Kitabı oku: «Das Tao der Gefühle», sayfa 4

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Kapitel 2
Vergebung als Verleugnung

Die Gewohnheit, nicht hinzuschauen und über das Leben zu lügen, hat sich wie eine Klette an die amerikanische Seele gehängt.

— Robert Bly

Man kann es sich zu eigen machen, aus Selbstschutz nicht nachzudenken, nicht wahrzunehmen und nicht zu überlegen, was die eigenen Vorstellungen und Gefühle bzgl. des Lebens sind, um die schmerzhaften Seiten zu vermeiden.

— Elvin Semrad

Viele unter uns werden genötigt, eine verfrühte und leere Form der Vergebung zu wählen, wenn sie Schuldgefühle hervorrufende Äußerungen hören wie: »Wann hörst du endlich auf, wegen deiner Kindheit zu weinen?« »Meinst du nicht, es ist Zeit, deine Eltern aus der Verantwortung zu entlassen?« »Warum lässt du die Vergangenheit nicht Vergangenheit sein und lebst einfach weiter?« »Weißt du, was dein Problem ist? Du bist einfach nicht sehr versöhnlich.«

Es ist oft schwer, solch schädlichen Provokationen zu widerstehen. Das Konzept der Vergebung wird häufig als ein wunderbares Werkzeug der Genesung hingestellt und als Allheilmittel für all unsere Probleme, insbesondere wenn es um Liebe und Intimität geht. Wenn wir uns nur entscheiden könnten zu vergeben, dann wären wir vom Schmerz der Einsamkeit und Trennung befreit.

Überlebende sind besonders anfällig für diesen schädlichen Rat, wenn sie zum ersten Mal ihre gesunde Wut über die Vergangenheit zu spüren beginnen. Anstatt ihre Wut als Bestätigung dafür zu erleben, wie schlecht ihre Eltern für sie gesorgt haben, umgehen sie oft ihre Genesung, indem sie ihre Gefühle gnadenlos gegen sich selbst wenden:

Was stimmt nicht mit mir? Warum kann ich nicht verzeihen? Wenn mit mir alles in Ordnung wäre, hätte ich meinen Eltern schon längst vergeben. Ich bin wirklich ein schlechter Mensch. Kein Wunder, dass mich niemand liebt! Kein Wunder, dass mein Leben solch ein Chaos ist. Ich habe beschlossen zu vergeben. Ich glaube, ich verzeihe. Ich habe vor, mich für Vergebung zu entscheiden … aber ich fühle mich immer noch einsam! Ich schätze, ich mache nie etwas richtig. Ich kann nicht einmal verzeihen!

Wenn wir uns für Vergebung entscheiden, indem wir unseren Ärger über die elterlichen Ungerechtigkeiten runterschlucken, gleiten wir in den psychischen Nebel der Verleugnung. Verleugnung ist ein weit gefasster Begriff, der von »Genesungstherapeuten« verwendet wird, um die verschiedenen Abwehrmechanismen zu beschreiben, die wir benutzen, um uns im Hinblick auf unsere andauernde und unwiderlegbare Verletzlichkeit zu betäuben.

(Ich benutze den Begriff Verleugnung hier etwas anders als in der Drogen- und Alkohol-Rehabilitation-Szene. Dort bezeichnet Verleugnung oft einen beschämenden, tadelnswerten bewussten Prozess, den Drogenabhängige benutzen, um die eklatant zerstörerischen Auswirkungen ihrer Sucht zu ignorieren.)

Verleugnung ist ein psychischer Überlebensmechanismus, der unbewusst und automatisch bei kontinuierlich misshandelten und vernachlässigten Kindern auftritt. Kinder müssen mindestens einen Elternteil idealisieren, um ihre Lebensfreude zu bewahren. Verleugnung erlaubt es ihnen, die Illusion aufrechtzuerhalten, geliebt zu werden, egal wie unwahr das ist. Dieses Bedürfnis ist so groß, dass sie automatisch jede Art von elterlicher Missachtung, Ungerechtigkeit und Feindseligkeit aus ihrem Bewusstsein verbannen – besonders bei dem idealisierten Elternteil.

Verleugnung schützt misshandelte Kinder vor der überwältigenden, unverdaulichen Realität, dass ihre Eltern nicht ihre Verbündeten sind. Aus diesem Grund stellt der Trauerexperte Stephen Levine folgende Frage:

Wie oft ging es uns wie dem geschlagenen Kind auf der Titelseite der Los Angeles Times, das sanft von der mitfühlenden Oberschwester aus dem Zimmer getragen wird, seine Arme ausstreckt und »Mama, Mama« nach der Frau ruft, die zwischen den Polizisten auf der anderen Seite des Raumes in Gewahrsam ist, weil sie das Fleisch des Kindes verbrannt und seine Knochen gebrochen hat?

Viele von uns haben sich darauf verlassen, durch Verleugnung ihre geistige Gesundheit und manchmal auch ihr Leben in der Kindheit zu retten. Wir waren zu zerbrechlich und abhängig, um den überwältigenden Schmerz und die Enttäuschung zu zuzulassen, die wir durch unsere Eltern erlebten. Bei vielen von uns gab es täglich grobe Ungerechtigkeiten, fortlaufend, endlos und ohne Aussicht, dass sie hinterfragt oder aufhören würden. Ohne absehbare Erleichterung und ohne jemanden, an den wir uns um Schutz wenden konnten, hatten wir keine andere Wahl, als gefühllos zu werden.

Verleugnung ist für einige Kinder wirklich eine Frage von Leben und Tod. Diejenigen, die sich nicht betäuben und ihre Wahrnehmung der andauernden elterlichen Bösartigkeit nicht ignorieren können, sind anfällig für psychische Erkrankungen, frühen Drogenmissbrauch und Selbstmord. Manche neigen zu tödlichen »Unfällen«, und manche entwickeln einen Todeswunsch, der ihre Fähigkeit, Krankheiten zu bekämpfen, zerstört. (Einige Kinder können natürlich aus anderen Gründen als einer dysfunktionalen Elternschaft tragisch sterben.)

Überlebende, die noch immer die Dysfunktionalität ihrer Familie verleugnen, sollten nicht beschuldigt oder beschämt werden. Die Scheuklappen der Verleugnung waren viele Jahre lang notwendig. Viele von uns haben sich an sie gewöhnt, und ich kenne zahlreiche Überlebende von brutalen Misshandlungen, die ehrlich glauben, dass ihre Eltern sich gut um sie gekümmert hätten. Wie viel schwerer ist es dann für diejenigen, die »nur« unter emotionaler Vernachlässigung gelitten haben, zu begreifen, welche massiven Entbehrungen sie erlitten haben!

Es ist oft noch schwieriger, Verleugnung aufzulösen, als sie zu erkennen. Wir zögern verständlicherweise, uns den hinter unserer Verleugnung verborgenen Schmerz anzuschauen, weil wir dafür gedemütigt wurden, wenn wir unseren Schmerz in der Kindheit gezeigt haben. Wie können wir glauben, dass wir unsere schmerzlichen Gefühle jetzt auf sichere Weise ausdrücken können, wenn wir überall um uns herum, im realen Leben und im Fernsehen, erleben, wie andere lächerlich gemacht werden, wenn sie Gefühle zeigen?

Allzu viele von uns sind durch Variationen der Drohung »Hör auf zu weinen oder du kriegst gleich was, worüber du wirklich weinen kannst« verletzt worden. Die Tatsache, dass viele von uns diese missbräuchliche Redeweise nachahmen, als wäre sie eine amüsante Floskel, unterstreicht unsere tiefgreifende Verleugnung.

Wenn wir die Verleugnung nicht infrage stellen, bleiben wir wie hypnotisiert in alten Schmerzen gefangen, blind und gleichgültig gegenüber den Wunden und Verlusten unserer Kindheit. Fasziniert von der überholten Illusion, dass wir eine glückliche Kindheit hatten, leben wir unser Leben halbherzig in einem emotional betäubten Zustand. So beschreibt es auch der angesehene Kinderpsychologe Bruno Bettelheim:

Viele Kindheitserfahrungen sind zwangsläufig während des Entwicklungsprozesses der erwachsenen Persönlichkeit tief im Unbewussten vergraben worden. Diese Trennung oder Distanzierung von der Kindheit ist nicht mehr notwendig, wenn sich die erwachsene Persönlichkeit vollständig und sicher gebildet hat, aber bis dahin ist die Distanzierung für die meisten Menschen ein Teil ihrer Persönlichkeit geworden. Die Trennung von der Kindheit ist vorübergehend notwendig, aber wenn sie dauerhaft aufrechterhalten wird, beraubt sie uns innerer Erfahrungen, die, wenn sie uns wiedergegeben werden, uns im Geist jung halten und auch eine größere Nähe zu unseren Kindern ermöglichen können.

Glücklicherweise benötigen wir den Dienst der Verleugnung nicht mehr. Wir sind nicht mehr von unseren Eltern abhängig. Sie können uns nicht dafür bestrafen, dass wir unsere schmerzlichen Gefühle in Bezug auf die Vergangenheit anerkennen und zum Ausdruck bringen.

Es ist an der Zeit, unsere Verleugnung infrage zu stellen. Es ist an der Zeit, die kognitive Zwangsjacke der falschen Vergebung zu entfernen, die unseren emotionalen Kreislauf einschränkt. Wir müssen trauern, um uns aus dem Gefühlssumpf von Angst und Depression zu befreien, der von unserem ungelösten, unbewussten Schmerz herrührt.

Die Freiheit, die Segel in den wunderbaren Ozean des unbelasteten Erwachsenseins zu setzen, gehört uns, wenn wir uns voll und ganz an das Leid erinnern, das unsere Eltern uns zugefügt haben, es betrauern und verarbeiten. Vielleicht können wir uns von der renommierten Psychoanalytikerin Alice Miller inspirieren lassen:

Es ist jedes Mal wie ein Wunder, wenn man erlebt, wie viel Individualität hinter einer solchen Verleugnung und Selbstentfremdung überlebt hat und wieder auftauchen kann, wenn die Arbeit der Trauer die Freiheit bringt …

Verleugnung verschleiert Selbstschädigung

Was immer dem bewussten Zugang verweigert wird, beeinflusst das Individuum ohnehin weiter – aber über unbewusste Prozesse.

— Carl Jung

Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass wir in unserem Kampf gegen psychische Erkrankungen nur eine einzige beständige Waffe haben: die emotionale Entdeckung und emotionale Akzeptanz der Wahrheit über die individuelle und einzigartige Geschichte unserer Kindheit.

— Alice Miller

Wenn wir nicht aus der Verleugnung erwachen, werden wir vielleicht nie erkennen, dass wir uns oft genauso hart behandeln, wie es unsere Eltern getan haben. Kinder lernen durch Nachahmung, und erwachsene Kinder aus dysfunktionalen Familien erfahren viel unnötiges Leid durch erlernte Selbstmisshandlung und Vernachlässigung.

Anfang dieses Monats habe ich mich zum x-ten Mal bei einer erlernten Selbstschädigung ertappt. Es war ein Samstagnachmittag, ich war sehr entspannt bei der Vorbereitung des Essens und hörte meine Lieblingsmusik. Ich genoss die Gerüche und Texturen der Gewürze und Kräuter, die ich gerade zerschnitten und gemahlen hatte, und begann damit, das Fett von einem kleinen Stück Steak abzuschneiden.

Plötzlich merkte ich, dass sich mein gemütliches Tempo stark beschleunigte. Entsetzt wurde mir bewusst, dass ich durch die Küche hetzte wie ein Koch, der vielleicht gefeuert würde, wenn er mit dem Abendessen des Chefs zu spät käme.

Zum Glück hatte ich durch meine Genesungsarbeit genug gelernt, um innezuhalten, mich innerlich zu konzentrieren und zu begreifen, was vor sich ging. Ich merkte sofort, dass ich mich sehr ängstlich, ungeduldig und gereizt fühlte und dass sich mein Magen zu einem riesigen Knoten zusammengezogen hatte. Die Musik war fast unhörbar in den Hintergrund getreten, mein Appetit war verschwunden und ich konnte es kaum erwarten, mein Essen fertig zu kochen. Auf einmal schien eine Liste unwichtiger Aufgaben wie ein »trotziges« Kleinkind nach meiner unmittelbaren Aufmerksamkeit zu schreien.

Als ich mich weiter auf mein inneres Erleben einließ, bemerkte ich, dass das Selbstgespräch in meinem Inneren entsetzlich feindselig war. Plötzlich dämmerte es mir, dass der Akt des Fettabschneidens bei mir einen emotionalen Flashback ausgelöst hatte (siehe Kapitel 4). Unter dem Einfluss dieses Flashbacks erlebte ich die furchtbare Angst, dass mein Vater am Tisch meinetwegen ausrasten würde.

Bei genauerer Betrachtung stellte ich fest, dass ich mich mit ihm zusammengetan hatte und in einem internen Sturm der Selbstbeschimpfung feststeckte. Ich schnauzte mich an, mit der ganzen Litanei an Kritikpunkten, mit der er mich bei fast jedem Familienessen attackiert hatte. Kaum wahrnehmbar, an der Schwelle des Bewusstseins, schreckte ich vor dem Echo einer Schmährede zurück, die ich so oft von ihm gehört hatte:

Was glaubst du, wer zum Teufel du bist, dass du so wählerisch sein kannst? Du wirst das Fett essen, sonst zwinge ich dich dazu, es zu essen. Du musst immer eine Extrawurst haben. Warum kannst du nicht wie alle anderen sein? Wenn du nicht aufhörst, mit dem Fleisch herumzuspielen, schlage ich dich windelweich.

Schlimmer noch als diese Wiederholung seiner schikanierenden Rede waren die schreckliche Angst und Besorgnis, die durch diese Worte wieder ausgelöst wurden. Innerhalb von Sekunden brachte mich die harmlose Verletzung einer ungerechtfertigten Regel aus der Kindheit – die seit über dreißig Jahren keine Anwendung gefunden hatte – dazu, es mir nicht mehr gut gehen zu lassen, sondern mich so sehr zu hassen, dass ich nicht schnell genug von mir wegkommen konnte.

Glücklicherweise konnte ich diesen Prozess aufgrund der Genesungsarbeit, die ich zu diesem Thema geleistet hatte, hinterfragen (siehe Kapitel 7). Ich kehrte den Prozess um, indem ich wütend auf die lächerliche Regel meines Vaters bezüglich Fleischfett verzichtete und stattdessen zu einem bestätigenden, positiven Selbstgespräch überging. Als meine Wut diese erlernte Selbstschädigung zum Stillstand gebracht hatte, spürte ich eine große Welle der Trauer über die unzähligen Male, die ich mir selbst wehgetan hatte, indem ich seine auswendig gelernten Verurteilungen nachplapperte.

Wie viele Tausend Male zuvor war ich unbewusst in den »Selbstzerstörungsmodus« abgerutscht. Wie oft war meine entspannte Freude an einer Aufgabe sofort dadurch unterbrochen worden, dass ich das Urteil meiner Eltern wiederholte, es nicht richtig gemacht zu haben? Wie oft hatte ich mich nicht getraut, etwas auszuprobieren, weil ich ihre widerhallenden Sticheleien zuließ, dass ich »zu nichts gut sei«?

Kein Wunder, dass ich früher so sehr unter Leistungsangst litt. Kein Wunder, dass ich nie einen Moment der Ruhe finden konnte. Ich wurde ständig von den mentalen und emotionalen Schmerzen dieser unaufhörlichen Selbstmisshandlung verfolgt. Meine einfachsten Gedanken und Handlungen waren ständig dieser grausamen, harten Missbilligung unterworfen. Die Verleugnung des missbräuchlichen Verhaltens meiner Eltern machte mich blind dafür, dass ihre Kritik in mir ein Eigenleben entwickelt hatte. Das Leugnen machte mich machtlos, diese schädliche Indoktrination gegen mich selbst zurückzuweisen.

Ich bin unsagbar dankbar, dass die Arbeit an meiner Verleugnung mich in die Lage versetzt hat, diese Dynamik zu verstehen. Wie wohltuend erleichtert war ich, dass ich diesem unwillkommenen Eindringen der Vergangenheit abschwören, mich von der damit einhergehenden Angst durch Trauern lösen und mich wieder entspannt an die Fertigstellung meiner Mahlzeit machen konnte. Hätte ich nicht gewusst, wie ich mit dieser üblen Einmischung aus der Vergangenheit umgehen sollte, hätte ich wahrscheinlich ängstlich mein Essen runtergeschlungen, um mich für den Rest des Tages in ablenkende Aktivitäten zu stürzen, wie ich es in der Vergangenheit so oft getan hatte.

Ich glaube, dass viele Überlebende durch diese Art emotionaler Flashbacks und die sie begleitenden schädigenden Selbstgespräche aus ihrem inneren Gleichgewicht gerissen werden. Wenn wir uns unserer Verleugnung stellen und die Einzelheiten unserer Einschüchterung und Kontrolle erkennen, können wir damit beginnen, die Angewohnheit zu überwinden, die Verachtung unserer Eltern nachzuahmen.

Vorschnelle Vergebung und Schuld

Vorschnelle Vergebung ist die Entscheidung, unseren Eltern zu vergeben, bevor wir das Ausmaß des Schadens, den sie uns zugefügt haben, gründlich erfasst haben. Diese Entscheidung bringt den Genesungsfortschritt meist zum Stillstand, da sie das Abrufen von Erinnerungen blockiert, die wir brauchen, um uns konkrete Ziele für unsere Genesung zu setzen. Vorschnelle Vergebung ist falsche Vergebung, weil sie nicht auf der Basis von Genesungsarbeit stattfindet, die erforderlich ist, damit Vergebung emotional echt ist.

Falsche Vergebung lässt uns in dem Glauben, dass unser schlechtes Selbstbild und unser gehemmter Selbstausdruck eher angeborene Charakterfehler als Produkte schlechter Erziehung sind. Sie zwingt uns dazu, den Schmerz dieser Zustände zu verharmlosen und ständig in ungelöster Kindheitskrise und schlechtem Selbstwertgefühl zu verharren.

Vorschnelle Vergebung ist häufig eine reflexartige Reaktion auf die intensiven Vorwürfe, die hochkommen, wenn wir unsere Verleugnung der Vergangenheit zum ersten Mal infrage stellen. Den meisten von uns wurde eingeimpft, dass nur in übler Weise undankbare Kinder die Erziehungsleistung ihrer Eltern infrage stellen.

Viele Überlebende aus dysfunktionalen jüdischen und christlichen Familien wurden ebenfalls in der Weise indoktriniert, dass das Klagen über die eigenen Eltern eine Sünde sei – ein Verstoß gegen das »heilige« vierte Gebot: »Ehre deinen Vater und deine Mutter.« Die Nonnen haben mir immer wieder gesagt, dass es in der Hölle einen besonderen Platz für diejenigen gibt, die »schlechte« Gedanken oder Gefühle für ihre Eltern haben.

Viele erwachsene Kinder fühlen sich sehr unbehaglich, wenn sie das erste Mal die nicht-idealisierte Wahrheit über ihre Eltern aussprechen. Die bloße Schlussfolgerung, dass unsere Eltern uns gegenüber ihre Pflicht vernachlässigt haben, kann uns das Gefühl geben, dass wir kurz davor stehen, vom »Zorn Gottes« vernichtet zu werden.

Ich glaube, das vierte Gebot ist uns in einer sehr repressiven, dogmatischen Form überliefert worden. Es ist ein Zerrbild jüdisch-christlicher Sitten, wenn das Gebot, Vater und Mutter zu ehren, so häufig zu der unwidersprochenen Akzeptanz nicht tolerierbaren Verhaltens verzerrt wird. Es ist, als ob das Gebot eigentlich sagt: »Ehre deinen Vater und deine Mutter, egal wie sehr sie dich verletzen.«

Bei der Vorstellung, dass viele Überlebende aus blinder Treue zu diesem Gebot ihre Kinder der »Obhut« der noch immer misshandelnden Großeltern überlassen, zucke ich innerlich unweigerlich zusammen. Ich bin einer Reihe von Überlebenden begegnet, die durch ihre eigene Verleugnung so benommen sind, dass sie ihre Kinder mit demselben Elternteil allein lassen, der sie in der Kindheit misshandelt hat. Ich denke, das vierte Gebot sollte neu übersetzt werden als »Ehre deinen Vater und deine Mutter, wenn sie dich ehren«.

Vorschnelle Vergebung und der Verlust der fundamentalen Menschenrechte

Die Liebe ist in der Tat so widersprüchlich geworden, dass einige derer, die das Familienleben erforschen, zu dem Schluss gekommen sind, dass »Liebe« einfach die Art und Weise bezeichnet, wie mächtigere Familienmitglieder andere Mitglieder kontrollieren. Liebe, so Ronald Laing, ist oft ein Deckmantel für Gewalt.

— Rollo May, Love and Will

Vorschnelle Vergebung bringt das innere Kind zum Schweigen, so wie biologische Eltern das wirkliche Kind zum Schweigen bringen. Viele von uns verbieten ihrem inneren Kind und damit auch sich selbst weiterhin ihre grundlegendsten Rechte und Bedürfnisse. Wir beschämen und hassen unser inneres Kind regelmäßig, wenn es sich beschwert, fühlt, Empfindungen zeigt oder mehr als das Nötigste braucht. Vorschnelle Vergebung hält die anhaltende Retraumatisierung und das Gefühl der Verlassenheit unseres inneren Kindes aufrecht.

In der »Bill of Rights« werden in Bezug auf die Selbstentfaltung Rechte benannt (Anhang B), die Kindern üblicherweise verweigert werden und die ausschließlich den Eltern zustehen. Ein Großteil unserer Kindheitstraumata geschah, als wir für unsere instinktiven Versuche, diese Rechte auszuüben, bestraft wurden. Viele leiden immer noch unnötigerweise darunter, dass sie auf solche Grundrechte wie das Recht, Nein zu sagen, das Recht, mit Respekt behandelt zu werden, und das Recht auf eigene Gefühle, Meinungen und Vorlieben verzichten. Unsere Gesundheit und unser zukünftiges Gedeihen hängen davon ab, dass wir diese Rechte einfordern und ausüben.

Erwachsene Kinder können die »Bill of Rights« als Ziele und Leitlinien für ihre Genesungsbemühungen nutzen. Um dabei erfolgreich zu sein, müssen wir aufhören, die durch uns »verziehene« elterliche Kritik nachzuahmen, die unser gesundes Eigeninteresse drosselt, wann immer es aufkommt.

Sie könnten sich jetzt einen Moment Zeit nehmen, um zu überlegen, ob Sie sich immer noch mit der auswendig gelernten elterlichen Zensur in Schach halten. Haben Sie in letzter Zeit eines der folgenden Verbote in Ihrem Kopf widerhallen hören? »Wie kannst du es wagen, mir zu widersprechen?« »Sei nicht so egoistisch!« »Hör auf, dich selbst zu bemitleiden – du bist so emotional!« »Wen interessiert es, was du willst. Es gibt noch andere Leute außer dir, weißt du?« »Sei einfach mal froh für das, was du hast – denk zur Abwechslung mal an andere!« »Hör auf ständig zu plappern – warum glaubst du, dass es jemanden interessiert, was du zu sagen hast?«

Wenn Sie bei einem dieser Sätze zusammenzucken oder sich verkrampfen, könnten Sie sich als gesunde Reaktion darüber entrüsten, dass man auf diese Weise gegen Sie vorgegangen ist. Sie könnten die Energie Ihres gerechten Zornes nutzen, um Ihre Bemühungen um die grundlegenden Menschenrechte, die durch diese Aussagen auf unfaire Weise verletzt werden, zu stärken.

Vorschnelle Vergebung basiert nicht immer nur auf Verleugnung, Angst oder Schuldgefühlen. Diese falsche Form der Vergebung kann auch durch den normalen Wunsch motiviert sein, über die Verletzung hinwegzukommen und eine liebevolle Beziehung zur Familie zu haben. Auch als Erwachsene haben wir immer noch zum großen Teil das Bedürfnis des Kindes, geliebt zu sein. Die Entscheidung zur Vergebung kann daher dem Wunsch entspringen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, um sich bei den Eltern wohlfühlen zu können. Wir können uns nur allzu leicht auf eine falsche Vergebung berufen, weil die meisten von uns gut darin geübt sind, ihre nicht verheilten Wunden aus der Kindheit zu ignorieren, um die Illusion einer liebenden Familie aufrechtzuerhalten.

Leider führt uns die vorschnelle Vergebung zu einer Beziehung mit unseren Eltern, die kaum weniger echte Wärme und Intimität haben könnte. Solange wir nicht die ungelöste Angst und den Schmerz, den unsere Eltern uns zugefügt haben, verarbeitet haben, werden wir uns in ihrer Nähe immer unbehaglich fühlen und sie auf emotionaler Distanz halten. Das ist häufig der Fall, selbst wenn sie ihre missbräuchliche Art abgelegt haben.

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