Kitabı oku: «Almas Rom», sayfa 2
V
Die Absätze seiner Schuhe klopften auf das Kopfsteinpflaster. Im gleichen Takt hämmerten sich die Worte in seinen Schädel: «Cristoforo, du bist krank, schwer krank. Du bist krank, …» Er kehrte von der Sprechstunde zurück. Der Hausarzt in seinem weissen Kittel hatte von esaurimento gesprochen, Erschöpfung. «E-sau-ri-men-to, e-sau-ri-men-to, …», dröhnte es in seinem Kopf, und er fürchtete, die ganze Stadt könnte die Diagnose mithören. Sein Magen war flau, seine Schritte schwer und langsam.
Dottor Venditti hatte ihm noch drei Monate gegeben. «Du musst aufhören, hörst du!»
Das war gnadenlos. Drei Monate! Dottor Vendittis Hand auf seiner Schulter war ein Hohn gewesen, keine Aufmunterung, wie er es vielleicht gemeint hatte. «Kehr zurück in die Heimat! Die Bergluft wird dir gut tun.»
Zurück in die Heimat? Cristoforo lachte auf, der Arzt hatte gut reden. Was sollte er dort? Wie sollte er sieben Kinder durchbringen? Seine Existenz in Rom aufgeben? Und wenn er trotz allem nicht genesen würde? Ein kalter Schauer raste über seinen Rücken. Die Härchen seiner Unterarme stellten sich auf. Es protestierte in ihm. Das ist nicht wahr! Das will ich nicht! Er schüttelte sich.
Die letzten Sonnenstrahlen waren die Hausfassaden hinaufgekrochen und schwanden über der Stadt, als Cristoforo am Haustor anlangte. Er legte seine Hand auf das warme Holz und lehnte seine Stirn daran. Über ihm der Türklopfer, ein grimmig blickender bronzener Teufelskopf. Ihm war schwindlig, und trotz der Hitze fror er am ganzen Körper und zitterte. Mücken sirrten um seine Ohren, ihm fehlte die Kraft, sie fortzuscheuchen. Auf einmal tauchte Anna auf in seiner Erinnerung. Wie sie sich an ihm vorbeidrückte. Ihr noch schlanker Körper an seinem ausgestreckten Arm, mit dem er ihr das Eingangstor aufhielt. Ihr Eau-de-toilette hatte nach Zitronenblüten geduftet. Ein flüchtiges Lächeln huschte über Cristoforos Lippen. Er sah, wie sie lachte und davoneilte ins dunkle Innere. Am Treppenabsatz hatte er sie eingeholt, ihre Hand gestreift und war dann, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppen hinaufgestürmt. Auf dem Boden des ersten Stockwerks hatte er sich mit einem beschwingten Hüpfer zu ihr hingedreht.
Und jetzt schleppte er sich hinauf, von Stufe zu Stufe. Die rechte Hand krampfte sich um den Handlauf des Treppengeländers. Er versuchte, seiner weichen Knie Herr zu werden. Nichts war mehr da von der sprühenden Kraft seiner Jugend. Von der Begeisterung von damals, im Dezember 1892, eine Woche nach seiner Hochzeit mit Anna. Mit ausgebreiteten Armen hatte er auf sie gewartet, während sie, ihre langen Röcke raffend, erwartungsvoll die letzten Stufen hinaufgestiegen war.
Das Haus war einige Jahre davor erbaut worden, mitten in den goldenen Jahren des römischen Baubooms. Es war sehr modern gewesen. Die Küche war mit einem neuartigen Holzkohleherd mit drei Kochvertiefungen und Grillgitter ausgestattet, es gab fliessendes Wasser in Küche und Bad und überall elektrisches Licht. Anna hatte gegluckst vor Freude. Voller Stolz hatte er ihr die neue Wohnung vorgeführt. Es war ja schon ein bisschen verrückt gewesen. Nach seiner Ankunft in Rom hatte er sich mit dem Einsammeln von Zigarettenstummeln für wenige centesimi über Wasser gehalten, vierzehn Jahre später hatte er sich den Kauf dieser Wohnung leisten können.
Siebzehn war er gewesen, als er das elterliche Dorf zusammen mit seinem älteren Bruder Edgardo verlassen hatte. Ohne Mittel waren sie, die beiden jüngsten von elf Geschwistern, dem euphorischen Ruf vorausgegangener Landsleute gefolgt. Froh, dass sie nicht nach Übersee hatten auswandern müssen wie die anderen Brüder. Sie waren nach Rom gereist mit der Bereitschaft, für ein besseres Leben auch ganz unten anzufangen, und mit dem unerschütterlichen Willen, es zu etwas zu bringen. Zehn Jahre später hatte das Geschäft im Erdgeschoss des Neubaus ihm und seinem Bruder gehört: Bar e liquoreria, forno e drogheria – Bar, Bäckerei und Gemischtwarenladen.
Später war die Zweigstelle in der Via Macchiavelli dazugekommen. Eisern hatte er weiter gespart, um auch die Wohnung im ersten Stock zu erwerben und sich dann in der Heimat eine Braut zu holen. Inzwischen war Edgardo mit Rosa, seiner Frau, und den Kindern ins Puschlav zurückgekehrt, und Clemente und Tiziano, die Söhne seiner Schwester Ludovica, waren ins Geschäft eingestiegen. Seit seiner Ankunft in der pulsierenden Stadt waren dreiunddreissig Jahre vergangen. Anna hatte ihm neun Kinder geboren, zwei waren viel zu früh gestorben, was ihn sehr bekümmert hatte. Romeo hatte es knapp geschafft. Die anderen waren gesund und munter. Die Kinderschar war, auch wenn sie zuweilen Nerven kostete, sein Ein und Alles. Gleich würden sich die marmocchi – die Kleinen – schreiend auf ihn stürzen, und Giacomo, Pietro und Folco würden darum ringen, seine ganze Aufmerksamkeit zu bekommen.
Cristoforo gab sich einen Ruck, als ob er seine Müdigkeit abstreifen wollte, strich über seinen Schnurrbart und trat ein, durch die mittlere Wohnungstür in die Küche. – Und alles blieb still. Ach ja, ein mattes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Wie hatte er es vergessen können! Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. Die Kinder waren noch mit Nazzarena in Gavignano bei deren Familie. Würde er sie wiedersehen? Sein Magen krampfte sich zusammen.
VI
Gavignano war ein Kaff. Alma hasste den Ort. Diese Handvoll dicht aneinander, in die Höhe gebauter steinerner Häuser auf dem steil abfallenden felsigen Hügel. Zuoberst stand der stolze Turm des Baronspalastes, der alles überragte, weiter unten der weissgetünchte Turm der Pfarrkirche, noch weiter unten eine weitere Kirche am Fuss einer langen, steilen Freitreppe. Brunnen gab es keine, fliessendes Wasser schon gar nicht, nur sogenannte pozzi – Tonnen aus Blech oder Holz zum Auffangen des Regenwassers. Das Trinkwasser musste unten in der Ebene geholt werden. Die kräftigsten Frauen des Dorfes trugen es in verzinnten Kupferkrügen, die sie auf dem Kopf balancierten, den weiten Weg ins Dorf hinauf. Almas Geschwistern gefiel es in der Ciociaria, diesem ärmlichsten Provinznest südlich von Rom, in das die Eltern sie zur Hochsommerzeit mit Nazzarena, der Gouvernante, schickten. Dann, wenn in der Stadt die canicola – die Hundstage – herrschten, und man sich nur morgens und abends aus den tagsüber abgedunkelten Wohnungen hinauswagte.
Alma hingegen sehnte vom ersten Tag an den letzten herbei. Da halfen auch die Bücher, die sie hatte mitnehmen dürfen, und die Comics der Kleinen, die sie aus lauter Langeweile bereits mehrmals gelesen hatte, wenig.
Wenn zumindest sie nicht mehr hätte hierherreisen müssen! Doch mit Vater war nicht zu reden gewesen. Heftig rückte Alma den Stuhl vom Esstisch weg. Sie war aufgeregt, wenn sie daran dachte, dass sie in wenigen Tagen endlich nach Hause fahren würden. Die verstörende Beklemmung der letzten Wochen wich einer leisen Zuversicht, ja beinahe Heiterkeit. Sie wischte die Brotkrümel von ihrer weissen Bluse und dem knöchellangen braunen Arbeitsrock und zwang eine Strähne ihrer dunkelbraunen Haare, die sie zu einem Knoten zusammengebunden trug, in eine Haarspange. Dann packte sie den Stapel leergegessener Teller und stürzte damit aus dem Wohnzimmer in den Flur, als könnte sie, wenn sie sich nur genügend schnell bewegte, die Zeitspanne bis zur Rückfahrt verringern, und prallte unversehens mit Romeo zusammen, der mit der Früchteschale in den Händen aus der Küche kam. Ein schriller Schrei entfuhr ihr. Sie sah den Schreck in Romeos schräg stehenden, dunkelbraunen Augen. Dann klirrte und klapperte es. Teller zerbrachen auf den Steinplatten, Besteck tanzte über Scherben und Boden. Hunde bellten, Stimmen schwollen an im Wohnzimmer.
«Mannaggia, was ist los?», hörte sie Nazzarenas alten Vater poltern. «Bringt das sofort in Ordnung!»
Alma sah Irenes dunkelblonden Schopf im Türrahmen, ihr unterdrücktes Grinsen.
«Holt den Besen!» Nazzarenas Mutter, eine kleine, verbrauchte Frau, stieg unverzagt über die Scherben hinweg. «Raus mit euch, bringt ja nicht eure Flöhe in unser Haus!», verscheuchte sie die neugierigen Nachbarskinder, die von der engen, steilen Gasse her zur offenen Eingangstür hereinguckten.
Nazzarena eilte mit dem Besen herbei, ihre jüngere Schwester schickte die Kleinen energisch zurück an den Tisch.
«Ihr seid ja unruhig heute!», schimpfte Nazzarena und schaute Alma vorwurfsvoll an. Diese stand bestürzt da und hielt unbeholfen die wenigen verbliebenen Teller vor sich hin.
«Geh, Romeo!» Nazzarena schubste den Jungen vorwärts.
Alma beobachtete, wie Romeo einen Fuss nach dem anderen über die hölzerne Türschwelle hob, die Früchteschale umklammerte, vorsichtig darauf bedacht, nicht zu stolpern. Dieser krumme Körper. Sie waren im selben Jahr auf die Welt gekommen. 1894. Sie im Januar, er im Dezember.
«Hast du gehört, was ich gesagt habe?» Nazzarenas Stimme schwankte zwischen Ärger und Mitleid.
Alma löste sich aus ihrer Starre und schüttelte den Kopf.
«Trag die Teller in die Küche und bring mir den Putzlappen!»
Alma stotterte leise eine Entschuldigung und verschwand in die Küche. Nazzarenas Schwester klaubte Tellerstück um Tellerstück und Gabeln und Messer vom Boden auf, Nazzarena wischte den Rest zusammen.
Alma stellte die Teller ab. Sie musste sich setzen. Ihre Beine zitterten. Sie sah sich und Romeo, als sie noch klein waren, wie sie beide, ein Herz und eine Seele, mit ihren Stoffpuppen spielten, auf dem hölzernen Schaukelpferd wild hin- und herwippten oder mit einem Tuch um die Schultern als Verkleidung durch die Wohnung rannten, über die Treppe hinunter in den forno, durch die Bar und den Innenhof. Jemand hatte immer mitgespielt. Der Buchhalter, einer der Bäcker oder der Kellner hatte den Unbeholfenen gemimt und war ihnen hinterhergetapst. Und sie, aufgeregt kichernd, hatten sich auf und davon gemacht. Alma lächelte unwillkürlich.
Auch auf die Dachterrasse ihres Wohnblocks hatten sie sich geschlichen, in den sechsten Stock hinauf, obwohl es ihnen strengstens verboten war. Und immer noch haute Romeo gern ab. Meistens besuchte er den Pferdefuhrhalter an der Porta San Giovanni, jenseits der Aurelianischen Mauern. Wie strahlte er dann vor Stolz, wenn man ihn mit der Kutsche nach Hause zurückfuhr!
Nur vage konnte sich Alma an den Tag erinnern, als man Romeo notfallmässig ins Spital gebracht hatte. Mutter, die sonst nicht aus der Ruhe zu bringen war, hatte wie eine Furie reagiert und niemanden ins Zimmer gelassen. Der Bruder hatte mit hohem Fieber im Bett gelegen, unter Halluzinationen und Krämpfen gelitten, geweint und geweint und bei jeder Berührung aufgeschrien. Bis man ihn geholt hatte. Und dann, aus dem Spital, hatten sie die Diagnose bekommen: Meningitis. Alma hatte sich darunter nichts vorstellen können. Aber Romeo war von da an nicht mehr derselbe gewesen. Er war kaum mehr gewachsen und hatte sich nur noch langsam entwickelt. Obwohl beinahe siebzehn Jahre alt, hatte er den Körper eines Kindes und war nicht grösser als der elfjährige Attilio. In der Sonderschule an der Piazza Pepe hatte er ein bisschen Lesen und Schreiben gelernt.
Wieder Nazzarenas Stimme. Alma tat einen tiefen Seufzer, stand auf, nahm den Putzlappen und brachte ihn Nazzarena. Dann machte sie sich ans Abwaschen. Sie goss das verbliebene Wasser, das im Kessel auf dem Holzherd dampfte, in das Waschbecken. Irene, Nazzarena und ihre Schwester halfen mit, die Küche aufzuräumen. Folco fütterte die Katzen. Später schaute Alma zu, wie die Buben und Nazzarenas Brüder die störrischen Ziegen, die sie vom Feld ins Dorf geholt hatten, die enge, steil abfallende Gasse zwischen ihrem und dem Nachbarshaus hinuntertrieben. Zusammen mit den beiden Eseln wurden sie in den Stall gebracht, der sich ein Stockwerk unter dem Wohnzimmer befand. Nazzarenas Familie lebte kärglich von den Tieren, etwas Getreide- und Gemüseanbau und dem Lohn ihrer Brüder, die in Weinbergen und Olivenhainen arbeiteten. Die Schwestern, die nicht in die Stadt gezogen waren, verrichteten Ammendienste, solange sie konnten, und verarbeiteten, Abend für Abend, Stroh, Seide und Wolle. Nazzarenas Mutter schloss die Gehege der Hühner und Gänse. Darüber breiteten sich die Äste des Wacholderstrauchs aus, der sich gegen den dunkelblau leuchtenden Himmel abhob wie ein klappriges, dorniges Gerippe.
Auf den umliegenden Hügeln hockten wie Kappen andere kleine Dörfer. Der Klang der Kirchenglocken breitete sich über die Campagna aus. Der Ruf zum Angelus Domini.
Bevor sie ins Bett geschickt wurden, durften die Kinder im Wohnzimmer noch etwas spielen. Alma und Romeo sassen am Tisch und setzten das abgewetzte Puzzle mit den Pferden zusammen. Am Hauseingang waren die Silhouetten von Nazzarenas Vater und Brüder erkennbar. Sie rauchten Pfeife, ihre Hände waren wie Pranken.
Alma sehnte sich nach Rom. Sie vermisste ihre Freundinnen und war froh, dass der September angebrochen war. Es war höchste Zeit zurückzukehren.
Romeo suchte eifrig nach Puzzleteilen. Alma spürte, dass er glücklich war. Hier in Gavignano tollte er stundenlang mit dem Hund von Nazzarenas Vater herum. Mit den anderen Kindern zog er umher, besuchte die Esel oder Ziegen auf den Weiden, rannte fasziniert den Hühnern und Schmetterlingen nach. Hier passierte es nie, dass er ganz still wurde und in sich versank wie zu Hause, wenn seine Brüder von ihren Erlebnissen in der Schule erzählten und jeder versuchte, lauter und origineller zu sein als der andere. Wenn Traurigkeit in seinen Augen aufflackerte und Alma seinen Schmerz darüber erahnte, dass er anders war, dass für ihn vieles nicht möglich war. Das waren die Momente, in denen sie wusste: Jetzt brauchte er ein Zeichen, dass er dazugehörte, die Gewissheit, dass sie da war. Nur für ihn.
VII
Alma und ihre Geschwister schliefen in einer der beiden Dachkammern. Diese waren über eine schiefe Steintreppe an der Aussenmauer des Hauses erreichbar, genauso wie das Klohäuschen am Ende des Holzstegs über dem Miststock. Alma erwachte viel zu früh, noch vor dem Ave Maria. Sie hörte die Esel schreien. Vogelgezwitscher. Dann Ruhe. Diese lähmende Stille. Erst das Meckern der Ziegen und das Schreien der Ziegenhirten beruhigten sie.
Es war Sonntag, und Alma, Irene und ihre Brüder waren mit Nazzarena, deren Eltern und Geschwistern und deren Familien auf dem Weg zum Gottesdienst. Alle drehten die Köpfe nach ihnen. Auch das konnte Alma nicht ausstehen. Dieses schreckliche Schaulaufen!
Frauen und Männer in ärmlicher Sonntagskleidung strömten zur Kirche. Die älteren Frauen in Schwarz mit Kopftuch, die jüngeren in langen Röcken und mit selbstgestrickten Umhängen über den Schultern. Die Männer in Gilet, Krawatte und Zylinder. Die wenigsten trugen die in der Stadt in Mode gekommene Melone.
Alma hatte ihr neues Kleid an. Es war aus weichem Baumwollstoff mit rot-schwarzem Karomuster und Bordüren aus schwarzem Samt. Mutter hatte es beim Schneider bestellt, weil sie, die älteste, hochgeschossen in den letzten Jahren, nichts Anständiges mehr anzuziehen gehabt hatte. In Rom gefiel sie sich darin, hier aber war ihr, als fiele sie aus dem Rahmen, was ihr gar nicht behagte. Alma schaute weder nach rechts noch nach links, als sie die Kirche betraten, sondern starr auf den Boden. Sie schloss dicht zu Nazzarena auf, hielt Rücken und Schultern gerade, so wie sie es von den Nonnen gelernt hatte, und kniff die Lippen zusammen. Nur nicht die Zähne zeigen, die hervorstehenden. Die neugierigen Blicke der jungen ciociari waren ihr unangenehm, und sie wagte erst wieder aufzuschauen, als sie sich in eine Kirchenbank gesetzt hatten. Ihr war heiss trotz der Kühle im Kircheninneren. Verunsichert wandte sie sich zu Pietro, der neben ihr sass, und nestelte an seinem Hemdkragen herum. Der Bruder wehrte sich sofort heftig.
Endlich! Die Kirchenorgel mit dem Eröffnungsstück. Don Innocenzo und die Messdiener erschienen, das Schwatzen verstummte und die Blicke der Gläubigen richteten sich nach vorn. Weihrauch strömte vom Altarraum in den bis auf den letzten Platz besetzten Kirchenraum.
Die Messe begann, und Alma versank in Gedanken. Sie malte sich die Rückkehr nach Rom aus. Am nächsten Tag würde das ganze Haus sauber gemacht, Vorräte würden bereitgestellt, die Sachen gepackt. Der blecherne Bottich, der neben dem Miststock stand und Regenwasser auffing, auf dessen Rand die Vögel frühmorgens fröhlich zwitschernd hin- und herhüpften, würde in die Küche gebracht. Mit warmem Seifenwasser würden sie den ganzen Staub und Dreck des Sommers abschrubben, bis ihre Haut rosig glänzte. Zuerst die Buben, dann sie und ihre Schwester.
Dann all die Leute, die kommen würden. Die ganze Verwandtschaft von Nazzarena, ihre Freundinnen, die Nachbarn und viele Bekannte. Das halbe Dorf. Die älteren Frauen würden die widerstrebenden Kleinen an die üppige Brust drücken, alle würden ihnen eine gute Heimreise wünschen und hoffen, dass sie das nächste Jahr wieder kommen würden.
Nur das nicht! Nächstes Jahr würde sie sich entschlossener dagegen wehren, aufs Land abgeschoben zu werden, schwor sich Alma. Am Tag darauf, morgens in aller Frühe, würden sie mit der klapprigen Kutsche ins Tal hinunterrattern, den Omnibus besteigen und später mit dem Zug in die Stadt zurückfahren. Sie freute sich auf den Moment, wenn sie in die Stazione Termini einfahren, mit der Kutsche die Piazza Santa Maria Maggiore überqueren und dann endlich in die Via Merulana einbiegen würden. Bei dieser Vorstellung kräuselten sich Almas Nackenhaare, und ein Strahlen huschte über ihr Gesicht.
Nach der Messe verliessen die Frauen die Pfarrkirche und eilten nach Hause an den Herd. Die Männer suchten die nächste Bar auf, bestellten Kaffee und Wein und begannen zu debattieren.
VIII
Unkundig und uferlos beginne ich mit den Recherchen. Beharrlich lese ich mich durch historische Sachbücher und Reiseberichte, Stadtführer und Enzyklopädien. Im Antiquariat finde ich ein rotes Büchlein, das zu meiner Rom-Bibel wird: «Baedekers Handbuch für Reisende, Mittelitalien und Rom, Jahrgang 1908, mit Stadtplan und Strassenbahnplan.» Fasziniert lerne ich die Stadt kennen, in- und auswendig. Ich lebe in ihr! Zumindest auf dem Papier und so weit, als sie noch nicht über den Ring der Aurelianischen Stadtmauern hinausgewachsen ist. Ich lese Werke von Schriftstellerinnen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und versuche, dem Denken, den gesellschaftlichen Normen und dem Lebensgefühl jener Zeit auf die Spur zu kommen. Neugierig sammle ich Familienfotos und nehme sie unter die Lupe. Ich entdecke die Gedichtbände von Pietro und Attilio und erfahre, dass Pietro, der Zurückgekehrte, zeitlebens die Berge besang, und Attilio, der Zurückgebliebene, sich stets nach der Familie als Hort der Wärme und Geborgenheit sehnte.
Trotz meiner akribischen Suche bleiben viele Fragen offen, und oft wünsche ich mir, ich könnte mich in jene Zeit hineinversetzen, ein Zeitfenster aufstossen und einen Blick erhaschen vom damaligen Leben in der Via Merulana.
IX
Alma lag im Bett und konnte nicht einschlafen. Sie betrachtete die Muster, die das Licht der Strassenlampe durch die Ritzen der Fensterläden an die Blümchentapete zeichnete. Sie hörte den Lärm der Bar durch das geöffnete Fenster und den leichten Atem ihrer Schwester von der anderen Seite des Zimmers her. Die Ankunft in Rom hatte sie sich anders vorgestellt. Den Vater nach einem Monat wiederzusehen, war ein Schock gewesen. Er war dünn geworden, und sein Gesicht war eingefallen. Zwar hatte auch er sich gefreut über das Wiedersehen und hatte die Kleinen in die Arme geschlossen. Doch nur kurz, dann hatte er sie alle ganz nervös aus dem forno und in die Wohnung hinaufgeschickt. Mutter war ihnen entgegengekommen. Sie hatte wenig gesagt und Tränen in den Augen gehabt. Irgendetwas war nicht in Ordnung.
Als Mammà sie an den Tisch gerufen hatte und die Kleinen mit lautem Gelächter aus dem Bubenzimmer gerannt waren, dann aber in die andere Richtung, in den hinteren Trakt der Wohnung, war Vater aus dem Badezimmer gestürzt und hatte zu schimpfen begonnen.
Noch nie war Alma seine Stimme so schrill vorgekommen. Er hatte die Kleinen, einen nach dem anderen, an den Ohren gezogen und sie dann am Angestelltenzimmer und an der engen wohnungsinternen Treppe, die direkt zur Backstube hinunterführte, vorbei durch die eine Wohnungstür ins Treppenhaus und von da durch die gegenüberliegende Wohnungstür wieder in den Flur in Richtung Esszimmer dirigiert.
Wimmernd hatten Pietro und Folco mit der Hand an ihr Ohr gefasst, Giacomo war weinend zur Mutter geflohen. Wieso Vater auch noch mit dem Stock gedroht hatte, konnte Alma nicht begreifen. Doch alle hatten sich sofort mucksmäuschenstill an den Tisch gesetzt, hatten das Tischgebet nachgemurmelt, das der Vater mit kurzatmiger Stimme vorgesprochen hatte, und hatten schweigend gegessen. Alma hätte beinahe gelacht, aber die Lage schien todernst.
«Ist schon gut», hatte er gebrummt, als er die erschrockenen Mienen bemerkt hatte, als hätte es ihm leid getan.
Das war nicht ihr Vater. Er war immer streng gewesen, aber nie jähzornig. Er konnte nachsichtig sein und auch lustig. Nun hatte er die Nerven verloren wegen nichts!
Finster hatte er da gesessen und einige maccheroni und etwas Gemüse hinuntergewürgt. Immer wieder hatte er unruhig hin- und hergeblickt, mit Augen, die tief in den Augenhöhlen lagen. Hastig hatte er sein Weinglas geleert und die Früchte stehen gelassen, was er sonst nie tat, und war aufgestanden. «Ich muss den Hefeteig vorbereiten.»
«Bleib nicht zu lange», hatte ihm Anna hinterhergerufen, vorwurfsvoll, weil alle noch am Essen waren, und gleichzeitig beunruhigt. Die Kinder hatten aufgeatmet und sich verstohlen angeschaut. Kaum war Vater weg gewesen, hatten sie zu erzählen begonnen.
Alma seufzte, drehte sich zur Wand und versuchte, zu schlafen. Ihr war heiss und die Sorge um den Vater schnürte ihr die Kehle zu. Vater sei sehr krank, hatte Mutter ihr beim Aufräumen in der Küche gesagt. Und auf ihre Frage, was denn los sei, hatte sie erwähnt, dass der Arzt von drei Monaten gesprochen habe.
Drei Monate wofür?
Drei Monate zu leben!
September, Oktober, November. Und dann? Dann sollte er nicht mehr da sein? Die Familie allein, ohne ihn? Das konnte sie sich nicht vorstellen. Und was würde aus dem Geschäft?
Sie würden zurückkehren in die Heimat, hatte Vater ihnen erklärt, als er von der Backstube zurück im salottino, dem Eckzimmer im vorderen Bereich der Wohnung, vorbeigeschaut hatte, um ihnen eine gute Nacht zu wünschen. Er müsse! Das sage der Arzt.
Vielleicht will er auch, ging es Alma durch den Kopf.
Nur vorübergehend, hatte er beschwichtigt, als sie ihn entsetzt angeschaut hatte. Der rigorose Ton in seiner Stimme hatte weitere Fragen vom Tisch gewischt. Einige Monate in den Bergen würden ihm gut tun, hatte er beigefügt, als er hinausging.
Ob er damit sich selbst hatte Mut machen wollen? Zuversicht hätte anders getönt, fand Alma besorgt.
Wie gelähmt hatte sie dagesessen, während Attilio mit Begeisterung reagiert und die Kleinen damit angesteckt hatte. Er hatte einmal ein ganzes Schuljahr im Puschlav verbracht und schwärmte noch immer von jener Zeit voller Abenteuer, in der er viele neue Freunde gewonnen hatte.
Sie würde lieber bleiben, hatte Mutter zu Alma bemerkt, als die Kleinen im Bett waren. Sie hatte vage von einer Wohnung in San Saba gesprochen, auf dem Aventin.
Alma wollte auf jeden Fall bleiben. Die Wochen in Gavignano reichten ihr. Allein den Gedanken, die Stadt und mit ihr auch ihre Freundinnen zu verlassen und künftig in einem Bergdorf zu leben, fand sie unerträglich. Das konnte nicht sein! Doch je mehr sie versuchte, ihn zu verscheuchen, desto bedrängender wurde er. Sie betete darum, dass Vater so bald wie möglich gesund würde und dass alles nur ein böser Traum sei. Sie nahm sich vor, noch gehorsamer und fleissiger zu sein. Auf jeden Fall musste sie Rachele sehen und ihr alles erzählen.
Ein frischer Luftzug strich vom Fenster her über Alma hinweg. Schemenhaft sah sie die Umrisse des Waschkrugs auf der Kommode am Ende des Bettes. Sie schloss die Augen und fiel in einen unruhigen Schlaf.