Kitabı oku: «Gerechtigkeit über Grenzen», sayfa 4
Politik in Zeiten des Hungers und davor
Es gibt verschiedene Prinzipien, auf die sich eine Politik gegen den Hunger gründen ließe. Einige davon möchte ich hier aufführen mit dem Ziel, das Spektrum möglicher Entscheidungen aufzuzeigen, also in der Absicht, eine Rechtfertigung dafür zu geben, dass man bestimmte Menschen auswählt, die man überleben lässt. Ganz allgemein könnte man dafür eintreten, jene Maßnahmen zu realisieren, die zu den wenigsten Todesfällen führen würden. Man könnte zum Beispiel den Gesichtspunkt der natürlichen Selektion heranziehen, vergleichbar mit der Gewährung medizinischer Hilfe in Situationen hohen Bedarfs. Dann wäre das Kriterium, ob jemand Hilfe erhält, eine hohe Überlebenschance, während bei niedrigen Überlebenschancen Hilfe versagt wird – das hieße, dass man die schlechtesten Risiken sich selbst überlässt. (Diese Entscheidung würde unserem Fall 2A entsprechen, bei dem man den kranken Mann als Opfer auswählt.) Doch die Strategie der wenigsten Todesfälle ist unbestimmt, wenn man keinen Zeitrahmen festlegt. Denn Maßnahmen, die kurzfristig das Überleben von mehr Menschen sichern – wie vorbeugende medizinische Maßnahmen und Sicherung des Existenzminimums –, könnten das Bevölkerungswachstum vergrößern und daher zu einer noch schlimmeren Katastrophe führen.17
Eine andere allgemeine Strategie wäre, Gründe zu finden, die es rechtfertigen, das Recht eines Menschen, nicht getötet zu werden, aufzuheben. Solche Maßnahmen würden beispielsweise erlauben, Menschen zu töten, die auf ihr Recht, nicht getötet zu werden, verzichten (freiwillige Euthanasie, wozu auch vernünftige potenzielle Selbstmorde zählen). Oder solche Menschen zu töten, die als nicht selbstständig lebensfähig und sehr belastend empfunden werden wie unerwünschte Kranke, Alte, Ungeborene oder Neugeborene (unfreiwillige Euthanasie, Abtreibung und Kindsmord). Solche Strategien werden gewöhnlich gerechtfertigt durch den Verweis, dass das Recht, nicht getötet zu werden, in Zeiten des Hungers außer Kraft gesetzt wird, wenn der Rechteinhaber zustimmt oder das Zugeständnis dieses Rechts besonders belastend wäre. Jede Entscheidung für die eine oder andere dieser Strategien bedeutet, dass einige Menschen getötet werden, andere geschützt. Den Getöteten wird ihr Recht, nicht getötet zu werden, möglicherweise mit gutem Grund entzogen. Jene, die die Politik des Hungers vor und während der Hungersnot bestimmen oder unterstützen, können sich dennoch nicht darauf berufen, dass sie nicht getötet haben. Wenn sie aber umsichtig argumentieren, können sie vielleicht beanspruchen, dies nicht ohne Rechtfertigung getan zu haben.
Dieser Vorteil macht deutlich, warum es hier nicht sachdienlich ist, das Recht auf Selbstverteidigung auf das Recht zu beschränken, sich selbst gegen Menschen zu verteidigen, die unser Leben auf nicht „unschuldige“ Art bedrohen. Eine derartige Einschränkung macht einen großen Unterschied, wenn es um Abtreibung in Fällen geht, in denen das Leben der Mutter bedroht ist. Wo es aber um Hunger geht, hat sie keinen Sinn. Wer durch eine politische Strategie gegen den Hunger zum Opfer bestimmt wird, ist vielleicht völlig unschuldig an der Hungersnot oder zumindest nicht schuldiger als jemand anderer. Daher bietet die Unschuld der Opfer keinen hinreichenden Grund für die Ablehnung einer Strategie. Denn wo Hunger herrscht, ist es schwer, mit dem Finger auf die Verantwortlichen zu zeigen. Sind es jene, die Getreide horten? Oder Eltern, die viele Kinder haben? Ineffiziente Landwirte? Unsere eigene Generation?
In gewisser Weise sind wir in Zeiten der Knappheit alle unschuldige Bedrohungen für die anderen, denn das Brot, das der eine isst, könnte das Leben des anderen retten. Würden weniger Menschen um Ressourcen konkurrieren, würden die Rohstoffpreise fallen und Hungertode könnten vermieden werden. Denn Hungertode in Zeiten der Knappheit ließen sich rechtfertigen unter Berufung auf das Recht auf Selbstverteidigung mit der geringstmöglichen Wirkung ebenso wie auf die Unvermeidbarkeit von Todesfällen überhaupt oder darauf, dass es sinnvoll ist, unter den möglichen Opfern einige auszuwählen. Denn jeder Hungertod hinterlässt weniger Überlebende, die um die knappen Ressourcen konkurrieren, und die am stärksten Gefährdeten unter den Überlebenden wären vielleicht sowieso gestorben – hätten das nicht andere getan. Eine Politik, die auf den Tod einiger abzielt, mag also gerechtfertigt sein, wenn man annimmt, dass die am stärksten gefährdeten Überlebenden anderweitig nicht hätten gerettet werden können.
Die globale Knappheit ist heute noch nicht da. Aber dass sie unmittelbar bevorzustehen scheint, hat Auswirkungen auf unser Handeln heute. Wenn alle Menschen das Recht haben, nicht getötet zu werden, und in der Folge die Pflicht, andere nicht zu töten, dann müssen wir vor dem Ausbrechen einer Hungersnot Maßnahmen ergreifen, die sicherstellen, dass der Hunger so lange wie möglich hinausgezögert und so weit wie möglich reduziert wird. Und die Pflicht, das Auftreten einer Hungersnot hinauszuzögern und das Ausmaß derselben zu verringern, umfasst auf der einen Seite die Pflicht, die künftige Erdbevölkerung zu verringern und die Mittel zum Überleben zu steigern.18 Denn wenn wir solche Maßnahmen nicht vor dem Eintreten einer Hungersnot ergreifen, könnten wir gezwungen sein, in Zeiten des Hungers zu drastischeren Mitteln zu greifen.
Wenn wir also das Recht, nicht getötet zu werden, ernst nehmen, müssen wir uns nicht nur strategische Maßnahmen gegen künftige Hungersnöte überlegen, sondern auch bevölkerungs- und ressourcentechnische Vorkehrungen für die Gegenwart. Zum Thema „Bevölkerungspolitik“ gibt es ja lebhafte philosophische Debatten.19 Was die hier angesprochene Problematik angeht, weisen diese folgende Mängel auf: Erstens werden sie meist im utilitaristischen Rahmen diskutiert und konzentrieren sich größtenteils auf Probleme wie: Welche Art von Bevölkerungspolitik ist nötig, um die gesamte und durchschnittliche Nützlichkeit einer Population zu steigern? Zweitens beschäftigen sich diese Ansätze meist mit einer Form von Ressourcenknappheit, die die Lebensqualität beeinträchtigt, nicht aber mit einer, die das Leben an sich unmöglich macht. Sie drehen sich eher um die Frage „Wie viele Menschen dürfen wir noch dazubekommen?“ als um „Wie könnten wir möglichst wenig verlieren?“. Natürlich gibt es bevölkerungspolitisch gesehen viele interessante Fragen, die nichts mit Hunger zu tun haben. Hier aber werde ich mich nur mit jenen bevölkerungs- und ressourcenpolitischen Maßnahmen beschäftigen, die darauf abzielen, Hunger möglichst weit hinauszuschieben und zu reduzieren. Denn nur solche Maßnahmen gründen sich vermutlich auf den Anspruch, dass Menschen ein Recht haben, nicht getötet zu werden, und auf die daraus hervorgehende Pflicht, dafür zu sorgen, dass Situationen, in denen wir dieses Recht außer Kraft setzen müssen, möglichst vermieden oder zumindest hinausgeschoben werden können.
Solche bevölkerungspolitischen Strategien können, je nach Ausmaß der Knappheit, milde oder drakonisch ausfallen. Ein paar Beispiele: Zu milden Maßnahmen könnte man Familienplanung rechnen, vielleicht mit finanziellen Anreizen oder Maßnahmen, die die Rechte der Menschen nicht beeinträchtigen, aber auf ihre Pflicht abzielen, ihren Körper zu kontrollieren. Selbst milde Maßnahmen würden einiges an Erfindungsreichtum (z. B. die Entwicklung von Verhütungsmitteln, die man auch in armen Ländern einsetzen kann) und Innovationen (z. B. eine Sozialpolitik, die den Anreiz und den Druck, eine große Familie zu haben, reduziert) erfordern.20 Drakonische Maßnahmen wären der Zwang zur Bevölkerungsbegrenzung – zum Beispiel durch verpflichtende Sterilisation nach der Geburt einer gewissen Anzahl von Kindern oder durch Wegfall von Gesundheitsvorsorge an Orten, die hohe Reproduktionsraten aufweisen, damit die Anzahl der Todesfälle nicht sinkt, solange die Geburtenrate hoch ist. Selbst eine Politik der vollkommenen Unterdrückung künftiger Geburten (durch z. B. allgemeine Sterilisation) würde die Voraussetzung erfüllen, den Hunger hinauszuschieben, denn ausgestorbene Rassen verhungern nicht. Ich setze hier auf keinerlei Prämissen, die zeigen würden, dass eine vollkommene Unterdrückung aller Geburten falsch wäre. Andere Prämissen hingegen könnten durchaus Gründe liefern, dass es falsch wäre, Menschen zur Sterilisation zu zwingen, oder genauer gesagt, dass eine bestimmte Anzahl Menschen besser wäre als gar keine Menschen. In jedem Fall machen die politischen Aspekte einer Anti-Hunger-Politik es wahrscheinlich, dass diese drastischste aller bevölkerungspolitischen Maßnahmen wohl kaum ergriffen wird. Außerdem gibt es ja noch eine ganze Reihe von Strategien, um die Ressourcen zu steigern. Zu den milderen Formen gehören die verschiedenen Maßnahmen zum Schutz der Umwelt und zur Kontrolle der Umweltverschmutzung, die heute diskutiert oder bereits umgesetzt werden. Am brachialen Ende dieses Spektrums stünde die Rationierung des Energie- und Materialkonsums. Ist das Ziel der Ressourcenpolitik, die bereits Geborenen nicht zu töten, dann setzt eine angemessene Strategie sowohl Erfindungen (z. B. Sonnenenergie und bessere Müllverwertungstechniken) als auch Innovationen voraus (z. B. die Einführung neuer Technologien auf eine Weise, dass die Vorzüge nicht sofort von der angewachsenen Bevölkerung wieder aufgefressen werden, wie es an einigen Orten im Zusammenhang mit der Revolution in der Landwirtschaft geschah).
Wie auch immer: Wenn wir glauben, dass Menschen das Recht haben, nicht getötet zu werden, müssen wir uns mit den weitreichenden Implikationen dieses Rechts auseinandersetzen. Dieses eine Recht allein liefert schon mehr als genug Gründe dafür, an vielen Fronten aktiv zu werden. In Situationen der Knappheit, die wir selbst hervorrufen, ist die Realisierbarkeit des Rechts, nicht getötet zu werden, wichtig. Denn es kann keine absolute Pflicht geben, in solchen Situationen Menschen nicht zu töten, sondern nur eine Verpflichtung, nur mit gutem Grund zu töten. Solch eine Verpflichtung erfordert gründliche Überlegungen zu den Bedingungen und der Qualität des Lebens jener, die zu den Überlebenden gehören sollen. Die Moralphilosophie setzt sich mit diesem Problem nicht gerne auseinander. Dabei werden wir es bald vor Augen haben.
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Rechte, Pflichten und der Hunger in der Welt21
Hunger und Hungersnot
Am Ende des 20. Jahrhunderts sind viele der Fakten zu Hunger und Armut in der Welt weltweit bekannt. Es sind dies u. a. die folgenden:
1 Die Weltbevölkerung liegt bei 5 Milliarden Menschen und wächst rapide an. Gegen Ende des Jahrhunderts wird die 6-Milliarden-Grenze überschritten.22
2 In vielen armen Ländern konzentrieren sich Investitionen und Wachstum auf den städtischen, stark modernisierten Sektor. Die sich ergebenden Verbesserungen kommen nur wenigen Menschen zugute.
3 In vielen armen Ländern steigt die Zahl der Armen und Landlosen selbst in Zeiten an, in denen es Wirtschaftswachstum gibt.
4 In vielen afrikanischen Ländern fallen regelmäßig die Ernten aus, was sie mehr denn je von Importgetreide abhängig macht.
5 Die reichen Länder des „Nordens“ erzielten dagegen Getreideüberschüsse, die in die armen Länder gehen, normalerweise gegen Bezahlung.
6 Die arme Landbevölkerung in der Dritten Welt leidet unter den Getreideimporten, die gewöhnlich in die Städte gehen. Das hat zur Folge, dass die Bauern keine Abnehmer für das von ihnen erzeugte Getreide finden. Daher wandern sie in die städtischen Elendsviertel ab.
Und dann ist da noch Äthiopien. Hungersnöte sind keine urplötzlichen Naturkatastrophen, sondern einfach nur die extremste Form von Hunger. Wir wissen sehr gut, wo in der Welt Armut und Hunger so schlimm sind, dass selbst geringfügige Schwierigkeiten sofort zu Hungersnöten führen. In Äthiopien gab es schon früher Hungersnöte. Wir wissen, welche Regionen in Afrika, Asien und (in geringerem Maße) Lateinamerika dafür anfällig sind.
Hungersnöte sind die Spitze des Eisbergs „Hunger“. Sie sind der Teil des Eisbergs, der öffentlich sichtbar wird und auf den wir reagieren. Doch der weit größere Teil des Leids ist stärker verborgen und springt weniger ins Auge.
Die meisten Hungernden machen sich ja nicht lustlos auf den Migrationsweg oder warten auf die Lieferung von Hilfsgütern. Sie führen ein ganz normales Leben in ihrer normalen ökonomischen, sozialen oder familiären Situation. Sie verdienen und bauen an, was sie normalerweise verdienen und anbauen. Und doch sind sie immer arm und oft hungrig. Diese normalen Bedingungen sind viel weniger spektakulär als eine Hungersnot, betreffen aber sehr viel mehr Menschen. Wir erliegen regelmäßig der Versuchung, Hungersnöte von endemischem Hunger und endemischer Armut zu unterscheiden. Wir geben Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Dürren, Bränden oder Kälteperioden die Schuld für die Zerstörung der Ernten und für den Hunger. Aber schwierige Bedingungen lösen nur dann eine Hungersnot aus, wenn die sozialen und ökonomischen Strukturen zu instabil sind, um solche natürlichen Schockwellen aufzufangen. Jeder, der in Kalifornien lebt, weiß, dass ein Wüstenklima nicht unbedingt zu einer Hungersnot führen muss. Menschen in Minnesota wissen, dass ein harter Winter nicht unzählige Kältetote zu bedeuten braucht. Doch beide Regionen würden eine katastrophale Mortalität aufweisen, wären die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen vor Ort nicht stabil. Viele Naturkatastrophen führen nur dann zu humanitären Katastrophen, wenn soziale Strukturen fehlen.
Was ist zu tun?
Die Fakten zu Hunger, Armut und Hungersnöten in der Welt würden eine endlose Liste ergeben. Doch zeigen uns diese Fakten nicht, was zu tun ist. Wir müssen aber aktiv werden. Welche Maßnahmen wir für gut halten, hängt zum Teil von unserer Wahrnehmung der Fakten ab, die wiederum davon abhängt, welche ethische Einstellung wir vertreten. Sowohl unsere Wahrnehmung der Probleme als auch unsere Entscheidung zum Handeln spiegeln unsere ethische Theorie wider. Ethische Theorien sind kein dekoratives Beiwerk zu unserer Reflexion über praktische Probleme. Sie bestimmen vielmehr unsere ganze Sichtweise. Sie lassen uns bestimmte Fakten und Prinzipien als wichtig wahrnehmen und andere als unwesentlich. Sie fokussieren unser Handeln – oder unser Nichtstun.
Ich werde mich hier mit drei verschiedenen Theorien auseinandersetzen, was gegen Hunger und Hungersnöte unternommen werden sollte. Zwei davon sind sehr bekannt und werden in der englischsprachigen Welt ausführlich erörtert. Die dritte ist in vielerlei Hinsicht älter und vertrauter, erhält aber deutlich weniger öffentliche und philosophische Aufmerksamkeit. Ich werde die ersten beiden Theorien kritisch betrachten, die dritte hingegen empfehlen.
Der erste Ansatz sieht im menschlichen Glück und Wohlbefinden die Richtschnur für die Einschätzung von Handlungsmöglichkeiten. Seine bekannteste moderne Version ist der Utilitarismus. Für Utilitarier geht es bei ethischen Forderungen immer darum, was anderen nützt. Der zweite Ansatz betrachtet die Einhaltung der Menschenrechte als grundlegend und beschreibt die entscheidenden Aspekte des Hungers in der Welt als Frage der Gerechtigkeit, die sichergestellt wird, indem man Rechte respektiert. Der dritte Ansatz legt die Erfüllung von menschlichen Verpflichtungen oder Pflichten zugrunde und geht davon aus, dass wir gegenüber anderen, vor allem hilfsbedürftigen anderen, sowohl Pflichten der Gerechtigkeit als auch solche des Helfens und Nützens haben, die wir erfüllen müssen. Da keine Maßnahme gegen den Hunger bzw. Entwicklungshilfestrategie sich allein auf individuelles Handeln gründen kann, zeigen alle drei Positionen Wege auf, wie sich sowohl öffentliche und institutionelle Politik wie individuelles Handeln anbahnen lassen.
Wie man Glück misst und steigert
Die zentrale Idee aller ethischen Überlegungen, die auf Konsequenzen und Resultate abstellen, ist, dass Handeln dann richtig ist, wenn es gute Resultate hervorbringt. Die speziell utilitaristische Version dieses Ansatzes misst die „Güte“ der Resultate daran, inwieweit sie einen Beitrag für das menschliche Glück im Allgemeinen leisten: Die besten Resultate sind jene, die das menschliche Glück vermehren. Diese Position ist vielen bekannt, denn in eingeschränkter Form hat sie Eingang in die ökonomische Theorie und Unternehmenspraxis gefunden und wird häufig für Alltagsentscheidungen herangezogen. Die Frage ist nur: Was steigert das menschliche Glück?
Die Frage scheint einfach, und trotzdem hat es darauf eine Menge unklarer Antworten gegeben. Selbst Diskussionen über Hunger und Hungersnöte, bei denen die Mittel zur Steigerung des Glücks auf der Hand zu liegen scheinen, rufen Meinungsverschiedenheiten unter utilitaristischen Autoren hervor. Der australische Philosoph Peter Singer23 greift auf einfache ökonomische Überlegungen zurück und argumentiert, dass jeder ernsthafte Utilitarist einer radikalen Umverteilung seiner Güter und Einkommen an die Armen zustimmen müsste. Die klassischen Theorien der Ausgrenzung legen nahe, dass wir Glück steigern können, indem wir Ressourcen von den Reichen zu den Armen umverteilen. Die Unzufriedenheit, die entsteht, wenn man ein Luxusgut – zum Beispiel ein Auto – abgeben muss, würde mehr als aufgewogen durch das Glück, das sich einstellt, wenn man stattdessen Nahrungsmittel für die Hungernden kauft. Singer erfuhr sofort Widerspruch von Garrett Hardin24, der auf Thomas Malthus, einen Ökonomen und Bevölkerungstheoretiker des 19. Jahrhunderts, aufsetzt. Malthus argumentierte, dass es nur das Bevölkerungswachstum steigere, wenn man die Armen mit Nahrungsmitteln versorgen würde. Auf Dauer gäbe es dadurch mehr Menschen, als ernährt werden könnten. Dies wiederum hätte noch schlimmere Hungersnöte und absolutes Elend zur Folge.
Es ist eine wichtige praktische Frage, ob die Utilitarier diese Meinungsverschiedenheiten beilegen können. Der Begründer des Utilitarismus Jeremy Bentham, ein radikaler Philosoph und Polemiker, befand, dass wir das mit einiger wissenschaftlicher Genauigkeit tun könnten: Es gehe einfach nur darum, sieben Dimensionen des menschlichen Glücks zu vermessen. Dabei sollte uns ein prägnanter Merkvers helfen, den er in seiner Einführung in die Prinzipien der Moral und Gesetzgebung vorstellte:
Intensiv, lang, gewiss, schnell, ergiebig, rein –
Kann Leid und Freude sein.
So sei Freude, wenn privat für dich.
Noch weiter gesteckt dann, wenn öffentlich.
Solch Leid meide, egal was die Ziele;
Wenn Leid sein muss, dann sei’s nicht für viele.25
Doch wir wissen, dass dieser metrische Ansatz eher unzulänglich als wissenschaftlich ist. Trotz der ständig wiederkehrenden optimistischen Annahmen einiger Ökonomen und Entscheidungstheoretiker hinsichtlich der Möglichkeiten, das Glück zu vermessen, wissen wir, dass wir Glück nie exakt vorhersagen oder messen oder akkumulieren können.
Genauigkeit, Exaktheit und Bedürfnisse
Und doch lassen sich anscheinend ungefähre Einschätzungen menschlichen Glücks vornehmen. Vielleicht ist das ja auch ausreichend. Schließlich brauchen wir ja keine hundertprozentige Präzision, sondern nur eine vertretbare (wenn auch vage) Genauigkeit. Wir wissen, dass Hunger und Armut zu Elend führen und dass dieses Elend beendet wird, wenn es genug zu essen gibt. Müssen wir denn wirklich mehr wissen?
Wenn wir Utilitarier sind, müssen wir sehr viel mehr in Erfahrung bringen. Wir müssen nicht nur wissen, welche allgemeinen Resultate wir anstreben sollten, sondern auch, welche Mittel dazu geeignet sind. Da schon winzige Änderungen im Verhalten und in der Politik die Ergebnisse massiv beeinflussen können, müssen wir einen exakten Vergleich vieler Resultate vornehmen. Dies zeigen schon die vielen Beispiele, wie wohltätige Aktivitäten zu nicht erwarteten Ergebnissen geführt haben. Viele Entwicklungshilfemaßnahmen zur Nahrungsversorgung haben denjenigen, denen sie helfen sollten, tatsächlich geschadet und Menschen, die nicht zu den Ärmsten der Armen zählen, genützt. (Damit soll nicht gesagt werden, dass wir auf Nahrungsmittellieferungen verzichten sollten – vor allem nicht in Zeiten von Hungersnöten –, doch sie reichen nicht aus, um das Elend zu beenden, und können, so sie fehlgeleitet werden, auch schaden.) Einige Entwicklungshilfemaßnahmen, die den Lebensstandard durch Anbau von Getreidesorten, die auf den Märkten hohe Preise erzielen, heben sollten, haben die Lebensgrundlage von Subsistenzbauern zerstört und die ärmsten Schichten noch ärmer gemacht. Von Entwicklungshilfe profitieren häufig jene, die Hilfe nicht so dringend benötigen würden, manchmal auch schlicht die Korruptesten im Land. Die Allgegenwart der Korruption zeigt auch, wie wichtig es für Utilitarier ist, exakte Vorhersagen darüber zu treffen, wie sich das menschliche Glück steigern lässt. Gute Absichten sind wohlfeil, aber eine Strategie der Wohltätigkeit lässt sich nicht festlegen, wenn wir die Resultate nicht exakt vorhersagen und vergleichen können.
Um ihre Berechnungen anzustellen, brauchen die Utilitarier nicht nur exakte Messmethoden für Glück, sondern auch exakte Vorhersagen der Resultate, die die einzelnen Maßnahmen bewirken. Sie brauchen jene Art umfassender und vorhersagestarker Sozialwissenschaften, die viele Forscher anstreben, ohne sie aber bis dato erreicht zu haben. Im Moment lassen sich nicht einmal die grundlegendsten Meinungsverschiedenheiten zwischen rivalisierenden Utilitariern lösen. Wir können nicht nachweisen, ob Glück gesteigert wird, indem wir in unserem unmittelbaren Umfeld, wo wir persönlich einschreiten können, Wünsche erfüllen (auch wenn diese Wünsche nicht unbedingt echte Bedürfnisse darstellen). Oder ob wir unsere Hilfeleistungen auf die Bedürftigsten konzentrieren sollten. Tatsächlich wissen wir häufig zu wenig, um auch nur exakt vorhersagen zu können, welche Maßnahmen der öffentlichen Hand den Ärmsten zugutekommen würden.
Und selbst wenn die Utilitarier jene exakten Methoden zur Vorhersage und Kalkulation entwickeln würden, die im Moment noch fehlen, könnte es sein, dass die Resultate den Armen keine Hilfe bringen. Denn utilitaristisches Denken legt keinen sonderlichen Wert auf menschliche Bedürfnisse. Das Glück, das aus der Wunscherfüllung für die Menschen in unserem Umfeld entsteht – selbst wenn dies Wünsche nach Gütern sind, die sie nicht wirklich brauchen –, zählt genauso viel oder mehr als das Glück, das aus der Beendigung echten Leids entsteht. Alles, was zählt, ist die Intensität des Wunsches. Wenn die Bedürftigsten so schwach und apathisch sind, dass sie keine starken Wünsche mehr haben oder sich Dinge wünschen, die in ihre Realität passen, dann könnten im utilitaristischen Kalkül ihre Bedürfnisse sogar eher weniger zählen als mehr. Außerdem wissen wir, dass Wohltätigkeit, die zu Hause anfängt, wo die Wünsche der anderen für uns deutlich sichtbar sind, so viele Empfänger findet, dass sie auch zu Hause endet. Wenn Bedürfnissen im ethischen Denken nicht bestimmte Prioritäten zugewiesen werden, gehen sie möglicherweise unter.
Das utilitaristische Denken lässt also viele Probleme ungeklärt und ungelöst. War es wohltätig, riesige Summen an Entwicklungshilfe als Darlehen zu vergeben, obwohl die steigenden Zinssätze einen Großteil der Exporteinnahmen armer Länder auffressen? Die aktuell reichen Länder haben sich entwickelt zu einer Zeit, als die Zinssätze niedriger und stabiler waren: Heute aber kontrollieren sie die Grundregeln einer Weltwirtschaft, die den armen Ländern nicht dieselben Entwicklungschancen lässt. Hat es das Glück maximiert, den armen Ländern unter diesen Bedingungen Darlehen zu geben? Oder wäre das Glück größer, wenn sie eher kleinteilige Investitionen vor Ort genützt hätten? Oder würden die Kosten des so verlangsamten Wachstums das Elend im Land allgemein vergrößert haben, was sich mit Darlehen, selbst zu höheren Zinssätzen, hätte vermeiden lassen? Das sind bittere Fragen, und ich kenne darauf keine allgemeine Antwort und auch keine länderspezifische Antwort. Ich werfe sie hier nur auf, um die Schwierigkeiten zu veranschaulichen, die sich bei der Entscheidung für richtige oder falsche Handlungsweisen ergeben, wenn man sich auf Vorhersagen und Kalkulationen über maximales Glück verlässt.