Kitabı oku: «Fritz und Alfred Rotter», sayfa 7
In der Version einer summarischen Klage des Präsidiums der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger vom 17. Juli 1924, die alle vermeintlichen Sünden der Rotter-Brüder auflistet, habe Fritz und nicht Alfred jene Hauptprobe unterbrochen. Er soll erst „zum dritten Akt“ auf die Probe gekommen sein „und hörte, wie aus den Wolken gefallen, einen Satz ‚Das geht gegen meine Ehre als Schneider‘ oder so ähnlich. – Draufhin Fritz Rotter: ‚Wieso Schneider?‘ – Antwort: ‚Androklus ist Schneider.‘ – Rotter: ‚Ach, sagen Sie doch statt Schneider Christ, die Schneider könnten sich sonst beleidigt fühlen.‘“ Dieser Version widerspricht der Anwalt der Rotters, Wolfgang Heine, am 20. Juli 1924 aufs Entschiedenste:
„Die Behauptung […] ist von Anfang bis zu Ende unwahr und mit unerhörter Leichtfertigkeit aufgestellt. Zunächst ist es falsch, dass der Vorfall Herrn Fritz Rotter beträfe. Dieser war überhaupt nicht im Theater. Lächerlich wirkt die Unterstellung, dass einer der beiden Herren das Stück nicht gekannt hätte. Beide haben sich seit Jahr und Tag mit der Absicht der Aufführung des Stücks getragen, und Herr Alfred Rotter hat es mit größtem Ernste studiert und sich mit der Inszenierungsart beschäftigt. Selbstverständlich wusste er auch, dass Androklus als Schneider bezeichnet ist. Er lernte das Stück keineswegs erst auf der Hauptprobe kennen. Herr Direktor [Alfred] Rotter wurde durch leitende Persönlichkeiten darauf aufmerksam gemacht, dass die Art, wie Karl Ettlinger bei den letzten Proben seine Rolle auffasste, eine Gefahr für das Stück wäre. Darauf sah sich Alfred Rotter die Probe an und fand nun, dass Karl Ettlinger die Rolle in einer aufdringlichen, altmodischen Wiener Possenhaftigkeit spielte, den Androklus in der traditionellen Schneidermaske und Manier mit Hopserei usw. geben wollte und das Stück dadurch für das künstlerische Gefühl des Herrn Rotter herabzog. Gerade aus künstlerischer Gewissenhaftigkeit hatte Herr Direktor Rotter dagegen Einspruch erhoben. Als Karl Ettlinger nun darauf hinwies, dass Androklus im Buche als ‚Schneider‘ bezeichnet würde, hatte Herr Alfred Rotter die sehr zutreffende Bemerkung gemacht: ‚Ach was, Schneider, ein Schneider ist auch Mensch.‘ Darüber gab es einen Zusammenstoß mit Ettlinger. Der erklärte, in einer anderen Auffassung nicht spielen zu wollen.“
Der Anwalt fügt hinzu:
„Geradzu komisch muss auf jeden Kenner des Theaters die pathetische Entrüstung darüber wirken, dass sich Herr Direktor Rotter erlaubt habe, die Änderung eines Wortes in einem Stücke von Shaw vorzuschlagen. Wenn das ein Argument gegen die künstlerische Eignung zur Leitung eines Theaters sein soll, dann besaßen Goethe und Schiller sie nicht, die Shakespeares Macbeth bis zur Unkenntlichkeit klassifiziert haben, dann geht sie Herrn Prof. Max Reinhardt ab, der wie jemand witzig bemerkte, vom Don Carlos einen ‚interessanten Auszug‘ spielen ließ […].“
Fritz und Alfred sind so oft Gegenstand von Gerüchten, dass noch jede Geschichte den Anschein der Wahrheit bekommt. Umgekehrt machen die beiden die Leichtgläubigkeit zum Thema auf der Bühne. Als ihr ‚Revolutionsengel‘ Oskar Kanehl am 21. Januar 1921 im Trianon-Theater Ludwig Fuldas Das Wundermittel zur Aufführung bringt, ist das durchaus Gegenwartskritik. Die verwickelte Handlung resümiert eine Zeitung so:
„Ein Wundermittel, von einem stellungslosen Chemiker erfunden, eigentlich nur ein ganz harmloses Beruhigungsmittel, aber von einem gerissenen Unternehmer lanciert, erobert die Welt, sogar die Wissenschaft […]. Ein parodistisch gemeintes, aus Wut über die allerneuesten Richtungen von einem enttäuschten Maler geklecktes Bild wird ernst genommen, erobert Berlin, den Kunsthandel, sogar die Kenner. Zwei Parallelfälle. Zwei Freunde, die beiden unfreiwillig Bluffenden. Sie sind arme Teufel und erliegen der Versuchung, sich von gewissenlosen Kunst- und Wissenschaftshäuptern ausbeuten und managen zu lassen.“72
Das Mittel im Stück heißt „Mirakulin“, der neue Kunststil „Kompressionismus“. Die Zeitungskritik wendet Fuldas Spott über das „Unwesen der Reklame“ und die „Kritiklosigkeit, mit der das Publikum irgendeinem gut inszenierten Bluff erliegt“, aber sofort gegen die Rotters selbst: Der Autor Ludwig Fulda habe „vielleicht kaum bedacht“, dass „die Direktion den freundlichen Erfolg seines Lustspiels gewisslich mit ihrem bewährten System binnen kurzem zu einem sensationellen hinaufloben wird […], als er sein Stück schrieb und es einer von den Gebrüdern Rotter geleiteten Bühne überließ.“
Die Rotters halten Fulda die Treue. Emil Faktor vom Börsen-Courier meint hingegen nur herablassend: „Schade um Ludwig Fulda! Ich bin sein Feind nicht. […] Ich kenne außerdem ziemlich viele Stücke von ihm und begegne ihm nicht selten in der Untergrundbahn. Wenn ich dann sein stets verdrossenes Gesicht sehe, will mir bedünken, dass die Welt an ihm viel gesündigt hat, indem sie ihm eine Zeit lang Dichtertum einredete.“73 Inspirierter über Das Wundermittel äußerte sich der Stilist der damaligen Kritiker-Zunft, Alfred Kerr: „Doch wenigstens die Luft ist reinlich – es riecht nicht schlecht. […] Das Stück ist harmlos; nicht ganz echt. Doch wie gesagt, es riecht nicht schlecht.“74
FRIVOLES BERLIN: DIE ROTTERS ALS „PUBLIKUMSBAROMETER“
Auch Eduard Stucken wird Hausautor der Rotters. Nach Myrrha inszeniert Fritz von ihm Die Gesellschaft des Abbé Chateauneuf.75 Uraufführung ist am 10. Februar 1921. Es ist die Geschichte einer Frau, die „auch noch nach ihrem Tode durch die Hand vieler Männer gegangen ist, die dann Romane, Dramen und sogar Opern mit ihr zeugten“: „Als sie lebte, hatte sie mit einem Marquis einen Sohn […]. Dieser junge Mann verliebte sich, wie man weiß, in die unbekannte Mutter. Er kam nicht, wie Ödipus, dazu, sie zu heiraten. Als er erfuhr, dass es das Fräulein Mama war, das er anbetete, erschoss er sich. […] Ihr verliebtes Söhnchen war Hans Brockmann. Es ist eine zuckerige Rolle; der Schauspieler ließ sich tenorsäuselnd nicht entgehen, sie noch in Schmalz zu backen und Saccharin darüberzustreuen. Festessen für kleine Mädchen“, so das Berliner Tageblatt.76 „Welch wunderlicher Mensch und Poet, dieser junge Eduard Stucken!“, ruft Franz Servaes im Lokal-Anzeiger nicht ohne Bewunderung. „Mit jedem Stoffe, den er aufgreift, scheint er selbst sich zu verwandeln.“ Andere Zeitungen spotten: „Rotters sind zum Kostüm übergegangen“ – „Barock. Ringellocken. Spitzenkragen; galante Abbés, frivole Chevaliers, geistvolle Marquisen; roter Samt, matte Seide, und immerzu Esprit“.77 Auch Herbert Jhering ist unerbittlich: „In der Tat reichen die ungeprägten Weisheiten, die hier […] ausgetauscht werden, für zehn Rotter-Inszenierungen. In der Tat reichen die unformulierten Witze, die sich hier als Esprit ausgeben, für das Residenz-, das Trianon- und das Kleine Theater zusammen. In der Tat genügt die süßliche Tragik für das Sentimentalitätsbedürfnis einer ganzen Saison.“78
Danach arbeitet Fritz Rotter nie wieder als Regisseur.
Doch anders, als die Theaterkritik es wahrnimmt, sind diese frivolen Salonstücke um Frauen, die den gesellschaftlichen Konventionen den Rücken kehren, nicht lediglich ein Merkmal für das starke Zerstreuungsbedürfnis der unruhigen, schwierigen Zeit nach Ende des Ersten Weltkrieges und während der Inflation, sondern spiegeln die Suche nach einem neuen Selbstbild von Frau und Mann.
Die neuen Komödien der Inflationszeit sind gesellschaftliches Traummaterial und offenbaren – so wie später das Operettenfieber in den Jahren der Weltwirtschaftskrise – tiefere Sehnsüchte. In beiden tragischen Phasen der Weimarer Republik geben die Rotterbühnen kulturell mit den Ton an. Die Rotters enthüllen ein Stück Berliner Befindlichkeit. In ihrem Leben und in ihren Aufführungen verkörpert sich ein besonderes Zeitbild der deutschen Hauptstadt zwischen den beiden Weltkriegen.
Allerdings ist es nur eines neben anderen Bildern. Trude Hesterberg erinnert sich:
„Wenn man an die Zeit der Inflation nach dem Ersten Weltkrieg zurückdenkt, so kann man sie nur mit einem höllischen Spuk vergleichen. Alles fiel auseinander, was früher Gültigkeit besaß. An jeder Ecke standen die Opfer des verlorenen Krieges. Zerlumpt und auf Krücken oder ohne Beine auf der Erde hockend, hielten sie ihre alten, zerschlissenen Soldatenmützen auf. Was sollte man hineintun? Fünfhundert, tausend, eine Million? Am Tag darauf war das so viel wert wie ein Pfennig! Bettelnd standen diese Menschen mit ihren ausgehungerten Kindern an den Ausgängen der Bars und der Tanzdielen, die wie giftige Pilze aus dem Boden schossen. Alles wurde kürzer, die Haare, die Kleider, die Liebe, der Schlaf! Das Leben spielte sich ab, wenn es dunkel wurde. Der bunte Flittermantel der Nacht deckte die grausamen Blößen des Tages zu.“79
Wie ein Sinnbild für diese Zeit steht die Aufführung des bereits älteren Lustspiels Nur ein Traum von Lothar Schmidt, das Eugen Burg am 22. April 1921 für die Rotters am Kleinen Theater Unter den Linden neu inszeniert und in dem eine Frau ihre Nacht mit einem anderen Mann nachträglich dem eigenen Gatten „so darstellt, als wäre sie wirklich nur ein Traum gewesen“. Der Börsen-Courier beobachtet, dass die „Flut der ‚feineren Lustspiele‘ steigt. Vielleicht wird sie uns, über Jahr und Tag, verschlungen haben. Der Bedarf meldet sich allerorten.80
Alfred Kerr schreibt dazu im Rätselstil scherzend und in Klammern gesetzt: „Ein Berliner würde sagten: die Möchte ist heut noch stärker als die Kannste.“81
Zugkräftige Stücke schicken die Rotters wie schon in den Tingeltangel-Jahren während des Ersten Weltkriegs gleich auf Gastspieltournee. So erreichen sie ein Publikum in der ganzen Republik. Als sie im Oktober 1921 in Hannover Arthur Schnitzlers Reigen im dortigen Residenz-Theater zeigen, kommt es jedoch zum Skandal. Das Stück „erregt allgemein Anstoß“: „Es werden Protestkundgebungen vor dem Opernhause und in der Marktstr[aße] vor dem Theatergebäude veranstaltet, der Verband der Bürger-Vereine protestiert gegen die Verschmutzung des hannover[schen] Theaters durch derartige unsittliche Stücke. 37 andere Vereine, Verbände und Ausschüsse verlangen polizeiliches Einschreiten.“ Der Direktor des Residenz-Theaters in Hannover beugt sich dem Druck und löst „bald hernach die geschäftliche Verbindung mit der Rotter-Bühne.“82
Fritz und Alfred Rotter einigen sich hierauf mit dem Eigentümer des etwas kleineren Deutschen Theaters Hannover und zeigen von nun an ihre laufenden Neuheiten dort, zuletzt 1924 sogar unter dem Direktionsnamen Vereinigte Rotterbühnen Berlin-Hannover. Da Gertrud Rotter, genannt Trude, die Gattin von Alfred, aus Hannover ist, fühlen sie sich dieser Stadt verbunden.
So stark der Zustrom des Publikums, so heftig bleibt die Ablehnung der gehobenen Berliner Theaterkritik gegen die Rotters. Die Abwehr ihrer psychologischen Stücke, welche durchgängig die Geschlechterrollen thematisieren, ist direkt auffällig und richtet sich indirekt gegen Wien. Herbert Jhering ist überzeugt, aus Wien hätten „die Rotters den Gemütsspeck auch nach Berlin geschmuggelt“. In Wien erfolge die „Auflösung szenischer Widerstände durch seelische Prostitution“ und das „Gefühl selbst“ werde „Trick und Kulisse“. In Berlin aber gelte es, „Effekt und Kunst zu scheiden“: „Dass man in Wien die Gemütsstimmung, in die das Publikum durch das Sensationsstück geraten will, gleich mitspielt, ist der Unterschied gegen Berlin.“83 Gewiss, Jhering schätzt den Wiener Arthur Schnitzler, insbesondere dessen Reigen, weil da die „Dialoge aus diesem erotischen Nervengefühl geboren sind, das nur noch um einen Grad sublimiert zu werden brauchte, um Klang und Ton zu werden“ – dieses Drama werde „in der deutschen erotischen Literatur, die arm ist, bleiben“.84
Jhering meint in einem Rundfunkvortrag von 1931 zugespitzt, Schnitzlers Stücke geben aber „das Weltbild der Vorkriegszeit“ wieder, und „nach dem Zusammenbruch einer ganzen Welt“ könne „an dieses Bild nicht wieder angeknüpft werden“, es gebe kein Zurück zu diesen „psychologischen Stücken oder vielmehr zu der von ihnen geforderten psychologischen Darstellungsweise“.85
Wie viel verdrängte Vorkriegszeit in den Zwanzigerjahren noch immer vorhanden war, übersieht Jhering nicht, doch an die Kunst „in unserer glücklosen, zerrissenen, im schweren Endkampf einer Machtauseinandersetzung stehenden Zeit“ stellt er andere Anforderungen, jenseits der „psychologischen Individualcharakteristik“. Brechts neues Stück Die heilige Johanna der Schlachthöfe, das Jhering bereits kennt, sei „in diesem Stil“ geschrieben. Das „moderne Drama“ könne „nicht an den großen sozialen Gegensätzen, an dem Endkampf der Weltsysteme vorbeigehen“, ist er überzeugt.
Doch gerade diesem Kampf versuchen sich die Rotters nach den Erfahrungen mit der Novemberrevolution 1918 zu entziehen, das erkennt Jhering wohl richtig. Wie geschickt sie diese Verweigerung betreiben und stattdessen einen kunstvollen, aber nicht konfrontativen Weg zwischen den Fronten einschlagen, versteht er jedoch nicht zu würdigen. Deshalb blickt Jhering so ungnädig auf das Rotter-Theater der Zeit nach 1918. Im Rotter’schen Rollenspiel und in ihren Versuchen zur Auflösung des starren Geschlechterschemas erblickte er nicht die Zukunft der Kultur, sondern nur abwertend das rein Geschlechtliche und den vermeintlich reaktionären Zucker für das Publikum. In Die Getarnte Reaktion schreibt er 1930:
„Als nach dem Kriege alles drunter und drüber ging, als die Armeen zurückfluteten und die aufgeschreckten Spießer zwischen Angst vor dem Bolschewismus und der auftrumpfenden Freude über einen entfesselten Amüsierbetrieb hin und her gerissen wurden, als die Mark ins Bodenlose sank und die heimlichen Spielklubs blühten, da wussten die Rotters am besten, was sie einem verschüchterten und aus sich herausgetriebenen, einem aufgescheuchten und sensationsgierigen Publikum zu bieten hatten. Sie beruhigten das erschreckte Gefühl durch Minnigkeit auf der Bühne, sie bezahlten den Anspruch des in Unordnung geratenen Geistes mit billigen Sentenzen und kitzelten den Sexus durch Zoten und Entkleidungskünste. Die zwinkernde geschlechtliche Anspielung ging in den innigen Augenaufschlag über, zuckrige Diskretion stand neben gepfefferter Eindeutigkeit. Auf diesen Nenner führten sie gewaltsam, aber instinktsicher alle ihre Stücke, alle ihre Schauspieler zurück. Wer erinnert sich noch an die Aufführungen von Oscar Wilde bis Sudermann, von Fulda bis Schnitzler? Da wurde gehimmelt und entkleidet, da wurde Seele gehaucht und in Zynismus gemacht, da wurde zur Andacht und zur Anekdote kommandiert. Immer hatten die Rotters einen Instinkt für das Durchschnittspublikum, einen Instinkt für das Geschmacksbedürfnis einer geistig uninteressierten, von nichts als der Zeit und der Mode geprägten und beeinflussten Schicht. Die Rotters sind Publikumsbarometer.“86
Indem Jhering den Zusammenhang zwischen „Sexus“ und Kultur als überwunden und als lediglich „psychologisch“ hinstellt, unterschätzt er jene ganze andere Revolution der Auffassungen und der Verhaltensmuster – jene im Verhältnis der Geschlechter, welche Fritz und Alfred Rotter auf ihren Theatern unablässig ansprechen.
Als 1922 in Frankreich der Roman Garçonne von Victor Margueritte erscheint und zu einem Welterfolg wird, liegt das auch daran, dass nach diesem französischen Wort der Haarschnitt genannt wird, der in Deutschland „Bubikopf“ heißt. Autor Margueritte beruft sich nicht nur auf das Buch Über Liebe und Ehe (1902) der schwedischen Frauenrechtlerin Ellen Key, sondern auch explizit auf den französischen Psychiater Édouard Toulouse, der seinem Werk La question sexuelle de la femme (1918) die These voranstellt: „Die sexuelle Frage ist für uns noch, was die religiöse Frage in den vergangenen Jahrhunderten war. Es ist leicht, zum Häretiker zu werden, im Urteil der geläufigen Moral.“87 Unter seinem literarischen Pseudonym Peter Panter beschreibt Kurt Tucholsky in einer Reportage einen Besuch bei Victor Margueritte und dessen Ehefrau an der Côte d’Azur – und kalauert: „Eine gute alte Freundin von mir hat einmal das Gebot geprägt: ‚Du sollst nicht alles mit der Sexu-Elle messen –!‘ Die Menschen scheinen anders zu messen, denn sonst wäre ein Welterfolg wie der der Garçonne […] nicht zu erklären. […] Victor Margueritte hat den Bubenkopf in die Literatur eingeführt.“88
Worin liegt also die Provokation der Rotters und ihrer Theaterarbeit? Ikonen der Berliner Zwanzigerjahre werden sie erst im Nachhinein. Nicht das Publikum ist es, das sie so nachhaltig ausgegrenzt. „Hierzulande muss man müssen, sonst darf man nicht“, schreibt Franz Hessel.89
IM SPIEL BLEIBEN – KULTUR DER HYPERINFLATION
Zu Beginn der Spielzeit 1921/22 arbeitet auch Alfred Rotter eine Weile nicht mehr selbst als Regisseur, als ob er sich aus der Schusslinie nehmen möchte. Doch die Theaterkritik zielt nach wie vor direkt auf sie beide, auch wenn sie nur die Leitung ausüben. Als der Schauspieler und Regisseur Paul Wegener am 22. August 1921 im Residenz-Theater den Totentanz von Strindberg zur Aufführung bringt, heißt es in einer Kritik: „Man ahnte schon längst, dass die Rotters Pessimisten sind und sich eines Tages zu einer Weltanschaung, die der Grieche mit amphimelas, ‚ringsumschwarz‘, bezeichnete, bekennen würden. So nahm es nicht Wunder, dass sie mit diesem ‚Totentanz‘ […] auch ihrerseits einen Beitrag zu der allgemeinen Verdüsterung des Weltalls leisten wollten. […] Der Russe Tschechow hat gezeigt, dass man bereits lächeln kann, wo Strindberg noch errötet […].“90
Ein kleines Lob gibt es von Herbert Jhering für Georg Altmann, als der am 9. September 1921 mit Fräulein Josette – meine Frau die Saison am Kleinen Theater eröffnet: „In ihrem Bemühen, die Kritik mattzusetzen, verfielen die Rotters jetzt auf das gefährlichste Mittel: eine bessere Aufführung zu geben.“ Jhering fährt fort: „Wenn dieses Niveau festgehalten wird, ist das Kleine Theater wenigstens keine Gefahr mehr.“91 Fritz Engel sekundiert im Berliner Tageblatt: „Wie gut geht’s uns, dass wir so totchick [sic] auftreten können.“92 Im Stück spielt wieder Hans Albers mit.
Der Immer-noch-Revolutionär Oskar Kanehl folgt im Residenz-Theater mit Der König – und trifft wider Erwarten eine Ader bei Jhering, der im Stück eine „hinreißende Mischung von politischer Satire und erotischem Schwank“ sieht. „Dieses einzige Beispiel einer Operette ohne Musik, die wirkt, als ob Offenbach komponiert hätte. […] Im ganzen: die französischen Stücke bekommen den Rotters besser als die deutschen. Oder haben sie es nur noch nicht heraus, wie sie sie völlig verkitschen können?“93
Elsa Herzog, die Spezialistin für „Mode auf der Bühne“ beim Berliner Lokal-Anzeiger, nimmt diese Aufführung zum Anlass, um eine Verbindung zwischen der Ausstattung „bei den Rotters“ und der Inflation herzustellen:
„Unsere modischen Kostümdichterinnen haben in dieser Saison schon recht viel zu tun bekommen. […] [D]enn das Publikum, das diese Theater mit den unerhörten Eintrittspreisen besucht, hat ja auch ein Anrecht, für sein Geld etwas zu verlangen. Augenblicklich macht dort Flers-Caillavets König antimonarchische Propaganda. […] Da ist zunächst Olga Limburgs Ausstattung. Eine Bourgeoise […]. Sie stellt sich uns zunächst in einem blau-roten Mantelkleid in den französischen Farben aus Wollvelours vor, das über die drollige Mode dieses Winters aufklärt. […] Von besonderer Eleganz ist ihre ‚Courtoilette‘, in der sie beim König von Cerdanien vorgestellt wird. Sie ist aus zitronengelbem Chiffonsamt mit reich paillettierten Silberspitzen […]. Der Rock ist lang, weit und reifengestützt; die Stoffüberbleibsel sind für das Leibchen verwendet. Aber allzu viel ist leider nicht übriggeblieben […].“94
Das Rotter’sche Theater erreicht die Gesellschaftsspalten und macht, wenn nicht Kunst, so doch Mode zum Gespräch. Es wird für die Brüder Rotter die bis dahin vielleicht erfolgreichste Spielzeit. Anerkennung gibt es auch für Altmanns „satirisch überpuderten, leicht karikaturistisch eingefärbten“ Kammersänger von Frank Wedekind im Trianon-Theater, obwohl – oder gerade weil – an einer Stelle das Saallicht angeht – „Regiefeinheit“ – und die Titelfigur an der Rampe ins Publikum spricht: „Wir Künstler sind ein Luxusartikel der Bourgeoisie.“95 Ergänzend wird im Programm des Abends noch Tod und Teufel desselben Autors gespielt.
Das weite Land von Arthur Schnitzler im Residenz-Theater96 lassen die Rotters, zumindest auf dem Papier, Arnold Korff inszenieren, der selber den Friedrich Hofreiter spielt. Es ist, als wollen sie der Kritik keinerlei Angriffsfläche mehr bieten. Und Alfred Kerr schreibt: „Der Rotter wächst mit seinen größeren Zwecken.“ Er spricht von einer „hoffnungsvolle[n] Wiederaufnahme des vor einem Jahrzehnt erschienenen Werks“, um zum Schluss zu kommen, dass es heute, zehn Jahre später, „noch immer seinen Wert“ hat.97
Die hoffnungsvollen Frauengestalten in Das weite Land – Friedrich Hofreiters Frau Genia und dessen letzte flüchtige Geliebte – merken zu spät, das die Befreiung von Konventionen sie nicht davor schützt, getäuscht zu werden. „Man gleitet. Man gleitet immer weiter, wer weiß wohin. […] Ich lüge, ich heuchle. Vor allen Leuten spiel ich Komödie“, sagt die betrogene Genia. „Der Freiheit, die sich hier brüstet, der fehlt es am Glauben an sich selbst“, heißt es im Stück.
Fritz und Alfred Rotter setzen zwar deutlich weniger auf Lustspiele, doch als sie im Januar 1922 durch Georg Altmann Elga von Gerhart Hauptmann inszenieren lassen,98 spürt Emil Faktor vom Berliner Börsen-Courier auch dahinter eine Absicht und nutzt das für eine Generalabrechnung: „Bedenklicher ist das Rottertum an und für sich geworden, das auch in anderen Bühnenhäusern Berlins herumspekuliert […]. Die schlauen Rotters wissen […] Bescheid, und mag sein, dass sie sich sogar eines Tages entschließen, ihr ganzes Denken und Wollen nur der puren Kunst zu verschreiben. Es kann allmählich wieder das beste Geschäft werden. Vorläufig freilich sind sie nicht so weit.“99
Zielstrebig bringen die beiden Brüder auch 1922 weiterhin Stücke mit unkonventionellen Frauenrollen, als hätten sie sich den Satz aus Ludwigs Fuldas Der Lebensschüler (1915) ganz zu eigen gemacht: „Sprich vom Mann, und dir antwortet ein Gähnen; sprich vom Weib, und die ganze Welt horcht auf. Ja, glaube mir, Gert, dies ist ein weiblich gewordenes Jahrhundert.“100
Oscar Wildes bereits ältere Komödie Eine Frau ohne Bedeutung101 charakterisiert Emil Faktor als „Roman vom schuftigen Lord und seiner verlassenen Geliebten“ – doch es „riss das Publikum unaufhaltsam hin“. Ironisch fügt der Kritiker hinzu: „Man verging vor Spannung und Wonne. […] Die Regie des Herrn Kanehl, der als Lyriker ein Radikalinski ist, war pflaumenweich.“102
Im Kleinen Theater führt Altmann Das Weib auf dem Tiere auf103, ein neues Drama von Bruno Frank, in dem eine „vielbegehrte, dem Mittelstand entstammende Stadtkokotte eines Tages den Geliebten“ erschießt. „Das für alle anderen Männer käufliche Weib fühlte sich von dem einen, dem zuliebe sie Geld zusammenraffte, schmählich hintergangen. […] Der Hinrichtung entzieht sie sich durch Gift […].“104
In der Nachwirkung bedeutsam ist Das kleine Schokoladenmädchen von Paul Gavault105, wiederum ist Oskar Kanehl der Regisseur. Ralph Benatzky macht aus dem Stück 1932/33 für die Rotters eine Operette, Bezauberndes Fräulein, die dann aber – der noch zu schildernden Ereignisse wegen – nicht mehr aufgeführt wird: Die Uraufführung wird am 24. Mai 1933 in Wien sein, am Deutschen Volkstheater. Zu dem Zeitpunkt haben die Rotters keine Bühne mehr; Alfred ist tot und Fritz inkognito im Exil in Frankreich.
Über Das kleine Schokoladenmädchen schreibt die Vossische Zeitung, sie sei „die Tochter des Schokoladenkönigs, Millionenerbin, launisch, verwöhnt“. Hans Albers tritt in der Rolle eines armen Malers auf, „der mit allen Prachtgewändern der Rotter’schen Kleiderschränke garniert“ ist. Dass er sich „neckisch mit Lieblingsallüren vor seinem Publikum aufgebläht“ habe, missfällt dem Kritiker. „Wie er versucht, durch Exzentrikbeine Laune zu erzwingen, das ist schon nicht mehr Auflösung des Ensembles. Das ist schon mehr Untergang des Abendlandes.“106 Jhering dagegen ist milder gestimmt und versteht auch die Komik des Schauspielers Albers besser, die er vom Film beeinflusst sieht: „Und Hans Albers? Die Reklame hat ihn zum deutschen Chaplin gemacht. Man sieht bei jeder Bewegung, wie der Regisseur ihm auf den Proben zugerufen hat: ‚Mehr Chaplin! […] Sie müssen an Chaplin denken.‘“107 Jhering weiter:
„Also gegen die Rotters ist diesmal nichts zu sagen, nur gegen die allgemeine Berliner Theatersituation. Die Rotters haben eine gewisse Geschlossenheit des (kitschigen) Repertoires. Aber soll es an den anderen Theatern auf diesem Wege weitergehen? […] man ruiniert sich die Zukunft. Nicht nur dadurch, dass man mit der Jagd nach dem Erfolge die Zugkraft der Reißer erschöpft und sich der Gefahr aussetzt, plötzlich vor dem Nichts zu stehen […]. Das Repertoire der Berliner Bühnen beschäftigt im Übermaß den Konversationsschauspieler, den Pointenbringer, den Nuancenjäger und legt den großen heroischen Schauspieler lahm. […] Ich weiß, dass die Theater schwer zu kämpfen haben. […] Heute aber, wo das Theater nur auf den Erfolg gestellt wird, reißt es in den Taumel auch die Künstler hinein, die in sich den Drang zum Kampf und zur Kompromisslosigkeit tragen.“
Ist es das, was den Rotters vorgeworfen wird: die Abwesenheit heroischer Stoffe auf ihren Bühnen? Angekreidet werden kann ihnen vieles – doch nicht, dass sie keine Gegenwartsthemen aufgreifen würden. Noch bevor es Tonfilm oder gar das Fernsehen gibt, sind sie auf Breitenwirksamkeit bedacht. Nicht zum Film zu gehen, sondern mit filmischen Mitteln Theater zu machen, das ist im Grunde der Kernvorwurf, den Jhering ihnen macht, und es ist ein Paradox, dass erst Brecht das von Jhering vermisste heroische Theater erneuert, im Spiel der Brechungen und der Distanzierung. Die Rotters stehen für Antiheroismus, der ganz rechts verpönt war, und auch ganz links – trotz Kanehl, der über seine Bühnenarbeit gesagt haben soll, er gehe „wie ein Fabriksklave in den Betrieb“, „um das nackte Leben zu fristen“, „seinen revolutionären Geist“ verkaufe er nicht mit, und er stelle „sein ganzes Denken in den Dienst der sozialen Revolution“.108
In der Spielzeit 1922/23, als die Inflation in die Hyperinflation übergeht und es auch im übertragenen Sinn nur noch wenig gibt, das wertbeständig ist, wagen die Rotters noch mehr. Gleich zum Auftakt erregen sie größeres Aufsehen mit der Erstaufführung von Lissi des Autors Siegfried Geyer,109 wieder mit Hans Albers.
Selbst der sonst zu Lob gern bereite Berliner Lokal-Anzeiger wettert: „[…] eine widerliche Häufung von Zoten, und die Erinnerung müsste schon in die schlüpfrigen Niederungen der Linienstraße herabsteigen, um im Berliner Theaterspielplan letzter Jahre ein Stück ähnlich starken Kalibers zu finden. Also verbietet es sich von selbst, auf den Inhalt näher einzugehen. Es genügt, dass besagte Lissi eine ‚Dame‘ ist, die in mehr oder weniger unbekleidetem Zustand allerlei dufte Abenteuer erlebt, und der Neid muss es Herrn Siegfried Geyer lassen, dass er die Welt, in der sich solche ‚Damen‘ bewegen, recht intim zu kennen scheint: […] Ein Schritt weiter, und die Bühne wird … na, lassen wir das!“110 „Es war ein platter Abend, ausgezeichnet durch Eindeutigkeit, veredelt durch darstellerischen Schmiss – die Qualität lag in der Durchsichtigkeit der Seidengewebe. […] Lissi ist eine Kokotte, die unglücklich liebt […]. Erika Gläßner gab jene Lissi, mauzend, mit Weibchentönen, mit Quatschtönen, mit Hüftenspiel und kallipygischem [schön geformten] Überschlag über das Messingbettchen. […] Hans Albers war Jonny, ein Frackmann mit moralischem Kater und schlaksigen Bewegungen. Beide gut im Zusammenspiel.“111
Die Rotters sind nicht die Einzigen, die solche Stücke auf die Bühne bringen – im Lustspielhaus, das ihnen erst ab 1929 gehört, wird am 1. September 1922 Die Schule der Kokotten von Paul Armont und Marcel Gerbidon gegeben. Die Figur der Kokotte, das heißt einer Dame der Halbwelt, die sich selbst in ganz bürgerlichem und zugleich ganz unbürgerlichem Sinn als Kapital einsetzt – ist die Obsession einer Gesellschaft, die noch nicht wirklich von ihren Konventionen lassen will und den Frauen die berufliche Gleichstellung überwiegend verweigert. Zur selben Zeit beschreibt Proust in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit den Aufstieg von Odette, die trotz oder vielleicht wegen einer solchen Vergangenheit als stets auf große Selbstständigkeit bedachte Frau von Monsieur Swann einen liberalen Salon erhält und nach Swanns Tod durch erneute Heirat zu einem Adelstitel kommt.
Doch die Rotterbühnen geben auch immer noch Hermann Sudermann. Sein Stück Es lebe das Leben112 aus dem Jahre 1902 um „Parteipolitik und Gesellschaft“113 wird von Oskar Kanehl im Januar 1923 inszeniert. Es geht um zwei alte kompromittierende Briefe einer Gräfin, die einem Baron mit Reichstagsmandat gefährlich werden könnten. Dieser hält im Parlament eine begeistert aufgenommene Rede „über die Unverletzlichkeit der Ehe“, während sein Sekretär aufgrund der Briefe zu der Erkenntnis gelangt, „dass in der Politik eine völlig weiße Weste unmöglich ist“.114
Die Theaterkritiken zu dieser Aufführung zeigen auf verblüffende Art, wie weit Berlin sich innerlich schon von der Kaiserzeit entfernt wähnt – eine schwerwiegende Selbsttäuschung, wie spätestens mit der Wahl Hindenburgs 1925 als Reichskanzler deutlich wird, und der in gewisser Weise auch die Morgenpost unterliegt: „Derweilen ist einiges vorgegangen in der Weltgeschichte, und es hat sich vielleicht in den Proben ergeben, dass man diesen Stützen der konservativen Gesellschaft, diesen Prinzen, Baronen und Landjunkern […], kein neues Leben einzuhauchen vermag. Sie zeigten die Symptome der Leichenstarre schon zu Lebzeiten; heute sind sie ein Stück Mittelalter auf dem Eis; Petrefakten [Versteinerungen], Stalaktiten aus dem wilhelminischen Zeitalter.“115