Kitabı oku: «Schlangentanz», sayfa 2

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An den Wänden unterhalb der Balkone stehen sechzehn Eichentische mit Bänken. Bei meinem ersten Besuch waren zwei oder drei dieser Tische von Anwälten belegt, die sich dort mit ihren Klienten berieten, die alle afrikanischer Herkunft waren. Vielleicht Kongolesen, die sich um eine Aufenthaltserlaubnis bemühten. Während ich mir Notizen machte, klapperte die Messinglampe auf meinem Tisch wie eine Schiffslaterne auf See. In ihren Metallfuß hatte jemand eine Nachricht eingeritzt: »La justice nique« (»Scheiß auf die Justiz«). Ein Gerichtssaal nach dem nächsten war menschenleer und ungenutzt, niemand fragte mich, was ich dort zu suchen hatte, es gab keine Überwachungskameras. An den Wänden eines verlassenen Korridors hingen Fotografien längst verstorbener, graugesichtiger Männer in schwarzen Roben.

Schließlich stieß ich auf einen Gerichtssaal, in dem zwei lebende Anwälte saßen und Zeitung lasen. Eine Seitentür öffnete sich und drei Polizisten führten einen jungen Mann in Hemdsärmeln herein, dessen Hände hinter dem Rücken gefesselt waren. Der Gefangene sah sich um, doch die Juristen schenkten ihm keine Beachtung. Er setzte sich. Die kleine Gruppe wartete, drei in Uniform, zwei in Roben, einer in Handschellen, aber keine Türen öffneten sich und keine Richter kamen, um sich auf die entfernte Bank zu setzen.

Am Ende eines anderen Flurs befand sich eine unauffällige Aufzugtür aus Stahl. In der Hoffnung, hier entlang auf die Kuppel gelangen zu können, drückte ich auf den Knopf mit der Ziffer vier. Der Aufzug fuhr nach unten, nicht nach oben, und hielt in einem Stockwerk, das sich als Ebene fünf herausstellen sollte. Hier in der Tiefe gab es keine Heizung. Eine einzelne Glühbirne warf ein spärliches Licht auf eine Stahltür und den verspäteten Hinweis: interdit aux publiques. Das Licht flackerte, es schien keinen Schalter zu geben. Ein Labyrinth aus Tunneln und mit Drahtgittern gesicherten Regalen verlor sich in der Finsternis. Akten mit der Beweisführung und den Urteilen, die von den längst verstorbenen Männern auf den Fotos gesprochen worden waren. Was für ein Denkmal für die letztendliche Vergeblichkeit des Lebens von Menschen, die ihren Scharfsinn für juristische Streitfälle einsetzen. Als die Lichter erneut flackerten, rief ich den Aufzug. Zu meiner Überraschung kehrte er zurück.

Das Justizministerium will aus dem Gerichtsgebäude König Leopolds ausziehen; seit fünfzig Jahren sind hier Renovierungsmaßnahmen überfällig. Die Fassade bröckelt, das Gebäude ist zu groß, als dass man es bewachen könnte, und zu viele Häftlinge fliehen durch die unterirdischen Labyrinthe. Es thront über der Stadt, ein Mausoleum menschlichen Missgeschicks und Leidens, eines der letzten verbleibenden Symbole eines vereinten Belgiens.

Unter König Leopolds kaiserlichen Entwürfen befanden sich Pläne für weitere Einrichtungen, die niemals vollendet wurden, unter ihnen das Musée royal de l’Afrique centrale in Tervuren. Dieses 1899 eröffnete Museum ist in einem prächtigen Schloss in einem Wäldchen zwanzig Kilometer außerhalb von Brüssel untergebracht. Anfänglich sollte es Leopolds wissenschaftlichen und humanitären Fortschritt im Kongo dokumentieren. Dieses Gebäude war ursprünglich als Teil eines deutlich größeren Palastes vorgesehen, welcher nicht nur ein Museum Zentralafrikas beherbergen sollte, sondern eines der gesamten Menschheit. Doch der König starb, der Erste Weltkrieg brach aus und das imperiale Vorhaben wurde aufgegeben.

Betritt man die Ausstellung in Tervuren, drängt sich einem der Eindruck auf, in einem versteinerten Zoo gelandet zu sein. Die Schaukästen zeigen Bilder aus dem kolonialen Leben in Afrika, und Legenden, die sich um die Herrschaft König Leopolds II. ranken, werden geradezu verschwenderisch in Szene gesetzt. Dazu Masken, Darstellungen von Tänzen, Zeremonien und Dörfern, ausgestopfte Tiere, Einbaumkanus, Kultbilder und Trommeln. Drei Figuren in Bronze – eine Afrikanerin bäuchlings vor einem arabischen Sklavenhalter auf dem Boden liegend, der mutige Ehemann protestierend – sollen den Besucher an eines der erklärten Ziele Leopolds II. erinnern, nämlich an die Vertreibung arabischer Sklavenhändler aus dem Kongo. Ein kongolesisches Grab aus dem 12. Jahrhundert mitsamt Skelett, Kupferschmuck und allerlei Gefäßen und Töpfen. In der Sammlung, deren Absicht in der irreführenden Zurschaustellung einer nicht-existenten idealen Kolonie bestand, zeigt sich heute in einer eigentümlichen Umkehrung der Geist der Kolonialisierung. Auf den Punkt gebracht ist die Botschaft des Museums, dass die Kongolesen nackte, ungebildete Wilde waren, die noch in der Steinzeit lebten, und dass die Soldaten, Ingenieure und Missionare, die auf des Königs Kosten zu ihnen geschickt wurden, nur das Beste für die Afrikaner wollten. Dabei sind im Museum die Beweisstücke ausgestellt, die dieser Unterstellung zuwiderlaufen: Viele der schönsten Schnitzereien kommen aus der Gegend von Kuba im Südkongo.*

Mehr als zweihundertfünfzig Jahre lebte das Volk der Kuba nach Sitte und Gesetz unter seinen Königen, entwickelte ein kulturelles Gedächtnis und schuf mit gewebten Textilien und Holzschnitzereien Objekte von hohem künstlerischen Wert. Ihr Land an den Ufern des Flusses Kasai lag so tief im Wald, dass sie mehr als vierhundert Jahre von Händlern und Sklavenfängern unbehelligt blieben, die aus dem Osten und Westen vordrangen. Als Leopold II. im Jahre 1885 seine Herrschaft über das an den Fluss Kongo grenzende Gebiet ausrief, erklärte er ein Zehntel dieses Territoriums, 250000 Quadratkilometer, die halbe Fläche Frankreichs, zum Eigentum der Krone. Dieses Gebiet grenzte an das Königreich von Kuba. Leopold hatte niemals das Geringste von Kuba gehört, für ihn war es nur eine Region, in der viele der ertragreichsten natürlichen Kautschukwälder lagen, die es in Zentralafrika noch gab. Der König der Kuba hatte jedoch von den Belgiern gehört und jedem die Todesstrafe angedroht, der diesen Eindringlingen half, den Weg ins Königreich zu finden.

Der Autor Adam Hochschild berichtet allerdings von einem presbyterianischen Missionar, dem Afroamerikaner William Sheppard, der nach Kuba kam und die Hauptstadt erreichte, ohne geköpft zu werden. Sheppard war zwar gekommen, um das Evangelium zu verkünden, und das tat er sicherlich auch, wahrscheinlich hat er jedoch deutlich mehr von den Kuba gelernt als sie von ihm. Auch ihre außergewöhnliche Schönheit scheint ihm nicht entgangen zu sein, denn er nahm sich eine junge Geliebte – eine umgekehrte Konversion.

Mr. Sheppard warf keinen Schatten des ›Grauens‹ wie die Abgesandten Leopold II., die als Kautschukhändler acht Jahre später auf den Spuren des Missionars nach Kuba kamen. 1900, zwei Jahre nach der Eröffnung des Museums in Tervuren, erreichten belgische Truppen die Hauptstadt des Königreiches, plünderten sie und zwangen die Einwohner als Kautschuksammler zur Sklavenarbeit. Kurz danach betraten Archäologen und Ethnografen den Schauplatz und schickten schon bald die ersten Kisten mit Kulturschätzen von Kuba nach Tervuren.

Die sechs Monate im Kongo prägten Conrad für den Rest seines Lebens. Nachdem er einige Tage in Brüssel verbracht hatte, nahm er den Zug nach Bordeaux, wo ein portugiesischer Küstendampfer auf ihn wartete, um ihn nach Banana an der Mündung des Kongo zu verschiffen. Seine Reise nach Brüssel war erfolgreich verlaufen; er war als Dampfschiffkapitän angeheuert worden und hatte einen Dreijahresvertrag mit der Société anonyme Belge pour le commerce du Haut-Congo unterschrieben.

In Herz der Finsternis erinnert sich Conrad an die Stadt, die er hinter sich ließ. Er beschreibt eine »schmale, menschenleere Straße in tiefem Schatten«5, »die so still und wohlanständig war wie eine gut gepflegte Friedhofsallee«6. Dorthin hatte man ihn zum Vorstellungsgespräch gebeten. Im Vorzimmer saßen strickende Frauen, »die das Tor zur Finsternis bewachten«. »Nicht viele von den [Männern] sahen sie jemals wieder – nicht die Hälfte – bei weitem nicht.«7 Die Sterberate derjenigen, die nach Matadi und weiter flussaufwärts zu den Handelsposten im Wald gesandt wurden, war hoch. Conrads eigene Gesundheit wurde durch seinen kurzen Aufenthalt im Kongo zerrüttet, und der Skipper, den er ersetzen sollte, war von Afrikanern ermordet worden.

* In Schatten über dem Kongo (1998) bezichtigt der amerikanische Autor Adam Hochschild Leopold II. eines »Holocaust« an zehn Millionen Menschen, schildert allerdings eingehend die Problematik, die Zahl der Opfer der Gewaltherrschaft verlässlich zu schätzen. Doch am Anfang war Kautschuk der profitabelste Rohstoff des Kongo, und das Sammeln der wilden Pflanze war eine arbeitsintensive Tätigkeit. Hätte sich der König des Genozids schuldig gemacht, so hätte er mit seinen Arbeitskräften auch einen Teil seines Gewinns verloren. Der belgische Historiker Jean Stengers vermutet, dass die tatsächliche Mortalitätsrate einen Bruchteil von Hochschilds Annahme beträgt. Doch auch das wäre entsetzlich.

* 2013 wurde das Museum für eine mehrjährige Sanierung geschlossen. 2017 solle es, laut Webseite, »drastisch renoviert« wieder eröffnet werden. Insbesondere bei der »vollkommen überholten ständigen Ausstellung« habe Modernisierungsbedarf bestanden. [Anm. d. Ü.]

KAPITEL DREI
Der fröhliche Tanz von Handel und Tod1

Einer von Joseph Conrads ersten Eindrücken von Afrika war der eines französischen Kriegsschiffs, das vor der tropischen Küste ankerte und Granaten in einen stillen Wald feuerte. Er beschrieb diesen Augenblick in Herz der Finsternis. »Inmitten dieser unendlichen Leere von Erde, Himmel und Wasser feuerte es, so unglaublich das war, auf einen Kontinent. […] Es steckte eine Spur Wahnsinn in dieser Taktik«2.

Sein portugiesischer Küstendampfer aus Bordeaux lief eine Kette von Handelsposten an, während er die Westküste von Afrika passierte. Er machte nicht oft in einem Hafen fest, denn es gab nur wenige Häfen, und viele Flussmündungen waren nicht befahrbar. Der Westen Afrikas wird von einer Leeküste geschützt, die für die motorisierten Schiffe im Jahre 1890 nicht mehr so gefährlich wie für Segelschiffe früherer Zeiten, für einen Dampfer mit Motorstörungen aber immer noch potenziell verhängnisvoll war. Dieser geografische Umstand liefert eine weitere Erklärung für die historische Isolation des gesamten Kontinents. Der Sklavenhandel war fünfzig Jahre zuvor abgeschafft worden, und die ersten Forscher mit ihrem Wissensdrang waren inzwischen von Siedlern auf der Suche nach Reichtum abgelöst worden. Das französische Kriegsschiff, das Conrad aufgefallen war, war vor der Küste von Dahomey stationiert, bis dahin eines der berüchtigtsten und gefürchtetsten westafrikanischen Königreiche. Und es feuerte nicht ganz ohne Zweck. Es handelte sich um die Schüsse, die einen drei Jahre dauernden Krieg3 eröffneten, der mit der Niederlage des Königreichs von Dahomey endete. Nach ihrem Sieg legten die Franzosen den Grundstein für Französisch-Westafrika, ein riesiges Kolonialreich, das später in ein Dutzend Staaten aufgeteilt wurde.

Vierhundert Jahre zuvor waren die ersten portugiesischen Entdecker, nachdem sie den Äquator überquert hatten, weiter südlich entlang der bewaldeten Küste über eine dunkelrote Stelle des Ozeans gesegelt und so auf die Flussmündung aufmerksam geworden, die sie gerade passierten. Hier nahmen die portugiesischen Entdecker – ebenso wie Conrads Schiff – Kurs auf die Küste, um vor Banana im breiten Delta des Kongo zu ankern. Vom Amazonas abgesehen ist dieses weltweit der größte Süßwasserabfluss ins Meer. Hier konnte Conrad endlich aufhören, eine Küste zu betrachten, von der er mehr als genug gesehen hatte. »Da hat man sie vor sich – lächelnd, drohend […], öde oder wild, und immer stumm und doch, als flüstere sie: Komm her, sieh selbst.«4 Im Mündungsgebiet nahm Conrad ein anderes Schiff flussaufwärts zu den ersten Stromschnellen, welche die Schnellstraße ins Innere bis zu einem verhängnisvollen Tag dreizehn Jahre zuvor abgeriegelt hatten. Dort setzte Conrad seinen Weg zu Fuß auf einer Straße fort, die mit den Leichen aneinandergeketteter Männer übersät war, die gezwungen worden waren, Eisenbahnschienen zu verlegen. 370 Kilometer weit musste er sich am Rande eines Kriegsgebietes durchschlagen. Kaum angekommen, wurde Conrad mit dem Grauen und der Brutalität von König Leopolds Freistaat konfrontiert.

Joseph Conrads Aufenthalt im Kongo hätte ihn fast das Leben gekostet. Er erkrankte an Malaria und an der Ruhr. Bei einem nächtlichen Versuch, sein Kanu durch eine Flussbiegung zu manövrieren, wäre er beinah ertrunken. Sein Schiff hatte im Juni 1890 in Banana angelegt. Im Dezember war er bereits dienstunfähig auf dem Heimweg nach Europa. Während dieser sechs Monate im Kongo unternahm Conrad eine längere Reise flussaufwärts nach Stanleyville, dem heutigen Kisangani, wo sich die »Station im Innern« der belgischen Handelsgesellschaft befand, bei der er angestellt war. Kurz nach Conrads endgültiger Abreise nach Europa wurden einige Händler dieser Kompanie von feindlichen Eingeborenen gefangen genommen, gefoltert und ermordet; laut The Times wurden – nach lokaler Sitte – »ihre Köpfe auf Stangen gespießt und ihre Leichen gegessen«. Conrad entkam diesem albtraumhaften Schicksal. Er überlebte, und zehn Jahre später verfasste er Herz der Finsternis, das man getrost zu den komplexesten und anspielungsreichsten Texten der englischen Literatur zählen kann.

Herz der Finsternis beginnt eines Nachts etwas flussabwärts von London auf einem in der Themse verankerten Boot. Während ein namenloser Erzähler mit den übrigen Bootsinsassen auf den Wechsel der Gezeiten wartet – erst dann können sie ihre Reise zum Meer fortsetzen –, lauscht er der Geschichte des Seemanns Charlie Marlow. Dieser erinnert sich daran, wie er einst als Flussschiffkapitän von einer Handelskompanie angeheuert wurde, die im Landesinneren einer afrikanischen Kolonie (die große Ähnlichkeiten mit dem Kongo-Freistaat Leopolds II. aufweist) Elfenbein erbeutete. Der Direktor der sogenannten Zentralstation erteilt Marlow den Auftrag, weiter flussaufwärts nach einem Agenten namens Mr. Kurtz zu sehen, dem brillanten und einzelgängerischen Leiter der Station im Innern, einem »Gesandte[n] der Barmherzigkeit und der Wissenschaft und des Fortschritts«5. Die Europäer – hier in Gestalt marodierender Freibeuter, angeführt vom Onkel des Direktors und möglicherweise ebenfalls im Auftrag der Kompanie – hatten vor allem eins im Sinn: »Schätze aus dem Leib dieses Landes reißen, und es steckte nicht mehr Moral in ihrer Sache als in der Tat eines Einbrechers, der einen Geldschrank knackt.«6 Mr. Kurtz war jedoch anderer Ansicht: »Jede Station sollte ein Hort der Erleuchtung und der Aufklärung sein; auch ein Handelsposten, gewiss, aber ein Ort der Bildung, der Erziehung, eine Etappe auf dem Weg zum besseren Menschen.« Mit anderen Worten spiegelt der Konflikt zwischen dem Direktor und Mr. Kurtz den Konflikt zwischen den wahren und den vorgeblichen Zielen König Leopolds im Kongo wider.

Marlow schildert seine Flussreise erschüttert in den Begriffen seiner Zeit; er sieht Afrika mit den Augen eines englischen Seemanns, der zum Diener der Kolonisation wurde. Herz der Finsternis ist sehr vielschichtig; wie F. R. Leavis in The Great Tradition festhält, ist Marlow eine Erfindung, »für die Conrad mehr als eine Verwendung hat, die zugleich immer mehr und weniger als eine Figur ist und immer irgendetwas anderes als nur ein hervorragender Kapitän.«7 In diesen Umständen ist er ein Mann, der in einem albtraumhaften Land gefangen ist. Marlow beschreibt seine gefährliche Reise flussaufwärts – der Strom ist voller Strudel und verborgener Felsen, und die Völker an seinen Ufern befinden sich im Aufstand. Er beschreibt sein Zusammentreffen mit Mr. Kurtz, dessen Folgen und schließlich seine Rückkehr nach Europa.

Der Historiker Jean Stengers widersprach der Lesart, Conrads Erzählung als Anklage gegen König Leopolds Regime zu deuten, weil die meisten Verbrechen, die unter der Regierung des Kongo-Freistaats begangen wurden, im Rahmen der Kautschukgewinnung stattfanden, und diese begann erst ein oder zwei Jahre, nachdem Conrad den Kongo verlassen hatte. Das entspricht zwar der Wahrheit, doch für Conrad war die Kritik am Verhalten gewisser Kautschuksammler nicht der springende Punkt. Es ging ihm vielmehr darum, die grundsätzliche Beschaffenheit der kolonialen Beziehungen infrage zu stellen und ein Problem zu beleuchten, das tiefer wurzelte als alle Gräueltaten im Zusammenhang mit der Gewinnung einer einzelnen Ressource. Die Gewalt, die Conrad mit eigenen Augen sah, war keine Folge des Kautschukhandels; sie war untrennbar verbunden mit dem Vordringen der Europäer, sie war die Antwort auf den Widerstand der einheimischen Herrscher und ihrer Truppen. Sie war außerdem eine Folge des Elfenbeinhandels, den die Behörden des Freistaates den Afrikanern aus den Händen nahmen und monopolisierten. Conrads Briefe und sein Tagebuch belegen, dass eine allgegenwärtige bedrohliche Atmosphäre herrschte; seine Figur Marlow erinnert sich, dass die Männer, die »in dieser Finsternis lebten, eine unermessliche, geheime, verborgene Welt bewohnten, die nichts von der unseren wusste«. Die Kolonialisierung war grauenvoll genug, lange bevor Kautschuk zur Kostbarkeit wurde.

Der Titel des Romans bezieht sich nicht nur auf den Kongo oder auf Afrika. Obwohl die Geschichte im Kongo spielt, ist die Finsternis nicht die des finstersten Afrikas. Selbst wenn der Kongo im Herzen des Kontinents liegt, so ist das Herz im Titel ganz und gar nicht afrikanisch; es ist das koloniale Herz mit seiner »undurchdringlichen Finsternis«8, die Zukunft und die Folge der Kolonialisierung, also die Welt, in der wir heute leben. Diese tiefere Bedeutung entfaltet sich nach und nach im Verlauf der Reise.

Während ich in der Abfluglounge im Flughafen von Brüssel mit dem Regisseur Manu Riche wartete, kaufte ich mir Le Soir mit einem bebilderten Bericht von einem Flugzeugabsturz in Goma im östlichen Kongo, dem einundzwanzig Menschen zum Opfer gefallen waren. Eine DC-9 der einheimischen Fluggesellschaft Hewa Bora war beim Start verunglückt. Da wir mit Brussels Air flogen, hatte das nichts mit uns zu tun. Dann fragte ich Manu, ob er je von Hewa Bora gehört habe, und er meinte, soweit er wisse, hätten wir unsere nächsten beiden Flüge bei der Gesellschaft gebucht.

In der vorangegangenen Nacht hatte ich einen ungewöhnlich lebendigen Traum von einer alten Dame und einem weinenden Hund. Einen dieser Träume, die man nicht ganz abschütteln kann; Traumfetzen tauchten auf, als wir über die Sahara flogen. In Herz der Finsternis heißt es, »denn keine Nacherzählung kann die Stimmung eines Traums vermitteln, […] dieses Gefühl, dass man sich nicht wehren kann, dass man zum Gefangenen des Unfassbaren wird, das ja geradezu das Wesen jedes Traums ist …«9. Es ist eine weitverbreitete Ansicht, ich las sie während des Fluges noch einmal. Dann landeten wir in einem anderen Traum – dem Traum von Afrika.

Grenzkontrolle am Flughafen von Kinshasa, und selbst nach dreißig Jahren wirkt alles noch halbwegs vertraut. Es ist Abend, die frühe Dämmerung der Tropen senkt sich auf die Schlange stehenden Passagiere vor dem Flughafengebäude. Einige werden aus der Menge herausgerufen, es sind die afrikanischen Passagiere. Die Weißen müssen draußen bleiben. Adrett gekleidete Polizisten mit Knüppeln stellen uns in zwei Reihen auf, indem sie »Blancs à gauche, sauf Belges« brüllen – »Weiße nach links, außer den Belgiern«. Bald steht nur noch ein Grüppchen weißer Passagiere auf dem Asphalt, von denen niemand belgischer Staatsangehörigkeit ist. »Weiße nach links«? Es ist wie früher in Leopoldville, nur dass es damals die Schwarzen waren, die sich mit diesen geringfügigen Unannehmlichkeiten abzufinden hatten. Unsere Pässe werden in ein Büro mit dem Schild »Leiter Einreisebehörde« gebracht. Einer nach dem anderen werden wir aufgerufen einzutreten, um ein persönliches Gespräch mit ebenjenem Leiter zu führen. Seinem Auftreten nach zu urteilen handelt es sich bei der Einreise um eine vertrauliche Angelegenheit. Als ich an der Reihe bin, ist er die Höflichkeit in Person. Waren Sie schon einmal hier? Geschäftlich oder als Tourist? Wo ist Ihr Empfehlungsschreiben? Das befand sich bereits in der Gepäckhalle in der Tasche eines belgischen Cineasten. Das war bedauernswert und unüblich, doch die zentrale Frage des Leiters der Einwanderungsbehörde lautet: »Vous avez les moyens?« »Ja.« »Wie viel?« »Wie bitte?« »Combien, combien …?« Die Demokratische Republik Kongo ist nicht unbedingt ein Wohlfahrtsstaat; schwer vorstellbar, dass viele abgebrannte Europäer nach Kinshasa fliegen, um auf Kosten dieses Staates zu leben. Doch er möchte einen Blick in mein Portemonnaie werfen. Wir tun es gemeinsam. Offensichtlich ist es prall genug, denn ich darf gehen. Mit gleichbleibender Höflichkeit entlässt er mich aus seinem Büro in eine weitere Schlange vor der Passkontrolle. Ein anderer Beamter – von niedrigerem Rang, höherem Alter und schlechterer Laune – prüft meinen Pass und ist selbstverständlich über den Geldbetrag in meinem Portemonnaie und das fehlende Empfehlungsschreiben informiert. Kein Schreiben, keine Einreise. Er behält den Pass. In diesem Moment bricht am benachbarten guichet ein heftiger Streit aus, weil die letzte afrikanische Reisende, die dem Spinnennetz der Grenzbehörden noch nicht entkommen ist, den Versuch unternimmt, auch ohne den Nachweis einer Gelbfieberimpfung einzureisen. Sie stammt nicht aus der DRK, sondern aus Gabun, sie ist sehr gut gekleidet und scheint es gewöhnt zu sein, dass man ihre Anweisungen befolgt. Genau wie die Gelbfieberinspektorin, die nicht aus Gabun kommt und zudem noch einen weißen Arztkittel trägt. Der Streit wogt durch die Halle, die Stimmung kippt fast ins Hysterische, beiden Seiten schließen sich immer mehr Mitstreiter an. Schließlich flutet der streitende Mob hinaus auf das Rollfeld und verebbt in der Nacht. Vielleicht ist es an der Zeit aufzuwachen? Leider nicht … der Traum geht noch weiter.

»Qu’est-ce que vous avez prévu pour payer ce monsieur?«, murmelt ein kleiner Mann in der khakifarbenen Uniform eines Gepäckträgers etwas verschüchtert an meinem Ellbogen. Er lächelt freundlich und würde mir gerne helfen. Tja, wie viel habe ich denn eigentlich für den Beamten an der Passkontrolle vorgesehen? »Nichts.« Welch eine heikle Frage: Mein neuer Freund vermutet, dass zwanzig Euro das Fehlen eines Empfehlungsschreibens wettmachen würden. Eine wachsende Anzahl von Gepäckträgern, Taxifahrern, Polizisten und falschen Polizisten umringt mich – und als ein Neuankömmling namens »Thomas« auch noch behauptet, mein »Protokoll« zu sein, knicke ich ein und händige dem Beamten den zuerst genannten Betrag aus. Ein Uniformierter schnappt sich den druckfrischen blauen Schein und bringt ihn ins Büro der Passkontrolle, wo zwei Beamte ihn einer sorgfältigen Prüfung unterziehen. Echt. Mein Pass wird mir ausdruckslos über die Schultern meines Peinigers hinweg ausgehändigt. Ich bin durch die Brandung hindurch an den Strand geschwemmt worden. Der Traum ist vorbei. So viel Tamtam um zwanzig Euro. Thomas nimmt mein Gepäck und führt mich zu einem privaten Taxi. Wie sich herausstellt, hat er nicht gelogen. Er ist ein Freund des Regisseurs.

Thomas trug den Ehrentitel »Papa« wegen seines hohen Alters – er musste ungefähr fünfundfünfzig sein. Er war unser Fahrer und wirkte kräftig und leistungsfähig, auch so, als könne er mit einem Paddel umgehen, wenn er plötzlich in einem Einbaum säße. Er war ein Überlebender, der improvisierte. Auch wenn er uns nicht besonders alt vorkam, sagte er, dass es in der DRK nur wenig Menschen seines Alters gebe. Er fuhr schnell, aber ohne uns nervös zu machen. Als das Auto einmal liegenblieb und ich unter die Motorhaube lugte, entdeckte ich, dass der Drahtzug des Gaspedals mit einer Schnur umwickelt war. Warum? »Keine Ersatzteile.« Thomas lebte mit seiner Frau oder seinen Frauen in irgendeinem entfernten Vorort und stand sehr früh auf, um uns nach unserem Frühstück abzuholen. Ich erkundigte mich bei ihm nach der politischen Situation. Er legte jedes Wort auf die Goldwaage. »Es geht bergauf«, sagte er. »Langsam.« Und der Präsident? »Er ist ein junger Kerl, kein erschöpfter alter Mann. Er ist besser als sein Vorgänger. Aber wir müssen Gas geben. Wir sind noch nicht auf Reisegeschwindigkeit. Wir sind noch nicht mal auf dem Standard der Kolonialzeit angekommen, weil wir immer noch im ersten Gang fahren.« Er sah Politik durch die Brille des Autofahrers.

Als wir vom Flughafen auf einer vierspurigen Schnellstraße voller Menschen in die Stadt fuhren, kamen wir an einer halbfertigen Fußgängerbrücke vorbei, deren Betontreppen beidseits der zum Regierungssitz führenden Straße in den Himmel ragten. Die Stufen waren schon da, doch es gab keine Verbindung zwischen ihnen. Auch hier wuselte es vor Fußgängern, die sich zwischen den rasenden Lastwagen und Autos hindurchzuschlängeln versuchten.

Papas Taxi ratterte voran und lavierte sich durch den Industriemüll der westlichen Welt. Eine überdimensionierte Reklamewand gab die Präsenz des Polizeibataillons für Kriminalnachforschungen bekannt. An den Kreuzungen winkten Verkehrspolizisten in gelben Hemden auf Podesten, die ihren Pfeifen ab und an verblüffende Tonfolgen entlockten. Meistens standen sie einfach nur dort, ohne zu winken, und sahen durch ihre verspiegelten Sonnenbrillen auf das Chaos hinab. Wenn sie nicht einschritten, löste sich die Situation zwar nicht von selbst auf, sie verschlimmerte sich aber auch nicht.

Wir kamen mit einem Mann ins Gespräch, der auf einem Bürgersteig im Stadtzentrum neben einem Saftstand saß und sich gerade die Nachrichten im Radio anhörte. Er erzählte uns, er sei Lehrer, würde aber streiken, weil er seit geraumer Zeit nicht bezahlt worden sei. Er sollte eigentlich 75 Pfund die Woche plus Gehaltserhöhungen verdienen, aber bei ihm kam seit geraumer Zeit nichts mehr an. »Die sagen, dass wir dem IWF täglich 50 Millionen Dollar zurückzahlen. All das Geld, das Mobutu gestohlen hat. Deswegen hat das Kultusministerium kein Geld, und deswegen werde ich nicht bezahlt.« Die frei gewählten Abgeordneten der DRK bezogen in regulären Intervallen das Zehnfache seines Gehalts, und obendrein wurde ihnen ein Wagen mit Allradantrieb gestellt.

Während wir uns unterhielten, kam ein Junge vorbei. Er zog eine leere Orangensaftpackung an einer Schnur hinter sich her, die von zwei Stöcken durchbohrt war, an denen sich vier Räder drehten. Es schien ihm großes Vergnügen zu bereiten. Es gibt Tausende Straßenkinder in Kinshasa, manche von ihnen in der dritten Generation, Nachkommen der grandpères de la rue. Sie werden als Kleinkinder ausgestoßen und der Hexerei bezichtigt, was meistens bedeutet, dass ihre Mütter kein Geld haben, um sie großzuziehen. Wenn sie überleben, arbeiten sie als Taschendiebe oder Putzhilfen.

Der Lehrer bemerkte mein Interesse an dem Spielzeug. »Niemand hier sitzt händeringend rum, wenn er Probleme hat«, meinte er. »Wenn man ein Problem hat, findet man einen Weg, es zu umschiffen.«

1890 beschrieb Joseph Conrad den Nukleus der Siedlung, die sogenannte Hauptstation, die später zu den Stanleyfällen, dann zu Leopoldville und schließlich zu Kinshasa werden sollte, als »Bild einer bewohnten Wüstenei«10. Zwanzig Jahre später wurde aus dem persönlichen Herrschaftsgebiet des belgischen Königs eine Kolonie und Leopoldville zum Vorzeigeobjekt im kolonisierten Afrika. Es gab dort schattige Boulevards, moderne Hotels und ab 1960 Bürogebäude aus Stahl und Glas, eine Universität und einen Zoo. Doch unter Mobutu ging all das zugrunde. Heute bietet Kinshasa nach zwei Bürgerkriegen wieder das »Bild einer bewohnten Wüstenei«, wenngleich von ganz anderen Dimensionen. Die Stadt wirkt, als wäre sie von einem Tsunami aus dreckigem, abwasserverseuchtem Meerwasser überschwemmt worden, allerdings ohne dass ein Hilfsfonds auf die Überflutung reagiert hätte. Dabei bauen sich die Wellen immer und immer wieder auf, und von Mal zu Mal mit verheerenderen Folgen. So also sieht das Ergebnis des Experiments von König Leopold hundert Jahre danach aus.

An diesem ersten Abend aßen wir draußen in einem Restaurant an einem Markt namens Le Blok de Bandal. Die Straßenbeleuchtung war ausgefallen – »Stromsperre« –, aber im Restaurant hingen Girlanden mit Glühbirnen, die aus einem Generator hinter der Küche gespeist wurden. Das Bier war kalt, das Essen geheimnisvoll, und dazu dröhnte ausgelassene Musik aus den Lautsprechern. Ein Junge mit einem Tablett voller Nüsse und Zigaretten ging zwischen den Tischen umher, gefolgt von Kindern, die ihre Hände nach den Resten auf unseren Tellerrändern ausstreckten. Als wir abfuhren, rannten sie in der Hoffnung auf Geld oder ein paar Krümel neben dem Auto her. Sie hatten die Hälfte unseres Essens abbekommen. Sowie der Verkehr es zuließ, beschleunigte unserer Fahrer und sie fielen zurück, wie riesige Motten still in der Dunkelheit herumhüpfend, um den Hieben der größeren Jungen auszuweichen. Die kleineren Jungen führten fast geistesabwesend ihre Tänze auf. Ab und an sauste ein unsichtbarer Schlag aus der Finsternis auf sie nieder.

Unser Hotel war billig und lag in der Nähe der Straße zum Flughafen am Ende einer Gasse. Ein uniformierter Wächter döste in einem Stuhl vor dem Haupteingang. Mein Zimmer war sauber, auch wenn sich in der Wand bei der Dusche ein Loch befand, das groß genug für eine Ratte und ihre Beute war, was immer das sein konnte. Beim Einschlafen erinnerte ich mich an meine allererste Nacht in Kinshasa im Jahr 1975 während Mobutus Herrschaft, als die Stadt für ihre Extravaganz und hohen Preise bekannt war. Ich hatte in einem Restaurant unter lauter Europäern zu Abend gegessen, die in Kinshasa arbeiteten, aus Brüssel eingeflogene moules aßen und sich an einem guten französischen Muscadet betranken – Dinge, die ich mir nicht leisten konnte. Eigentlich hatte ich gar nicht in diesem Land übernachten wollen, und bis ich das Stadtzentrum erreicht hatte, gab es keine Hotelzimmer mehr. Schließlich fand ich ein Bett in einer billigen Absteige. Das Zimmer war voller Kakerlaken, die so groß wie kleine Vögel waren. Sowie ich das Licht löschte, begannen sie miteinander zu kommunizieren, flatterten umher und setzten zu Notlandungen neben dem Wasserglas an. Oder auf meinem Kissen. Schaltete ich das Licht an, verharrten sie mit ihren glänzenden und robusten Körpern regungslos an Ort und Stelle. Es war eine dieser unvergesslichen Nächte, in denen man sich fragt, warum zum Teufel man nicht in Europa geblieben ist. 1975 galt Kinshasa nachts als gefährlich, doch das Schlimmste, was ich erlebte, war ein Soldat, der mit einem Gewehr in mein Taxi stieg und mich darüber informierte, dass wir einen Umweg zu seinem Haus machen würden. Als er schließlich ausstieg, wollte er meine Olivetti Lettera 22 mitnehmen, eine hochmoderne tragbare Schreibmaschine. Der Taxifahrer zahlte ihm einen Obolus, und er ließ sie stehen.

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