Kitabı oku: «Schlangentanz», sayfa 4

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Papas Handy trällerte. Er fuhr rechts ran, obwohl wir unseren Flug erreichen mussten, und unterhielt sich ausführlich mit einem lieben, lange verschollenen Freund. Am Straßenrand bemalte ein auf einem Hocker stehender Künstler eine Werbetafel für eine Online-Ausbildung in Bürokommunikation. Schulkinder bahnten sich in ihren unwahrscheinlich weißen Hemden und gebügelten kurzen Hosen einen Weg zwischen umgestürzten Bäumen, Pfützen tropischer Gewittergüsse und baufälligen Hütten mit den handgemalten, wunderbar optimistischen Namen: »Maison la Gloire«, »Chez Mère Pierrette«, »Faculté de la Sade«, und schließlich »Maison Don de Dieu«, wo mit Klempnerzubehör und Hygieneartikeln gehandelt wurde. Papa Thomas beendete seine Unterhaltung. Eine riesige Polizistin in gelber Bluse winkte uns zurück in den Verkehr der Schnellstraße, bevor sie ihre Arbeit beendete und die Menge vor sich wie eine Bugwelle teilte, um an ihr Ziel zu gelangen, an das Laboratoire de l’Elégance.

Das originellste Schild hing über einem Barbiersalon – »Espace Schengen«. Seit dem Schengener Abkommen ist es ja nur noch eine kurze Seereise von der Saharaküste zu den kanarischen Inseln oder von Libyen zur Mittelmeerinsel Lampedusa und von dort über die Autobahn nach Brüssel und zum Justizpalast.

Conrad brauchte fast zehn Jahre, um seine Erfahrungen in Afrika in einen kaum hundert Seiten langen Roman zu destillieren. Ein vielschichtiger, dichter Text, dessen Lektüre sich immer wieder lohnt und der dem Bösen und dem Wahnsinn, die im Kongo-Freistaat ihr Unwesen trieben, auf den Grund geht. Er schildert die übermächtige Präsenz des Urwalds, die kriminelle Energie unter der Maske rechtmäßiger Gewalt, die Versklavung, die Furcht vor dem Unbekannten, die Heftigkeit des afrikanischen Gegenangriffs, das tödliche Klima, die Ausbeutung des Landes. Die Finsternis des Titels spiegelt die kindliche Idee des fernen Unbekannten und ganz wörtlich das erstickende Dunkel des hohen Waldes. Doch Finsternis wird schnell zu einer Metapher für den Tod, der so viele Agenten der Kompagnie erwartete, ebenso wie für die finsteren Absichten der Direktoren, die Geheimhaltung ihrer Geschäfte, die Furcht, die ihnen ihre aufsässigen Opfer einflößten, und für den Einfluss, den all das auf die zentrale Figur, auf Mr. Kurtz hat.

Zu der Zeit, als Conrad an dem Roman schrieb, griff die britische Armee in Transvaal auf der Suche nach Gold die Burenrepubliken an und pferchte Zivilisten in Konzentrationslagern zusammen, in denen Tausende Frauen und Kinder an Krankheiten und Mangelernährung starben. Derweil trieben die europäischen Nationen, die sich die Zivilisierung Afrikas zum Ziel gesetzt hatten, ihre offenen und geheimen Vorbereitungen für einen globalen Krieg voran.

Während sich die europäischen Großmächte – Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland – ihrer Selbstzerstörung immer weiter näherten, vervielfachten sich die Friedenskonferenzen, -kongresse und -tagungen. Auf der Haager Friedenskonferenz 1899 wurden Ausschüsse zu Fragen der Bewaffnung und des Kriegsrechts einberufen. Eine führende Figur auf dieser Konferenz, ebenso wie auf der Zweiten Haager Friedenskonferenz 1907, war Auguste Beernaert, einer der belgischen Politiker, die sich am stärksten für Leopolds afrikanisches Abenteuer einsetzten. Leopold II. schätzte seinen ehemaligen Premierminister Beernaert so sehr, dass er ihm das höchste Kompliment zollte, indem er ihn »den größten Zyniker des Königreichs« nannte. Beernaert bestätigte den König in seiner Einschätzung, als er 1909 den Friedensnobelpreis annahm.

Auf der Konferenz von 1899 erhob der Abgesandte der Vereinigten Staaten, Captain Alfred Mahan, ein Marineoffizier und Militärtheoretiker, gegen den Vorschlag eines Verbots von »Stickgasen« den Einwand, dass er »den Erfindungsgeist der amerikanischen Bürger« nicht einzuschränken wünsche. Der britische Abgeordnete wiederum lehnte das Verbot von Dum-Dum-Geschossen (einer britischen Erfindung) mit der Begründung ab, es sei die einzig wirksame Methode, die Wilden daran zu hindern, auch verwundet weiter anzugreifen. Dennoch wurden die militärischen Möglichkeiten in diesen beiden Punkten beschnitten. Es war, als lege ein martialisches olympisches Komitee unmittelbar vor Beginn der Wettkämpfe die Regeln fest.

Am 4. August 1914 erklärten die Großmächte diese Spiele für eröffnet. Elf Tage später feierten die Vereinigten Staaten, eine noch im Frieden lebende Nation, die Einweihung des Panamakanals. Und so strömten die stillen Wasserwege, die Conrads Erzähler Marlow beschrieben hatte, beidseits des Atlantiks dahin. Noch im Jahr 1915 bestieg ein englischer Geologe, der von der Union Minière du Haut Katanga zum Kupferschürfen eingestellt worden war, in einem Wald südlich des kongolesischen Kuba einen Hügel namens Shinkolobwe und erkannte, dass er auf einem sehr großen Uranvorkommen stand.

TEIL ZWEI

KAPITEL VIER
Das Land des Überflusses

»Das Wort ›Demokratie‹ in einem Satz wie ›… Demokratie einführen …‹ bedeutet meistens ›Pipeline‹.«

BEMERKUNG EINES EHEMALIGEN MITGLIEDS DER US-KÜSTENWACHE (2013)

»Willkommen im Land des Überflusses. Unser Motto lautet: ›Werde fett, wenn du kannst!‹« Dem Kellner im Hotel ist die Bestürzung aufgefallen, mit der wir auf unsere überladenen Teller starren. »Sahne und Zucker stehen auf dem Tisch, Sir.« Es ist aber keine Sahne, sondern dünne Milch, die in die Tiefen des Kaffees hinabsinkt, fast widerwillig, als würde sie ertrinken. Sie taucht auch nicht wieder auf. Man muss immer mehr hineinschütten, bis der Kaffee endlich etwas heller wird. Wir sind in New Mexico; die Filmcrew sondiert das Terrain.

Jenseits der Glaswand des Frühstückraumes laufen Nordamerikaner im Halbdunkel der Hotellobby auf dem Teppich hin und her. Sie kommen mir ziemlich groß vor, wenn es ihnen auch nichts zu nützen scheint. Schließlich ist Größe nicht immer mit Macht gleichzusetzen. Hinter dem Glas wirken sie wie Wesen in einem Aquarium. In diesem Hotel treten sie paarweise auf. Treu, unbeholfen, ältlich und bestrebt, niemandem zu nahe zu treten, bewegen sie sich langsam, wie unter Wasser, auf dem Teppich hin und her. Es ist Mai, und hier in Albuquerque ist der Startschuss für die Immobiliensaison gefallen. Und wir schreiben das Jahr 2008, der Begriff »sub-prime«*, der in den USA zum Schlagwort geworden ist, geht um die Welt. Wir sind im Rentnerland. In dieser Stadt heißt der Flughafen »Sonnenhafen«. Es ist ohnehin nur eine kleine Ecke der gigantischen Militäreinrichtung Kirtland Air Force Base. Von hier aus sind im Jahr 1945 die B-29-Langstreckenbomber zunächst mit Kurs auf die Marianeninsel Tinian und von dort aus weiter nach Hiroshima und Nagasaki gestartet. Am heutigen Tag bestellt man in der Wall Street Aktienhändler in Hundertschaften in Konferenzräume ein, um sie zu feuern. Derweil wandern die alten Burschen immer noch in Jeans und mit Baseballkappen durch die Lobby. Wenn sie den Lift ansteuern, fürchten sie sich davor, dass jemand zu ihnen in die Kabine steigt. Doch wenn es tatsächlich passiert, nehmen sie Blickkontakt auf und lächeln verkrampft. Schlag mich nicht, lächeln sie, schlag mich nicht.

Am Sonnenhafen gibt es auch eine ausgezeichnete Autovermietung. Nachdem man den üblichen Papierkram erledigt hat, betritt man einen schattigen Parkplatz, auf dem Hunderte fast fabrikneuer Autos mit den Schlüsseln im Zündschloss nach Größe gruppiert herumstehen. Man macht seine Preisgruppe ausfindig. »Suchen Sie sich irgendein Auto zwischen den Nummern 72 bis 90 aus.« Irgendein Auto? Es gibt rote, weiße, metallic-glänzende. Alle Türen stehen offen, alle Schlüssel stecken. Man fühlt sich wie ein Kind im Spielzeugladen – für welches soll man sich denn entscheiden? Etwas später überkommt einen das Bedürfnis, sich heulend auf den Boden zu schmeißen und mit allen vieren den Asphalt zu bearbeiten. Der Filmemacher steigt in ein grünes Auto und schaltet das Radio ein. »Biiig 98,5 mit Barbara!« Eine Männerstimme. »Jaaa, gleich kommt Barbara. Setz schon mal deine Radiobrille auf … Biiiig 98,5 … Oldies den ganzen Tag und immer zur vollen Stunde die Beatles.« Zu alledem die Sonne und die Wüste und der Himmel, und dabei hatten wir die Autovermietung noch nicht einmal verlassen. Willkommen im Land des Überangebots. Willkommen im Land des Überflusses.

An jenem Morgen fand in Albuquerque ein Ballonfestival statt; wo man auch hinsah, überall stiegen diese großen, bunten, harmlosen Objekte in die Höhe, um zur Feier eines weiteren wunderbar milden Tages am internationalen Sonnenhafen im Himmel zu schaukeln. Wie sie einander dort oben langsam umkreisten und ohne erkennbares Ziel umherschweiften, erinnerten sie mich an die Laputaner bei Swift, die auf einer am Himmel schwebenden Insel leben und in tiefes Nachdenken versunken oder mit obskuren Berechnungen beschäftigt sind. Im Stadtführer waren sechsundzwanzig Museen und Parks aufgelistet, von denen mich besonders das Computerchip-Museum und das Internationale Klapperschlangenmuseum reizten. Doch stattdessen nahm ich die Interstate 25, um mir eine noch exotischere Ausstellung anzusehen, nämlich die des Nationalen Atom-Museums1 am Rande der Luftwaffenbasis Kirtland.

Mir fiel ein, dass bei meinem vorangegangenen Besuch eine ziemlich klapprige B-29 Superfortress vor dem Museum gestanden hatte. Es handelte sich um das Flugzeug, von dem die Bombe abgeworfen worden war. Auf dem Gelände fanden sich ein paar Informationstafeln. Demnach war die B-29 als »Waffe zur Verteidigung der Hemisphäre« im Februar 1940 vom Kriegsministerium in Auftrag gegeben worden. Sie war eine militärische Wunderwaffe, die Bomben mit einem Gewicht von 7260 Kilo bei einer Geschwindigkeit von 640 Stundenkilometern 4350 Kilometer weit tragen konnte. Diese Anforderungen beruhten auf den Informationen, die »der erbitterte Luftkrieg über Großbritannien und dem europäischen Festland« lieferte. Der erste Prototyp der B-29 startete am 21. September 1942 vom Boeing Field in Seattle. Fünf Monate später starben der leitende Testpilot und seine zehn Mann umfassende Crew bei einem Probeflug mit der B-29 Nr. 2. »Der tragische Unfall wurde durch ein Feuer im Triebwerk ausgelöst, ein Problem, das die B-29 immer wieder heimsuchen sollte.« Die Verwendung des Wortes »heimsuchen« verblüffte mich. Hunderttausende sind durch diese Flugzeuge getötet worden, hauptsächlich Zivilisten. Und die Crews wurden von der Angst vor Triebwerksbränden »heimgesucht«. Während ich dies las, flatterte eine Taube, die auf der gläsernen Nase des Flugzeugs gesessen hatte, über die Antriebswelle von Nr. 3 und hüpfte dann ins Triebwerk. Die Bombenklappen des Flugzeugs waren geöffnet, sodass man in den Schacht hinaufblicken konnte, aus dem »dieser technische Schnickschnack«2 über Nagasaki abgeworfen worden war.

Besonders frappierend an dem Museum ist der vorherrschend überschwängliche Ton. Die B-29 ist zu einem festen Bestandteil des nationalen Heldenmythos geworden. Wenn Senator Joe McCarthy militärisch noch etwas glaubwürdiger wirken wollte, flocht er ein, dass er als Heckschütze in einer B-293 für ein 20-Millimeter-Geschütz verantwortlich gewesen sei. Bis zu 470 dieser Flugzeuge wurden bei Angriffen in Bombengeschwadern eingesetzt; in einer einzigen Nacht kamen bei einem dieser Angriffe 80000 Menschen durch hochbrisanten Sprengstoff ums Leben. Der Tonfall des Museums ist einem seiner Exponate entlehnt, nämlich der Titelstory der New York Daily News vom 7. August 1945: »atombombe zwingt japsen in die knie – Haut rein wie 2000 vollbeladene B-29. ›Weitere unterwegs‹, warnt Truman.« Im Gästebuch steht: »Bomben sind klasse. Warum werfen wir nicht noch ein paar ab?« Ein Teil des Museum ist dem »Aufstieg und Fall des Kommunismus« gewidmet, ein anderer, größerer der »Rechtfertigung der Bombe«: »1940 standen die Deutschen kurz davor, ihren ersten subkritischen Uranreaktor zu bauen … 1941 waren sie dabei, den Wettlauf um die Atombombe zu gewinnen. Sie hatten eine Schwerwasserfabrik, hochwertiges Uran … und die größte chemotechnische Industrie der Welt.« Im Museum sind viele Bomben ausgestellt, unter anderem die Hüllen von Little Boy und Fat Man, die über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden. Jüngere Besucher, etwa im Alter der Enkel von Dr. Seltsam, versuchen manchmal hinaufzuklettern.

Bei einem meiner Besuche führte mich ein lockerer Luftwaffenveteran, der zur Zeit der Kubakrise 1962 in Deutschland stationiert war, durch die Ausstellung. Am Ende des Rundgangs riskierte er eine überraschende Beichte. »Ich arbeitete damals in der Raketenleitzentrale, daher weiß ich, dass uns bei einer Gelegenheit nur zwei Sekunden vom Abfeuern trennten. Ich war bereit dazu. Aber nach all dem, was ich mittlerweile in Erfahrung gebracht habe, würde ich heute eher das Schaltpult kurz- und kleinhauen.« Im Souvenirladen bedankte sich eine äußerst hilfsbereite Dame für meine Unterstützung des Museums und erklärte mir, dass die Silberohrringe – maßstabsgetreue Nachbildungen von Little Boy und Fat Man – noch erhältlich seien, aufgrund von Beschwerden japanischer Besucher jedoch unter dem Tresen aufbewahrt würden. Die Minibomben stammten von Navajo-Silberschmieden. Beim Hinausgehen bemerkte ich einen weiteren Ausstellungsteil mit dem nachdenklichen Titel »Die Herausforderungen nuklearer Führerschaft«.

Zu der B-29 vor dem Museum waren inzwischen noch weitere furchterregendere Maschinen hinzugekommen, ordentlich in chronologischer Reihenfolge geparkt, jedes Flugzeug schrecklicher als das Vorgängermodell, jeder Name – Matador, Mace (»Keule«), Titan, Thor – bedrohlicher als der davor. Wie sie dort am Rand des Rollfelds aufgereiht stehen, lassen sie mich an das kaputte Spielzeug eines Riesen denken. Ich kam mit einem großen, freundlichen Besucher ins Gespräch, der sich als pensionierter Kernphysiker mit Spezialgebiet Kritische Masse vorstellte. Er erklärte mir, er sei überzeugter Christ und habe sein ganzes Berufsleben mit der Arbeit an Atomwaffen verbracht. »Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass sie ein Geschenk Gottes sind. Es war das Einzige, wovor die Russen Angst hatten. Ihretwegen haben wir den Kalten Krieg gewonnen.« Irgendwo in den tiefen Bodenschichten unter uns befand sich das einzige staatliche Lager für veraltete atomare Sprengköpfe. Etwa eine Woche nach meinem Gespräch mit dem christlichen Bombenwissenschaftler las ich einen Artikel im Albuquerque Journal, in dem es darum ging, wie oft die Soldaten, die die Nuklearwaffen von der Luftwaffenbasis Kirtland abtransportieren, betrunken seien. Diese Männer werden speziell für den Transport solcher Waffen geschult; wenn sie Sprengköpfe, Plutonium und Atomwaffen in Hochsicherheitsfahrzeugen durch das Land fahren, sind sie schwer bewaffnet. Dem Artikel zufolge war es in den letzten drei Jahren zu sechzehn Vorfällen gekommen, bei denen Alkohol im Spiel war. Es schien bei dem nuklearen Wachpersonal in Mode gekommen zu sein, ihre beladenen LKWs über Nacht vor irgendeiner Bar zu parken, ordentlich die Sau rauszulassen und betrunken einen Streit vom Zaun zu brechen. Aber keine Sorge, am nächsten Morgen waren sie mitsamt den Sprengköpfen ja wieder auf den Straßen unterwegs.

Die zentrale Aussage des Nationalen Atom-Museums ist die folgende: ein Segen, dass es die Atombombe während des Krieges gab, die Nation kann heute noch stolz auf sie sein. Was die militärische Rechtfertigung des Gebrauchs der Atombombe angeht, ähnelt es dem Königlichen Museum in Tervuren. Beide Einrichtungen halten an überkommenen Mythen fest, die den Nukleus eines Schwarzen Museums der Menschheit in sich bergen. Die zitierte Schlagzeile der New York Daily News war prophetisch. In Kriegszeiten musste von der Berichterstattung über militärische Operationen jede Silbe von der Zensur genehmigt werden. Am Morgen nach dem Bombenabwurf auf Hiroshima – einer Stadt, die in Sekundenbruchteilen in Schutt und Asche gelegt worden war, vorgeblich um die Japaner zur Kapitulation zu bewegen – drohte Präsident Truman jedoch, dass »weitere [Bomben] unterwegs« seien, obwohl er später behauptete, der Atombombeneinsatz wäre »eine taktische Entscheidung gewesen, die den Gebietskommandanten überlassen war«.

Die Interstate 25 führt von Albuquerque nach Santa Fe nördlich am Rio Grande entlang. Hier verlief der Pfad, den viele der ersten Kolonialisten im 17. Jahrhundert nach New Mexico, »das Sibirien Neuspaniens«, einschlugen. Hat man Albuquerque hinter sich gelassen, verläuft die Straße parallel zu den Anhöhen im Osten, unter denen es einen dreihundertdreißig Meter hohen Kalk- und Granitfelsen gibt, auf dessen höchsten Zacken man die Antennenmasten und Schirme einer Funkstation ausmachen kann. Im Licht der Abendsonne treten die Risse in der Felswand klar hervor, und vor dem sturmgepeitschten Himmel glänzen die Masten wie die Speere und Banner einer Phantomarmee. Diese Landschaft war die Bühne für das erste Aufeinandertreffen von Nordamerika und Europa nach Kolumbus’ Reise über den Atlantik im Jahre 1492. Dessen Nachfolger siedelten sich in Kuba an. 1519 segelte einer dieser Abenteurer, Hernán Cortés, ohne Auftrag auf der Suche nach Gold zum amerikanischen Festland, stürzte das Aztekenreich und taufte es Neuspanien.

Cortés befahl seinen Feldherren, von der aztekischen Hauptstadt aus, dem heutigen Mexiko-Stadt, auszuschwärmen, das Land zu erobern und die Einwohner zu bekehren. Dies erwies sich als langwierig und mühselig, doch 1540 gelang es dem spanischen General Francisco Vázquez de Coronado, die fürchterliche nordmexikanische Wüste zu durchqueren und das Gebiet zu erreichen, das heute New Mexico heißt. Der Vizekönig Neuspaniens hatte ihm den Auftrag erteilt, die Indianer zu unterwerfen, sie jedoch gerecht zu behandeln. Coronado setzte sich darüber hinweg und stürmte die ersten drei indianischen Dörfer, auf die er stieß.4 Seine Gewalt war zum Teil seiner Frustration geschuldet, denn man hatte ihn glauben lassen, die Städte im Flusstal des Rio Grande strahlten vor Gold und Silber. Stattdessen fand er Dörfer aus Lehm und Steinen vor. Die vierte Siedlung auf seiner Route, das heutige San Felipe, lag im Schatten von Weiden und Pappeln am Fluss. Hier ließ er das Winterquartier errichten und die Einwohner vertreiben, die in den Sandia-Bergen Zuflucht suchten. In den bis zu 3000 Meter hohen Gebirgszügen waren die Zwillings-Kriegsgötter sowie die Windfrau und ihre höchste Schutzgottheit, die Spinnenfrau, beheimatet.5

General Coronado zog die folgenden drei Jahre zwischen der Prärie mit ihren Büffelherden und dem Grand Canyon umher und kartografierte ein riesiges Gebiet. Eine Wüstenschlucht etwas südlich von seinem ersten Winterquartier nannte er Jornada del Muerto (»Pfad des Toten«). Da er jedoch kein Gold fand, zog er sich schließlich aus diesem feindlichen Terrain zurück. Bei seiner Rückkehr nach Mexiko-Stadt wurde er festgenommen und wegen Grausamkeit gegen die Pueblo-Indianer angeklagt. Erst fünfundfünfzig Jahre später sollte die nächste militärische Expedition unter dem Befehl von Juan de Oñate und in Begleitung von Franziskanermönchen nach New Mexico zurückkehren und eine befestigte Mission errichten, der sie den Namen Santa Fe gaben, Stadt des Heiligen Glaubens. Ihre Ankunft im Jahre 1595 beendete die große Ära der Kultur der Pueblo-Indianer – fünfundzwanzig Jahre bevor die Pilgerväter Neuengland erreichten.

Die spanischen Kolonialisten bekehrten die Indianer New Mexicos, bei Bedarf auch gewaltsam, heirateten einige und versklavten andere. 1680 erhoben sich die Indianer und vertrieben die Spanier aus Mexiko. 1692 gewann ein spanischer General namens Don Diego de Vargas das Territorium zurück, das bis zur Unabhängigkeitserklärung Mexikos 1821 Teil des spanischen Kolonialreiches blieb. Zu dieser Zeit bestand das mexikanische Hoheitsgebiet aus dem heutigen Mexiko sowie aus den heutigen nordamerikanischen Bundesstaaten Texas, New Mexico, Arizona, Colorado, Utah, Nevada und Kalifornien.

Wie Völker aufeinanderfolgten und wie sich Machtverhältnisse änderten, kann heute an Ethnien nachvollzogen werden, die sich wie Gesteinsschichten voneinander abgrenzen. Die ersten »Amerikaner«, die indianischen Ureinwohner, leben in autonomen Gemeinschaften noch auf dem Land ihrer Vorfahren, beziehungsweise in neunzehn über den Bundesstaat verteilten Pueblos. Indianische Historiker haben die Pueblos in drei geografische und drei sprachliche Gruppen eingeteilt. Eine dieser Sprachen besteht wiederum aus drei Dialekten. Da die Pueblo-Indianer immer noch an denselben Orten wie bei der Ankunft der ersten Europäer wohnen, war es ihnen möglich, einen Großteil ihrer ursprünglichen kulturellen Identität zu bewahren. Außerdem hatten sie in gewisser Weise Glück, dass ihr Gebiet von spanischen Katholiken erobert wurde, weil diese im 17. Jahrhundert nicht in der Lage waren, die fremde Kultur zu zerstören. Resultat ist bei den Pueblo-Indianern von New Mexico laut dem Historiker Joe S. Sando eine »einzigartige Mischung europäischer Herrschaftsstrukturen, christlicher Rituale und Überzeugungen sowie Rechtsformen, die den Menschen von der Regierung aufgezwungen wurden«. Trotz »der Bombardierung« durch drei aufeinanderfolgende fremde Herrscher haben sie irgendwie überleben können.

Die zweite historische Schicht bilden die Nachkommen der spanischen Kolonialisten und der Ureinwohner, die untereinander heirateten und zu den ersten spanischsprechenden Mexikanern wurden. In seinem essayistischen Meisterwerk Das Labyrinth der Einsamkeit beschrieb Octavio Paz sie so:

Ob alt oder jung, Kreole, Mestize [von spanischem oder von spanisch-indianischem Blut], General, Arbeiter oder Akademiker: der Mexikaner scheint mir ein Wesen zu sein, das sich verschließt und verwahrt. Maske seine Miene, Maske sein Lächeln. In seiner herben Einsamkeit gereicht ihm – ruppig und höflich zugleich – alles zur Abwehr […]. Wie ein Geprellter geht er durchs Leben.6

In New Mexico werden die Bürger mexikanischer Herkunft Hispanics genannt. Sie bilden eine eigene Wählerklientel; sie sind nicht immer Mitglieder der herrschenden Klasse. Nicht selten werden sie wegen ihres Aussehens von Polizisten angehalten und beschuldigt, illegal eingewandert oder schlicht »in mexikanischem Zustand« (Driving While Mexican) gefahren zu sein.

Die Geschichte hat erst den Ureinwohnern übel mitgespielt, als ihnen ihr Land geraubt wurde, und dann den Hispanics, als die Anglos, meist protestantische Siedler aus dem Osten, alles eroberten, was ihnen in die Quere kam, und in New Mexico fortan das Sagen hatten. Vor allem der Vertrag von Guadalupe Hidalgo verbittert die Hispanics noch heute. Mit diesem Übereinkommen wurde 1848 der Mexikanisch-Amerikanische Krieg beendet und die Hälfte des mexikanischen Territoriums, darunter auch New Mexico, an Washington abgetreten. Nur fünfundzwanzig Jahre lang herrschte Mexiko über New Mexico, dessen Einwohner sich kulturell am stärksten Spanien zugehörig fühlten. Sie sprachen weiterhin Spanisch, blieben dem katholischen Glauben treu und nannten sich selber Hispanics. Doch in Washington diskriminierte man sie als »Farbige«.7 In den Augen Gottes waren Schwache weniger wert – sie mussten sich anpassen oder sterben. So war der Tag im Jahr 1821, an dem Mexiko seine Unabhängigkeit von Spanien erklärte, ein schwarzer Tag für die Hispanics von New Mexico.

Wenn man der Interstate 25 in nördlicher Richtung folgt, erreicht man bald den Pueblo San Felipe. Die Spanier nannten diese Straße Camino Real – die Königliche Straße –, da sie zurück ins spanische Königreich führt. Von San Felipe taucht heute zuerst ein Betonturm auf und dann ein blinkendes Neonschild: »Willkommen im Pueblo San Felipe. Gratisspiele. Megakasino. Spiel mit!« Die San Felipe haben mittlerweile, ebenso wie andere Pueblo-Indianer, das Recht, Kasinos zu betreiben. Die Manager sind Profis aus New Jersey, die Spieler Rentner aus New Mexico, und die San Felipe streichen entspannt den Profit ein. Auf dem Parkplatz des Kasinos stehen lauter schwere Autos, und drinnen bewegen sich deren Fahrer nicht mehr paarweise, sondern einzeln, langsam und so würdevoll als möglich auf ihre Lieblingsautomaten zu. Sobald sie ihr Ziel erreicht haben, klettern sie auf den Hocker, starren auf die blinkenden Lichter, werfen Münzen in den Schlitz und ziehen an den Hebeln. In der wirklichen Welt scheint grell die Sonne. Im Kasino gibt es kein Tageslicht. Die Eingangstüren sind aus Rauchglas. Hier kann man sich immer vormachen, zu einer extravaganten Stunde – drei Uhr morgens zum Beispiel – unterwegs zu sein. Tatsächlich ist das Frühstück erst eine halbe Stunde her, und das Spielen hat begonnen. Voneinander getrennt durch einen genau bemessenen Abstand zwischen den Automaten, ohne jeglichen sozialen Kontakt, ohne die Möglichkeit, einen freundlichen Blick auszutauschen, glotzen die Spieler in das sich drehende Innere der Maschinen. Während die Automaten ihre Ersparnisse verschlingen, kneifen die Damen die Augen zusammen, als wollten sie sagen: »Komm schon. Noch bin ich nicht blank.« Ihre Ehemänner sitzen vorgebeugt mit hochgezogenen Schultern da, als würden sie gerade in einem wahnwitzigen Kavallerieangriff die Armutsgrenze stürmen.

In regelmäßigen Abständen hört man es klirren und scheppern; dann gibt ein Automat nach und spuckt einen Haufen mehr oder weniger wertloser Silberstücke aus. Aber Zombies blinzeln nicht. krach! Die Münzen fallen. Null Reaktion. Wird hier ein Horrorfilm gedreht? Die San Felipe betreiben eine Tagesstätte zum Ausplündern ältlicher Anglos. Der Anteil männlicher Zocker ist niedrig, das Durchschnittsalter liegt um die achtzig. Einige von ihnen sind so gebrechlich, dass sie an ihren Hebeln zu hängen scheinen, statt an ihnen zu ziehen. »Spiel mit! Sieh dich nicht um.« Willkommen im internationalen Sonnenhafen, wo die Paranoia umgeht.

Der Pueblo der San Felipe ist außer Sichtweite des Megakasinos, auf der anderen Seite der Interstate 25. Es hat sich in den letzten tausend Jahren keinen Zoll bewegt. Der Rio Grande fließt noch immer durch sein Zentrum, am Ufer des Flusses stehen noch immer Pappeln und Weiden, und zwischen den Häusern liegen aus der Erde gekratzte Gemüsebeete. Die Kirche ist verschlossen, und die heilige kiva, der unterirdische Zeremonienraum im Herzen des Pueblos, ist selbstverständlich nicht zu besichtigen, aber eine Tür öffnet sich und Wilbert tritt heraus, um uns zu begrüßen. San Felipe ist einer der historischen Pueblos von Sandoval County. Die Leute sprechen Keresan. Aber Wilbert spricht Englisch. Er bestätigt, dass dies der historische Pueblo San Felipe sei, und stellt sich als Acrylmaler vor. Zufälligerweise hat er ein paar Bilder unterm Arm. Wir nehmen sie höflich in Augenschein. Er erklärt, dass er bei seiner Mutter lebe. Sie habe ihn auch mit den Gemälden hinausgeschickt, und für den Fall, dass wir es uns noch einmal anders überlegen, gibt er uns ihre Telefonnummer. Im Übrigen sei dies ein ziemlich günstiger Augenblick, das Dorf zu verlassen, denn um diese Tageszeit treibe sich hier kaum jemand herum.

Auf dem Weg hinaus, kurz bevor wir die Schienen der wichtigsten Bahnlinie nach Süden Richtung Albuquerque kreuzen, fahren wir an einem Imbiss mit einem kleinen Laden vorbei. Ein guter Ort für einen Kaffee. Das Restaurant sieht blitzsauber aus, ist aber geschlossen. Der Laden hat geöffnet. Die Inhaberin erzählt uns, im Pueblo werde eine Fehde ausgetragen. Sie sei kurz davor, den Laden dichtzumachen. Früher habe sie gut verdient, aber jetzt bestehe ihre Kundschaft nur noch aus den Kindern von San Felipe. Ihre Regale sind fast leer. Sie sagt, die Erwachsenen kauften alle im großen Drugstore neben der Gaspumpe des Kasinos ein. Das Kasino sei ihr Ruin.

Als ich 1999 das erste Mal nach Santa Fe kam, saß ich in einem Leichtflugzeug, das es von Denver aus gerade so eben über die Berge von Sangre de Cristo schaffte. Die Maschine ruckelte über menschenleeres Wald- und Weideland, ein Gebiet, um das seit der spanischen Eroberung immer wieder heftig gestritten wurde. Die Anreise über Land am Rio Grande entlang ist weniger dramatisch. Am Straßenrand der Interstate 25 stehen Schilder, die Bürgern mit Gemeinsinn eine Belohnung versprechen, sollten sie gebührenfrei von ihrem Handy aus bei der Polizei anrufen, um strafbare Fahrweisen anderer Verkehrsteilnehmer anzuzeigen. Der Fluss führt hier deutlich weniger Wasser, denn das wird von der Stadt abgezweigt, für Pools, den Golfplatz und die zahllosen Rasen. Eine der größten Grünflächen liegt innerhalb der Mauern eines riesigen Militärfriedhofs.

Santa Fe gehört zu jenen Städten, deren Namen die Geschichte des Westens heraufbeschwören, wie Tombstone oder Dodge City. Es ist ihr auch gelungen, etwas von dieser Vergangenheit zu erhalten. Laut dem Amt für Denkmalschutz gibt es hier rund zehntausend historisch bedeutsame Bauten. Auf den ersten Blick wirkt sie wie eine Stadt, in der exzentrische Amerikaner von der Ost- und Westküste aufeinandertreffen, um ein einfaches Leben unter reichlich luxuriösen Bedingungen zu führen. Aber die Vielschichtigkeit New Mexicos ist noch immer gegenwärtig. Der offizielle Reiseführer erklärt unverblümt, dass »bis zum Zweiten Weltkrieg Siesta gehalten« wurde. Der Einfluss der Hispanics ist nach wie vor spürbar, und so kann es vorkommen, dass man tatsächlich – wie hier üblich – im gemächlichen Tempo auf einem Bürgersteig zu Fuß in der trockenen Hitze unterwegs ist. Ich war bei Freunden zu Besuch, in deren Garten ich eine Eidechse, ein Streifenhörnchen und eine sechzig Zentimeter lange Schlange zu Gesicht bekam. Die örtliche Gärtnerei warb für Rispengras-Rollrasen und Taschenrattenfallen, und mein Schlafzimmer wurde vom Geist einer sehr verstörten Chinesin heimgesucht – den Toby, der Mops der Familie, sogar bei Tageslicht zu sehen schien.

In Santa Fe gibt es eine Kathedrale im romanischen Stil, die dem Heiligen Franziskus gewidmet ist und von dem Auvergnaten Erzbischof Lamy gebaut wurde, der seine Diözese dreißig Jahre lang geleitet und schließlich Willa Cather zu ihrem Meisterwerk Der Tod kommt zum Erzbischof inspiriert hat. Mit über zweitausend Metern ist Santa Fe eine der höchstgelegenen Städte des Landes. Sie verläuft sich zwischen niedrigen Sandhügeln und wird im Nordosten von Sangre-de-Cristo-Bergen beherrscht, einem Ausläufer der Rocky Mountains. Santa Fe zieht kreative Leute an. Eines Abends wurde meine Unterhaltung mit einem Gitarrenbauer, der mir die akustische Umsetzung der Heisenbergschen Unschärferelation erläutern wollte, von einem Physiker unterbrochen, der in der Atomwaffenanlage in Los Alamos arbeitete und uns aufgeregt berichtete, ein Hüttensänger sei mit dem Kopf nach Osten weisend zu vergraben, nachdem man ihm die Schwanzfedern ausgerupft habe, um sie einem Zuni-Regendoktor zu zeigen. Wasser und Regen sind noch heute zentrale Themen. Die ersten Entdecker beschrieben dem Vizekönig Neuspaniens die Gegend als »weit, trocken und heiß« – und daran hat sich wenig geändert. In New Mexico gibt es immer noch Streit ums Wasser, und manchmal endet er sogar tödlich.

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413 s. 6 illüstrasyon
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9783937834979
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