt und dabei von einem individualistischen Rationalitätsbegriff ausgeht. Soziale Faktoren können in diesem Bild nur als Störfaktoren begriffen werden, als Quellen irrationalen Handelns. Soziale Faktoren müssen demnach außerökonomische Faktoren sein und als solche ausgeschlossen werden. Oder wie Sohn-Rethel es fasste: Es kann in ökonomischen Modellen keine Probleme geben, denn wenn es welche gibt, sind ihre Gründe außerökonomischer Natur.55 Was als scharfe Kritik intendiert war, haben sich manche Ökonomen nichtsdestotrotz als Selbstverständnis aneignen können. Gerade gegen den Vorschlag, den soziologischen Begriff der Machtverhältnisse in die Ökonomie einzuführen, machte ein Vertreter seines Faches mit Witz und Charme geltend:
Eine wirtschaftliche Transaktion stellt ein gelöstes politisches Problem dar. Die Ökonomie hat sich den Titel der Königin der Sozialwissenschaften erworben, indem sie die gelösten politischen Probleme zu ihrem Arbeitsgebiet bestimmte.56
Die ungelösten Probleme sind entsprechend per definitionem Gegenstand der übrigen Sozialwissenschaften, die sich zur Ökonomie etwa verhalten wie die Ingenieurswissenschaften zur Physik: Der Physiker blendet Reibungskräfte und Materialschwächen in seinen Idealisierungen aus, während der Ingenieur vom umgekehrten Ende her, von den dissipativen Phänomenen her die funktionierende technische Lösung suchen muss. (Das Modell dieser Arbeitsteilung taugt übrigens auch nicht mehr, die Forschung der heutigen Physik zu erfassen, in deren Experimenten Modellierung und Simulation eine immer größere Bedeutung zukommen und ein »unreiner« Fall der Erfahrung zur Regel wird, wie manche Wissenschaftsphilosophen betonen.57) Wir sehen hier die Wirtschaftswissenschaften zum ersten Mal mit einer ihrer Grenzen konfrontiert. Die Strategie, die sie in diesem Moment wählt, hat Albert als Immunisierung gegen die Wirklichkeit beschrieben – zu Ungunsten der Ökonomie –, während manche Ökonomen dieselbe Strategie als das Erfolgsgeheimnis ihrer Disziplin betrachten – zu Ungunsten einer Welt, die den Theorien nicht entsprechen will. Für uns wichtig zurückzubehalten ist, dass diese Immunisierungstendenzen – als Verhalten an einer Grenze – kein kontingentes Phänomen sind, sondern einer Isolierung der Wirtschaftswissenschaft von den übrigen Sozialwissenschaften geschuldet ist, die ihrerseits im individualistischen Rationalitätsbegriff verankert und festgeschrieben ist. Sie ist die Konsequenz der begrifflichen Verfasstheit der Disziplin.
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