Kitabı oku: «Europäisches Marktöffnungs- und Wettbewerbsrecht», sayfa 28
d. Fazit
361
Die Erörterung der für die Feststellung von Wettbewerbsbeschränkungen in Frage kommenden Maßstäbe zeigt, dass sie sich nicht auf einen einzigen Gesichtspunkt reduzieren lassen:[65] Wettbewerb besteht in einem Marktverhalten, das auf der wirtschaftlichen Handlungsautonomie der Marktteilnehmer beruht. Sie ist die Grundlage des dynamischen Rivalitätsprozesses, der den Wettbewerb ausmacht und der daher des Schutzes der Wettbewerbspolitik und des Wettbewerbsrechts gegen Beschränkungen durch die Marktteilnehmer bedarf. Das unternehmerische Wettbewerbsverhalten der Marktteilnehmer ist aber nicht unabhängig von der Marktstruktur. Je enger die Marktstruktur und je höher die Marktzutrittsschranken, desto geringer ist in der Regel die Intensität des Wettbewerbs im Sinne eines auf individueller Handlungsautonomie beruhenden Rivalitätsprozesses. In der Marktstruktur kommen die wettbewerblichen Handlungsspielräume der Marktteilnehmer (Anbieter und Nachfrager) insgesamt zum Ausdruck. Sie bildet gewissermaßen das wettbewerbliche Interaktionssystem ab, innerhalb dessen sich die Handlungsautonomie der Marktteilnehmer verwirklichen kann. Daher sind Beschränkungen des Wettbewerbs letztlich nicht ohne Rückgriff auf marktstrukturelle Gesichtspunkte feststellbar. Sie signalisieren die Drittwirkungen etwaiger Beschränkungen der Handlungsautonomie, die allein es rechtfertigen, dass sie aufgrund der staatlichen Wettbewerbspolitik unterbunden werden. Das gilt selbst für die Fälle sogenannter Kernbeschränkungen, deren Wettbewerbswidrigkeit nur deshalb keine konkrete Feststellung marktstruktureller Drittwirkungen erforderlich ist, weil sie erfahrungsgemäß mit der Beschränkung der Handlungsautonomie zwingend verbunden sind.
362
Dagegen eignet sich der Gesichtspunkt der gesamtwirtschaftlichen Effizienz, die das vom System des Wettbewerbs als solchen erwartete ökonomische Marktergebnis darstellt (sowohl im Sinne der allokativen Effizienz, dh der Präferenzgerechtigkeit der Produkte, als auch der produktiven Effizienz, dh der Kosteneffizienz der Produktionsverfahren, sowie der dynamischen Effizienz, dh der Entwicklung neuer Produkte und Produktionsverfahren) nicht zur Beurteilung der Wettbewerbswidrigkeit oder -konformität unternehmerischen Verhaltens im Einzelfall. Es ist davon auszugehen, dass angesichts der begrenzten direkten Messbarkeit und Prognostizierbarkeit der gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtseffekte eines bestimmten Marktverhaltens die Treffsicherheit der Entscheidungen von Kartellbehörden und -gerichten eher vermindert als verbessert würde. Vielmehr müssen Wettbewerbspolitik und Wettbewerbsrecht von der Prämisse ausgehen, dass die Effizienz des wettbewerblichen Rivalitätsprozesses insgesamt am besten gewährleistet wird, wenn die Funktionsfähigkeit eben dieses Prozesses geschützt wird. So hat selbst Posner als prominenter Repräsentant der „Chicago School of Antitrust“ konzediert, dass Effizienz zwar das Endziel des Wettbewerbsrechts sei, der Schutz des Wettbewerbs aber regelmäßig ein Zwischenziel darstelle, das dem Effizienzziel hinreichend nahe komme, um den Behörden und Gerichten zu erlauben, bei der Prüfung unternehmerischen Verhaltens nicht darüber hinaus zu gehen.[66] Dies deckt sich mit den Erkenntnissen der (neuen) Institutionenökonomik, die auf die Bedeutung von Transaktionskosten, unvollständiger Information und Erwartungsunsicherheit für das Marktverhalten von Unternehmen hingewiesen hat; und es trifft sich auch mit den neuesten Erkenntnissen der empirischen Verhaltensökonomik, die der Annahme widersprechen, dass die Wahlhandlungen von Marktteilnehmern (Konsumenten) stets deren wahre Präferenzen reflektieren. Die eingeschränkte Rationalität (bounded rationality) der Marktteilnehmer verhindert somit, dass sich die gesamtwirtschaftliche Effizienz eines bestimmten Marktverhaltens aus der einzelwirtschaftlichen Effizienz von Unternehmen oder aus dem Kaufverhalten von Konsumenten ableiten lässt.
363
Dies schließt nicht aus, dass der ökonomischen Wirkungsanalyse bei der wettbewerblichen Beurteilung unternehmerischen Verhaltens insoweit eine zentrale Bedeutung zukommt, als es darum geht, die ökonomische Rationalität einzuschätzen, die dem zu beurteilenden unternehmerischen Verhalten in seinem jeweiligen Kontext innewohnt, um daraus auf die mit diesem Verhalten verfolgten Zwecke und die sich daraus ergebenden Wirkungen für den Wettbewerb als Entdeckungsverfahren schließen zu können (Kontextanalyse). Es ist zu berücksichtigen, dass Unternehmen legitimerweise stets bemüht sind, Transaktionskosten zu minimieren sowie Informationsdefizite und Erwartungsunsicherheiten zu bewältigen. Wettbewerbswidrig werden solche Strategien aber dann, wenn sie systemwidrige marktstrukturelle Drittwirkungen haben. Bei der Beurteilung des Marktverhaltens von Unternehmen kann dessen Wettbewerbswidrigkeit bzw. -konformität im konkreten Fall daher nur aufgrund einer sorgfältigen Analyse der jeweiligen Entscheidungssituation festgestellt werden, in der sich das betreffende Unternehmen befindet und auf die es mit seinem Verhalten reagiert. Dafür ist in objektiver Hinsicht insbesondere die ökonomische Analyse der Anreizstrukturen, mit denen das betreffende Unternehmen konfrontiert ist, der verwendeten Methoden (insbesondere der Vertragsgestaltung) zur Minimierung von Transaktionskosten und zur Bewältigung von Risiken (insbesondere der Informationsunvollkommenheiten und Erwartungsunsicherheiten), der Strategien für die Vermeidung unerwünschter Externalitäten sowie der sonstigen Wirkungszusammenhänge erforderlich; in subjektiver Hinsicht geht es um die Klärung der unternehmerischen Absichten und Handlungsmotive. Dabei sind gewisse durch Erfahrung gestützte Wahrscheinlichkeitsurteile unvermeidlich. Entscheidend ist, dass die Schlussfolgerungen bezüglich bestimmter Wirkungszusammenhänge nicht den ökonomischen Erkenntnissen widersprechen. In diesem Sinne ist die ökonomische Analyse aber immer schon Bestandteil der wettbewerbspolitischen und wettbewerbsrechtlichen Praxis gewesen.[67] Es geht heute lediglich um ihre Fortentwicklung im Licht neuerer ökonomischer Erkenntnisse.
4. Normative Vorgaben
Literatur:
Hellwig Effizienz oder Wettbewerbsfreiheit? Zur normativen Grundlegung der Wettbewerbspolitik, in: Engel/Möschel (Hrsg.) Recht und spontane Ordnung, Festschrift für Mestmäcker (2006) 231; Ders. Wirtschaftspolitik als Rechtsanwendung: Zum Verhältnis von Jurisprudenz und Ökonomie in der Wettbewerbspolitik, Walter-Adolf-Jöhr-Vorlesung 2007 an der Universität St. Gallen, Reprints of the Max Planck Institute for Research on Collective Goods, Bonn 2007/19; Mestmäcker 50 Jahre GWB: Die Erfolgsgeschichte eines unvollkommenen Gesetzes, WuW 2008, 6; Fuchs Neue Entwicklungen beim Konzept der Wettbewerbsbeschränkung in Art. 81 Abs. 1 EG, ZWeR 2007, 369; Ders. Effizienzorientierung im Wettbewerbs- und Kartellrecht? in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.) „Effizienz“ als Regelungsziel im Handels- und Wirtschaftsrecht (2008) 69; Eilmansberger Verbraucherwohlfahrt, Effizienzen und ökonomische Analyse – Neue Paradigmen im europäischen Kartellrecht? ZWeR 2009, 437; Drexl Wettbewerbsverfassung, in: Bogdandy/Bast (Hrsg.) Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge (2. Aufl. 2009) 905; Schmidt/Wohlgemuth Das Wettbewerbskonzept der EU aus Sicht der Wirtschaftswissenschaften: Wie ökonomisch ist der „more economic approach“? in: Blanke/Scherzberg/Wegner (Hrsg.) Dimensionen des Wettbewerbs (2010) 51; Mestmäcker/Schweitzer Europäisches Wettbewerbsrecht (3. Aufl. 2014) § 3: Wettbewerb der Unternehmen, 63.
a. Ausgangspunkt
364
Über die rechtliche Maßgeblichkeit der unterschiedlichen wettbewerbstheoretischen und -politischen Kriterien zur Beurteilung von unternehmerischen Wettbewerbsbeschränkungen entscheiden ausschließlich die geltenden Wettbewerbsregeln. Ökonomische Einsichten in die für Wettbewerbsmärkte charakteristischen Zusammenhänge zwischen Marktverhalten, Marktstruktur und Marktergebnis sind für die Rechtsanwendung nur in dem Maße relevant, wie sie im Wettbewerbsrecht auch normative Geltung erlangt haben. Die Wettbewerbsregeln erfassen nicht jede beliebige Beschränkung des Wettbewerbs, sondern nur solche, die durch rechtlich definierte Formen des Verhaltens von Marktteilnehmern herbeigeführt werden. Nun handelt es sich bei den Wettbewerbsregeln – gleichviel ob es um das Kartellverbot, das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung oder um die Kontrollmaßstäbe für Unternehmenszusammenschlüsse geht – um Generalklauseln, die in hohem Maße konkretisierungsbedürftig sind. Dies bedeutet, dass im Prinzip durchaus unterschiedliche Ansätze zur wettbewerblichen Beurteilung unternehmerischen Verhaltens von den Wettbewerbsregeln gedeckt sein können; aber es gibt Grenzen.
365
Schon aus der Tatsache, dass es bei der Umsetzung von Wettbewerbspolitik um Rechtsanwendung geht, ergeben sich gewisse generelle Restriktionen. Die Anwendung von Rechtsnormen lässt sich nicht ausschließlich auf den Vollzug bestimmter ökonomischer Ansätze reduzieren, sondern sie unterliegt zugleich der Eigengesetzlichkeit des Rechts und seiner Anwendung. Sie verlangt zum einen ein Mindestmaß an Rechtssicherheit, ohne die das Recht keine verhaltenssteuernde Wirkung entfalten kann. Zum anderen erfordert sie die praktische Handhabbarkeit der Rechtsregeln, insbesondere was den Informations- und Zeitaufwand betrifft, der für die Subsumtion eines bestimmten unternehmerischen Verhaltens unter die Tatbestandsmerkmale einer Wettbewerbsregel erforderlich ist. Diese beiden Aspekte setzen der Komplexität der Rechtsanwendung Grenzen.[68] Sie rechtfertigen einerseits den Verzicht auf eine umfassende Einzelfalluntersuchung der komplexen und in der Regel unüberschaubaren gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtswirkungen des zu beurteilenden unternehmerischen Verhaltens, zumal sich diese Wirkungen in der Regel des unmittelbaren empirischen Zugriffs – und damit der Beweisbarkeit vor Gericht – entziehen. Andererseits rechtfertigen sie selbstverständlich nicht den Verzicht auf eine ökonomische Analyse des für die wettbewerbliche Beurteilung eines bestimmten Verhaltens relevanten konkreten wirtschaftlichen und rechtlichen Entstehungs- und Wirkungszusammenhangs im oben erläuterten Sinne einer Kontextanalyse wie sie auch vom EuGH verlangt wird.[69] Das ist aber etwas anderes als eine Analyse gesamtwirtschaftlicher Effizienzen.[70] Die ökonomische Analyse der Wirkungszusammenhänge kann sich jedoch nur auf die Umstände beziehen, die im Kenntnis- und Erfahrungsbereich der Unternehmen liegen, deren Verhalten zu beurteilen ist.[71] Auch können nur diese Umstände den Unternehmen im Rechtssinne zugerechnet werden. Die Frage der Zurechenbarkeit ist rechtlich von besonderer Bedeutung, wenn es um die Sanktionierung eines für wettbewerbswidrig befundenen Verhaltens geht.
366
Die Rechtsanwendung ist daher auch im Bereich des Wettbewerbsrechts nur unter der Bedingung unvollkommener Information über die gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge möglich. Unwerturteile beruhen im Wettbewerbsrecht auf Wahrscheinlichkeitsurteilen.[72] Bei der Konkretisierung der unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln ist somit in Rechnung zu stellen, dass das Risiko zweier Arten von Entscheidungsfehlern besteht: ein bestimmtes Marktverhalten kann irrtümlich als wettbewerbswidrig sanktioniert werden, obwohl es legitimer Ausdruck wettbewerblichen Verhaltens ist (Fehlertyp I: false positive, dh die der Entscheidung zugrundeliegende Wettbewerbsregel ist zu weit gefasst); oder das Marktverhalten kann als wettbewerbskonform qualifiziert werden, obwohl es den Wettbewerb schädigt (Fehlertyp II: false negative, dh die der Entscheidung zugrundeliegende Wettbewerbsregel ist zu restriktiv gefasst). Aus wohlfahrtsökonomischer Sicht würde man nun versuchen, die jeweiligen Kosten alternativer Formulierungen einer bestimmten Wettbewerbsregel gegeneinander abzuwägen. Gegenübergestellen lassen sich zum einen die im Fall eines Fehlers des Typs I (dh im Fall des unberechtigten Einschreitens gegen ein wettbewerbskonformes Verhalten) entstehenden Kosten, die in der Unterdrückung der wohlfahrtssteigernden Wirkungen des fraglichen Verhaltens bestehen, und zum anderen die im Fall eines Fehlers des Typs II (dh im Fall des Nichteinschreitens gegen ein wettbewerbswidriges Verhalten) entstehenden Kosten, die in den wohlfahrtsmindernden Wirkungen dieses Marktverhaltens bestehen.[73] In der Realität entziehen sich diese Kosten der Quantifzierbarkeit.
367
Das Irrtumsrisiko, dem wettbewerbsrechtliche Entscheidungen ausgesetzt sind, hängt vom jeweiligen Inhalt der Normen ab und von der Eigenart des wettbewerbswidrigen Verhaltens, das mit ihrer Hilfe bekämpft werden soll. So ist etwa das Verbot von Preisabsprachen unter Konkurrenten vergleichsweise treffsicher, weil es kaum Zweifel geben kann, dass damit der Wettbewerb zum Nachteil der Abnehmer beschränkt wird. Andererseits kann beispielsweise die Beurteilung der wettbewerblichen Auswirkungen bestimmter Rabattgestaltungen, die von marktbeherrschenden Unternehmen angewendet werden, problematisch sein. Die Feststellung einer Verdrängungswirkung zu Lasten von Wettbewerbern kann eine intensive Kontextanalyse erfordern.[74]
368
Dem wird im Wettbewerbsrecht durch zwei unterschiedliche Regelungsansätze Rechnung getragen. Es gibt zum einen sog. „per se“-Regeln, die dadurch gekennzeichnet sind, dass ein bestimmtes wegen seines wettbewerbsrelevanten Bezugspunktes generell als wettbewerbswidrig anzusehendes Verhalten tatbestandlich eindeutig und abschließend umschrieben wird. Für die Feststellung der Wettbewerbswidrigkeit im Einzelfall genügt dann die bloße Feststellung, dass das fragliche Marktverhalten „formal“ die Charakteristika aufweist, die tatbestandlich definiert sind. Auf eine Analyse der konkreten Auswirkungen des Verhaltens im Einzelfall kommt es dann nicht mehr an. Es handelt sich vor allem um Fälle, in denen es um die Beschränkung der wettbewerblichen Handlungsautonomie im Verhältnis von Konkurrenten untereinander geht, deren Zweck sich gerade in der Beschränkung der Rivalität unter ihnen erschöpft (Beispiele: Preisabsprachen, Quotenkartelle, Marktaufteilungen). Es steht außer Zweifel, dass solche Formen der Koordination des Marktverhaltens die Auswahlfreiheit der Abnehmer einschränken. Aber auch die Bewertung bestimmter einseitiger Verhaltensweisen marktbeherrschender Unternehmen folgt zuweilen diesem Regelungsmuster (Beispiel: Rabattgestaltungen, die in ihren Wirkungen einer exklusiven Bezugsbindung gleichkommen). Die Charakterisierung dieses Regelungsansatzes als „formalistisch“ (form based) im Gegensatz zu „wirkungsbezogen“ (effects based) wäre jedoch verfehlt. Denn auch „per se“-Regeln beruhen auf ökonomischen Wirkungsanalysen, die allerdings für die betreffenden Verhaltensweisen generalisierbar sind und keiner Überprüfung im Einzelfall mehr bedürfen.
369
Dem stehen zum anderen Regeln gegenüber, die sich auf Verhaltensweisen beziehen, deren Wettbewerbswidrigkeit nur aufgrund einer Auswertung des gesamten wirtschaftlichen und rechtlichen Entstehungs- und marktstrukturellen Wirkungszusammenhangs unter Berücksichtigung der Besonderheiten des jeweiligen Marktes festgestellt werden kann. Es geht insoweit also um Verhaltensweisen, deren wirtschaftliche Wirkungen nicht eindeutig sind, so dass sich generalisierende Aussagen über ihre Wettbewerbswidrigkeit verbieten. Hier bedarf es vielmehr einer sog. Kontextanalyse im Sinne der Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Einzelfalles. Zu diesen Umständen gehören dann nicht nur die wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen, sondern auch etwaige wettbewerbsfördernde Wirkungen einschließlich etwaiger Effizienzgewinne. Dieser Ansatz schlägt sich allerdings in durchaus unterschiedlichen positivrechtlichen Regelungsstrukturen nieder: Die amerikanische Rechtsprechung zum Kartellverbot des Sherman Act von 1890[75] hat im Hinblick auf bestimmte Verhaltensweisen das Verbot selbst mit Hilfe des Kriteriums der „reasonableness“ eingeschränkt und damit eine dem Kartellverbot selbst immanente Tatbestandsrestriktion entwickelt. Demgemäß werden im Rahmen des Verbotstatbestandes „per se rules“ und „rules of reason“ unterschieden.[76] In das Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV ist demgegenüber keine derartige Tatbestandsrestriktion hineininterpretiert worden, weil etwaige positive Wirkungen einer Wettbewerbsbeschränkung gesondert im Rahmen des Freistellungstatbestands des Art. 101 Abs. 3 AEUV zu prüfen sind. Auch das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung (Art. 102 AEUV) ist vergleichbar strukturiert (siehe dazu Rn. 1117 f.). Die Feststellung der Wettbewerbswidrigkeit ist somit im Unionsrecht selbst dann zunächst einmal unabhängig von einer Abwägung gegen etwaige positive Effizienzwirkungen, wenn sie nur aufgrund einer ausführlichen Kontextanalyse möglich ist. Dies steht nicht im Widerspruch zum Grundsatz der „integralen Anwendung“ von Art. 101 Abs. 1 und Abs. 3 AEUV (siehe dazu unten Rn. 753, 848).
370
Der Gegensatz zwischen den beiden möglichen Regelungsansätzen ist somit allenfalls ein gradueller: Selbstverständlich geht auch der Formulierung von per se-Regeln stets eine ökonomische Wirkungsanalyse der jeweiligen Verhaltensweisen voraus, bevor sie als abstrakte Gefährdungstatbestände normiert werden können. Es gilt schon bei der Formulierung der Regel zu verhindern, dass auch legitime unternehmerische Wettbewerbsstrategien von solchen Normen erfasst werden. Und umgekehrt ist auch im Rahmen von Regeln, deren Anwendung eine sorgfältige einzelfallbezogene Kontextanalyse voraussetzt (und erst recht im Rahmen einer rule of reason) unvermeidlich, dass sich die Analyse der konkreten wettbewerblichen Wirkungen eines unternehmerischen Verhaltens im Interesse der Rechtssicherheit und der Handhabbarkeit in Grenzen hält. Gewisse Pauschalierungen und Wahrscheinlichkeitsurteile sind auch bei konkreten Gefährdungstatbeständen unerlässlich. Letztlich geht es daher stets darum, bei der Formulierung von Wettbewerbsregeln und bei deren Anwendung (dh Konkretisierung) einen Kompromiss zu finden zwischen Rechtssicherheit für die Normadressaten und Treffsicherheit hinsichtlich der Erfassung von Wettbewerbsbeschränkungen. Wie diese Kompromisse im Rahmen des Unionsrechts aussehen, lässt sich nicht generalisierend nach Fallgruppen, sondern nur anhand der konkreten Auslegung und Anwendung der Wettbewerbsregeln durch die Unionsorgane bestimmen.
b. Wettbewerbsregeln der EU
371
Die EU errichtet gem. Art. 3 Abs. 3 S. 1 EUV einen Binnenmarkt. Aufgrund des Protokolls Nr. 27 über den Binnenmarkt und den Wettbewerb, das nach Art. 51 EUV Bestandteil der Unionsverträge ist, umfasst der Binnenmarkt „ein System, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt“. Das entspricht ganz der Rechtslage, wie sie gem. Art. 3 Abs. 1 lit. g EG bereits vor dem Vertrag von Lissabon bestanden hat. Der AEUV konkretisiert das System unverfälschten Wettbewerbs in Bezug auf das Marktverhalten von Unternehmen durch ein Kartellverbot (Art. 101 AEUV) und ein Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung (Art. 102 AEUV). Die Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen („EG-Fusionskontrollverordnung“), die auf der Grundlage von 87 EWGV bzw. Art. 83 EG [jetzt: Art. 103 AEUV] ergangen ist, ergänzt diese beiden Vertragsvorschriften durch ein Verbot wettbewerbswidriger Konzentrationsvorgänge.[77] Die Wettbewerbsregeln werden ferner ergänzt durch zahlreiche weitere sekundärrechtliche Ratsverordnungen auf der Grundlage von Art. 87 EWGV bzw. Art. 83 EG [jetzt: Art. 103 AEUV] sowie Durchführungsverordnungen der Kommission auf der Grundlage entsprechender Ermächtigungen in den Grundverordnungen des Rates. Hinzukommen zahlreiche „Bekanntmachungen“, „Mitteilungen“ und „Leitlinien“, in denen die Kommission ihre Interpretation des primären und sekundären Wettbewerbsrechts der Union erläutert. Davon bleibt die Maßgeblichkeit der Auslegung des geltenden Rechts durch das Gericht und den Gerichtshof allerdings unberührt.
372
Aus dem Wortlaut des Protokolls Nr. 27 ergibt sich zunächst einmal, dass das Unionsrecht den Wettbewerb als System begreift. Diese Formulierung hat weitreichende Implikationen für die Auslegung der Wettbewerbsregeln. Deren konkrete normative Bedeutung erschließt sich aber nur aus der Entscheidungspraxis der Unionsorgane, die trotz im Laufe der Zeit veränderter Nuancierungen ein hohes Maß an Kontinuität aufweist. Ein bis heute gültiger Grundansatz ist bereits in der Metro I-Entscheidung des EuGH aus dem Jahre 1977 folgendermaßen formuliert worden:[78]
„Der in den Artikeln 3 und 85 EWG-Vertrag [jetzt: Protokoll Nr. 27 und Art. 101 AEUV] geforderte unverfälschte Wettbewerb setzt das Vorhandensein eines wirksamen Wettbewerbs (workable competition) auf dem Markt voraus; es muss also so viel Wettbewerb vorhanden sein, dass die grundlegenden Forderungen des Vertrages erfüllt und seine Ziele, insbesondere die Bildung eines einzigen Marktes mit binnenmarktähnlichen Verhältnissen, erreicht werden.“
Hiernach sind zwei Konzepte für das unionale Wettbewerbsrecht grundlegend: das Konzept eines „wirksamen Wettbewerbs“ (im Folgenden c.) sowie das Konzept der Binnenmarktintegration (im Folgenden d.).