Kitabı oku: «Die Steuersünder», sayfa 2
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Am Abend begab sich Herbert Matter nicht gleich nach Hause, sondern in die Eulerbar beim Bahnhof. Es gefiel ihm, im Halbdämmer zwischen Menschen zu sitzen, die englisch, französisch, russisch oder hochdeutsch sprachen, und ein Bier oder einen Whisky zu schlürfen. Er sah sich im Spiegel hinter dem Rücken des Barmannes, er sah links und rechts die Gesichter der anderen Trinker in ihren Anzügen, er fühlte sich dann unter Seinesgleichen und vergaß, dass er städtischer Beamter in einer mittleren Lohnklasse war. Der Barkellner kannte ihn mittlerweile und blinzelte ihm zu, wenn nebenan ein ältlicher Graukopf mit Pferdeschwanz besonders innig seine Begleiterin befummelte.
Er besaß den Fachausweis als diplomierter Steuerexperte. Sein Unglück war, dass er damals, vor dreiundzwanzig Jahren, weder das Geld noch den Mut gehabt hatte, sich als Steuerberater selbständig zu machen; stattdessen war er in den Staatsdienst eingetreten. Hinzu kam, dass er sich – rückblickend – viel zu früh das Korsett und die Lasten einer bürgerlichen Ehe auferlegt hatte. So verbrachte er mit seiner Frau Sylvia die Sommerferien nicht an den Traumstränden der Malediven, sondern, jedes zweite Jahr, auf der Insel Mallorca für tausendachthundert Franken, zwei Wochen, alles inbegriffen.
Die ehelichen Freuden nutzten sich mit der Zeit ab, verkamen zur Routine und dann zur Pflicht und schließlich zur Last. Daran trug eigentlich niemand Schuld, höchstens die Zeit, die alles gleichmachte, Höhepunkte wegrasierte, Abgründe mit Vergessen zuschüttete. Die Freundin, die er sich vor einiger Zeit zugelegt hatte, half ihm, seine Manneskraft gleichwohl auszuleben.
«Noch ein Bier, Herr Matter?», fragte der Barmann.
«Danke, nein. Heute nicht. Elternabend in der Schule meines Sohnes. Zahlen bitte.»
«Gleich.»
«Dann bis morgen.»
«Ja, gerne.»
Arnold war Matters zweites Unglück. Aufgrund eines Geburtsfehlers war sein linkes Bein vier Zentimeter kürzer als das rechte. Damit blieb es ihm versagt, in irgendeiner Sportart Spitzenleistungen zu erbringen. Und auch in der Schule vermochte er die hochgesteckten Erwartungen seines Vaters nicht zu erfüllen. Wenn nicht ein Wunder geschah – und Herbert Matter glaubte grundsätzlich nicht an Wunder –, würde Arnold allen Hoffnungen des Vaters zum Trotz den Namen Matter weder berühmt noch auch nur in irgendeinem Bereich bekannt machen.
Auch im Fürstentum Liechtenstein war es nicht mehr so einfach, eine neue Bankbeziehung zu eröffnen wie noch vor ein paar Jahren. Das musste Kellenberger Herbert Matter klarmachen, als dieser ihn drei Tage nach dem zweiten Besuch in seiner Kanzlei aufsuchte. Matter war gut gelaunt und zwinkerte Tanja zu, als sie ihn ins Büro des Anwalts führte.
«Heute komme ich gewissermaßen als Klient zu Ihnen», begann er und lachte dazu sein widerliches Lachen.
«So, so», erwiderte der Anwalt. Mehr fiel ihm nicht ein.
Er war schlecht aufgestanden an diesem Morgen. Im Traum hatte ihn jemand aus Versehen in der Waschküche eines Wohnblocks eingeschlossen; Wasser überschwemmte den Raum, er klopfte und rief, bis er aufwachte, ohne dass man ihn befreit hätte. Beim Rasieren störte ihn sein Gesicht: Die Furchen zwischen den Nasenflügeln und den Mundwinkeln wurden immer tiefer, das Fleisch am Kinn fing an schlaff zu werden, und in seinem Haar trat Grau zunehmend in den Vordergrund. Als er aus der Garage fuhr, regnete es; der Himmel war so verhangen, als hätte ihn die Sonne für immer verlassen. Und jetzt noch Matter.
«Ich hätte gerne, dass Sie mich bei einer Bank in Liechtenstein einführen», sagte Matter. «Sie wissen am besten, wie das geht, haha!»
«Liechtenstein? Lesen Sie eigentlich keine Zeitungen?»
Matter grinste. «Sie meinen die Steueraffäre?»
«Ja, die meine ich.» Kellenberger seufzte. Die ganze Welt blickte auf das Fürstentum, seit vor einiger Zeit ein Angestellter einer großen Bank in Vaduz dem deutschen Fiskus über tausend vertrauliche Kundendaten verkauft hatte. «Das Steuerparadies Vaduz hat böse Lackschäden erlitten. Ich würde heute dort kein Geld mehr anlegen. Wie Heuschreckenschwärme fallen dieser Tage die deutschen Steuerfahnder über echte und vermeintliche Steuersünder her. Alles wegen dieser Indiskretion.»
«Die erst noch mit einem Millionenbetrag honoriert worden ist», sinnierte Matter. «Nimmt mich wunder, wie viel wir hier in Basel aufwerfen würden, wenn man uns die Hinterzieher so auf dem Silbertablett servieren würde, haha!»
«Nichts, will ich doch sehr hoffen», erklärte der Anwalt. «Das wäre die reine Hehlerei.»
«Ach wo!» Matter verwarf die Hände. «Ich begreife die deutschen Kollegen. Da muss man doch zugreifen.»
«So, so», sagte Kellenberger zum zweiten Mal.
Herbert Matter wurde ungeduldig. «Wie dem auch sei! Ich habe keine Angst. Wählen Sie irgendeine kleine Bank, für die sich niemand interessiert.»
Seine blauen Kulleraugen blickten am Anwalt vorbei in unbestimmte Fernen. Für ihn war Vaduz kein Problem. Kellenberger sagte: «Ich muss von Ihnen wissen, wer der Kontoinhaber sein soll. Sie selber oder Sie und Ihre Frau gemeinsam? Dann brauche ich eine beglaubigte Kopie Ihres Passes. Und schließlich benötige ich eine genaue Schilderung, woher die Mittel stammen, die Sie bei der Bank anlegen wollen.»
Matter antwortete in fröhlichster Laune. «Um hinten anzufangen: Über die Herkunft der Mittel müssen Sie sich etwas einfallen lassen. Eine Erbschaft vielleicht, erfolgreiche Geschäfte im Ausland, eine Schenkung, was weiß ich. Die Passkopie schicke ich Ihnen, und das Konto soll zunächst auf mich persönlich lauten.»
«Die Bank kann Belege für die Herkunft der Mittel verlangen.»
«Sie sind der Anwalt, Herr Doktor.»
«Aber Sie werden Geschäftspartner der Bank, nicht ich. – Und ich denke, wir sollten einen Darlehensvertrag abschließen.»
«Nein, das werden wir nicht», erwiderte Matter. «Es ist nicht nötig. Wir haben gemeinsame Interessen.»
«Und welche Garantie habe ich, dass die ominöse Meldung der Steuerverwaltung von Vaduz aus Ihren Akten verschwindet?»
«Keine, Herr Kellenberger, keine.» Matter lachte wieder. «Sie werden mir wohl oder übel vertrauen müssen.»
Der Anwalt wusste, dass er ihm vertrauen musste. Als Matter gegangen war, überprüfte Kellenberger seine eigenen Alternativen. Er konnte den Wohnsitz kurzfristig ins Ausland verlegen und seine Guthaben – vor der Zahlung an Matter – ebenfalls woanders hin übertragen, nach Mauritius, Dubai, Singapur, auf die Bahamas oder ganz einfach nach London. In Krakau kannte er eine Verlagslektorin, die perfekt Deutsch sprach, in Perpignan einen Transportunternehmer, und in Vilnius saßen seine Klienten aus dem internationalen Finanzbereich. Sie alle würden ihm gerne helfen. Sein Haus in Basel war – als Spätfolge seiner Scheidung – so hoch mit Hypotheken belastet, dass er es ohne Bedauern verlassen und dem Zugriff der Steuerbehörden überlassen konnte. Er brauchte im Ausland nicht einmal unterzutauchen. Einfache Steuerhinterziehung galt in der Schweiz immer noch nicht als Straftat. Strafbar war erst der Steuerbetrug, also etwa das Fabrizieren falscher Dokumente zur Irreführung der Behörden. Davon war jedoch keine Rede; dass er Plus-Minus nicht deklariert hatte, reichte bei weitem nicht für den Vorwurf des Betrugs.
Dennoch beschloss er, in Basel zu bleiben. Es war die Stadt seiner Kindheit. Er liebte den Blick über den Rhein mit seinen trägen Wellen und auf den Messeturm am Horizont des anderen Ufers. Er liebte seine gelegentlichen Gänge durch die Stadt, den «Goldenen Sternen», seine Stammkneipe an Fluss, das Gewimmel der Menschen, die er nicht kannte, die Vielfalt an Sprachen und Völkern und die farbenprächtigen Gewänder der Afrikaner und Muslime, die jetzt im Frühling im Stadtbild wieder überhandnahmen. Und auf die paar Freunde, die ihm geblieben waren, mochte er keinesfalls verzichten. Ihre Gespräche, wenn sie gelegentlich abends zum Essen ausgingen, bewegten sich an der Oberfläche. Höchstpersönliches wurde kaum angesprochen, und so brauchte er von sich auch nichts preiszugeben.
Davon ausgenommen war natürlich sein Freund Kurt. Er lebte im Mittelland auf einer Anhöhe mit wunderschöner Aussicht auf die Dörfer, in der Ferne die Autobahn und weit hinten am Horizont die Bahn. Sein Haus hatte er perfekt eingerichtet; es hätte jeder Zeitschrift für schöneres Wohnen zur Ehre gereicht. Und seinen Garten pflegte er so liebevoll, dass kein Efeu und kein Unkräutlein sich in den kurzgeschorenen Rasen verirrten. Ihre Freundschaft bewährte sich seit gut dreißig Jahren, als sie gemeinsam im Militärdienst litten. Kurt kannte alle seine Schwächen, Kellenberger die seinen, und Kurt riet ihm dazu, sich trotz seiner unangenehmen Erfahrung mit Helen wieder nach einer Frau umzusehen.
Bei der Universal Bank kannte der Jurist seit langem den Generaldirektor Peter Danuser. Als er ihm telefonisch Matter als neuen Kunden anzeigte, klagten sie zunächst einträchtig über die Arglist der deutschen Behörden. Aber die Universal Bank sei nicht gefährdet, versicherte Danuser. Ihr Personal sei sorgfältig ausgewählt, sehr gut bezahlt und habe keinen Grund, die Bank oder deren Kunden zu verraten. Er lasse ihm sofort die notwendigen Dokumente für Herrn Matter zustellen.
Kellenberger wusste, dass es keine Rückfragen geben würde, wenn er Danuser alles sauber ausgefüllt zurücksandte. Beim Fragebogen setzte er als Matters Beruf «Steuerexperte» ein. Die Herkunft von dessen Mitteln umschrieb er mit «sehr erfolgreiche Betätigung im Finanzbereich unter Ausnützung seiner fundierten Spezialkenntnisse»; und schließlich bestätigte er, Matter persönlich gut zu kennen.
Als alles bereit war, bestellte der Anwalt Matter in seine Kanzlei. Es war Abend, und sie waren allein. Kellenberger ließ ihn alle Formulare unterzeichnen und legte seinen Begleitbrief an Danuser dazu.
«Jetzt können Sie das Ganze versenden, und in zwei Tagen ist Ihr Konto bereit.»
Matter schüttelte den Kopf. «Schicken Sie die Originale an die Bank und einen Satz Kopien an mich.» Dann fügte er maliziös hinzu: «Und vergessen Sie nicht die Auszahlung des Darlehens.»
Als Matter gegangen war, blätterte Kellenberger die Dokumente nochmals durch. Beim Blatt «Unterschriftenregelung» hielt er inne. Er hatte Matter als einzigen Zeichnungsberechtigten eingesetzt, die drei Felder darunter waren leer. Einem Impuls folgend, ging er hinaus ins Sekretariat. Dort gab es zum Ausfüllen von Formularen noch eine altmodische Schreibmaschine mit Farbband und Walze. Er spannte das Blatt ein und setzte sich als zweiten Zeichnungsberechtigten ein. Dann fügte er seine Unterschriftenprobe bei, kopierte alle Dokumente und stopfte sie in die Umschläge. Er verließ das Büro und warf die beiden Sendungen in den nächsten Postkasten. Falls ihn Matter je darauf ansprechen sollte – der Anwalt glaubte es nicht –, würde er es als reinen Routinevorgang darstellen. Bei Auslandkonten sollte nie nur eine einzige Person unterschriftsberechtigt sein.
Seine Vermutung erwies sich als richtig. Matter hatte seine Kopien nicht angeschaut. Ihm ging es nur ums Geld, nicht ums Papier.
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Einige Tage später brachte die Post Matter die Bestätigung der Universal Bank, dass 3 850 000 Franken auf sein neues Konto einbezahlt worden seien. Die Bank schrieb dazu, sie offeriere gerne ihre Dienste bei der sorgfältigen Anlage seines Guthabens und stehe überhaupt jederzeit zu seiner Verfügung. Dem Anwalt hatte Peter Danuser eine Kopie geschickt und sich für die neue Geschäftsbeziehung bedankt. Es erwies sich bereits als nützlich, dass dieser ebenfalls unterschriftsberechtigt war. So erfuhr Kellenberger, dass Matter sich über seine zwei Millionen hinaus noch weitere Beträge zu erpressen verstanden hatte.
In derselben Post fand Matter neben den Bankmitteilungen die Todesanzeige über das Ableben seines Schulfreundes Sebastian Bogdan in London. Bogdan hatte ihm imponiert, weil er sich bei keiner Schurkerei erwischen ließ. Die Beisetzung war auf den kommenden Samstag angesetzt. Matter beschloss sofort, hinzureisen und das Wochenende mit seiner Freundin zu verbringen. Seine Frau orientierte er beim Mittagessen.
«Ich muss da hin. Ich reise Freitagabend und komme am Sonntag zurück.»
«Ich könnte dich begleiten. Es wäre schön, ein Wochenende mit dir in London.»
Matter schüttelte den Kopf. «Es werden etliche Schulkollegen dort sein. Man wird sicher nachher noch zusammen sein und Erinnerungen austauschen. Du würdest dich langweilen. Außerdem würde es glatt tausend Franken mehr kosten. So viel möchte ich für den guten Sebastian doch nicht ausgeben, haha.»
Er nahm die Karte, die in einer schönen kalligrafischen Schrift gedruckt war, am Nachmittag mit ins Büro.
Um siebzehn Uhr hörte er im Gang draußen die Schritte der Kollegen vom gleichen Stockwerk. Auf die Minute pünktlich verließen sie ihre Arbeitsplätze. Matter lehnte sich zurück. Er hielt nichts von dieser Eile am Feierabend. Jetzt war der Augenblick, da er seinen Gedanken freien Lauf lassen konnte.
Sein Blick fiel auf das Bild seiner Frau. Es gelang ihm, das Bild einer jungen Frau mit dunklen Mandelaugen und vollem langem Blondhaar in den Silberrahmen hineinzudenken. In einer halben Stunde würden sie sich treffen. Sylvia hatte Spanischunterricht; vor halb zehn würde sie nicht nach Hause kommen. Und jetzt, da ihm Geld in reichem Maß zur Verfügung stand, war es ohnehin an der Zeit, sich von ihr zu trennen. Sie war so bieder und langweilig geworden, und die Falten im Gesicht und am Bauch ließen sich mit allen Kosmetika – wie er diese Dosen und Tuben hasste, die überall im Bad herumstanden! – nicht wegzaubern. Und ihren Sohn hatte sie ebenfalls verdorben mit ihren ständigen Leitplanken und Richtlinien. Trotz seiner vierzehn Jahre weigerte sich Arnold hartnäckig, zu pubertieren. Er kiffte nicht und stellte nichts an. Wenn Leim auf den Stuhl des Lehrers geschmiert oder am Passat des Schulhausabwarts die Scheiben rosa gefärbt wurden, war Arnold nicht dabei. Seine Leistungen waren nicht gut und nicht schlecht, er wurde weder gescholten noch ausgezeichnet; es war, wie wenn es ihn gar nicht gäbe. Was immer an Persönlichkeit in ihm stecken mochte, verbarg er hinter einem scheuen, fast devoten Auftreten.
Herbert Matter schloss die Augen. Ich bin ein Glückspilz, dachte er, ich bin wirklich ein Glückspilz. Ich habe es ihnen gezeigt. Sollen die anderen statistische Größen bleiben, Material für Volkszählungen und Meinungsumfragen. Sollen sie weiterhin über Lohnerhöhungen um anderthalb oder zwei Prozent streiten. Ich fange jetzt an zu leben.
Dann dachte er: Bis es so weit ist, lebe ich unauffällig weiter wie bisher. Ich werde nicht mit Geld um mich werfen, höchstens manchmal ein Essen in einem der besseren Lokale. Heute Abend entscheidet sich, wie es weitergeht. Tanja wird sich freuen.
Tanja wartete auf Matter bei der letzten Tankstelle vor dem Grenzübergang ins Elsass. Das war jeden Mittwochabend ihr Treffpunkt, inmitten der französischen Grenzgänger, die mit ihren kleinen Renaults und Peugeots nach Hause fuhren. Dreizehntausend an der Zahl, wälzte sich ihr Zug jeden Morgen zur Arbeit nach Basel und jeden Abend zurück in die elsässischen Dörfer rund um die Grenze. Matter sah Tanjas blonden Schopf von weitem.
«Heute war er wieder unausstehlich», sagte sie, als sie die Zollstation hinter sich hatten. «Zwei Briefe waren schlecht formatiert, das Mailprogramm ist abgestürzt, ein Klient hat ihm das Mandat entzogen.»
Matter lachte. «Sei nachsichtig, mein Häslein. Kellenberger hat schwierige Zeiten hinter sich. – Heute Abend feiern wir, auf seine Kosten!»
«Hat alles geklappt?», fragte sie.
«Alles wie am Schnürchen. Alle drei haben bezahlt, die Bank hat heute die Bestätigung geschickt.»
Tanja lehnte sich an Matters rechte Schulter. «Du bist ein Genie», erklärte sie. «Mein Genie.»
Er legte die Rechte auf ihren Schenkel. «Dank dir, Häslein. Ohne deinen Tipp wären wir heute nicht so weit.»
«Der Tipp war ja unabsichtlich. Aber du musst mir alles erzählen.»
«Klar. Bei einem feinen Essen und einem guten Glas Wein.»
«Einverstanden.»
«Und am Wochenende reisen wir zusammen nach London, wenn du nichts Wichtigeres vorhast.»
«Oh?» Sie strahlte. «Ich liebe Überraschungen.»
Es war bereits warm an diesem Aprilabend, und die offene Landschaft empfing sie in sattem Grün. Auf den Feldern blühten der Löwenzahn und das Wiesenschaumkraut, die Riegelbauten glänzten in allen Pastellfarben; Herbert Matter spürte den Frühling, und mit Tanja neben sich vergaß er seine siebenundvierzig Jahre und sein unvorteilhaftes Gesicht. Früher hatte ihn seine Mutter immer zu trösten versucht, wenn er sich über sich beklagte. Ein Mann muss nicht schön sein, lautete ihre Devise; es genügt, wenn er ein bisschen weniger hässlich ist als der Teufel.
Er hatte im Restaurant Zur alten Schmitte reserviert. Das ehrwürdige Lokal war teuer und im Guide Michelin mit einem Stern ausgezeichnet. Matter bestellte eine Flasche Champagner, Moët Chandon, um auf ihre Zukunft anzustoßen.
Nach dem Essen, als die Dämmerung bereits einen blauen Schimmer über das Dorf, die Felder und die Bergrücken im Hintergrund warf, griff Matter in die Jackentasche. Er zog ein kleines Päckchen hervor und legte es auf den Tisch.
«Das ist für dich, mein Häslein. Du hast mir den Hinweis auf Plus-Minus AG gegeben, dein Chef hat gestanden und wurde weich wie Butter, als ich ihm die maximale Steuerforderung vorrechnete, haha.»
Tanja lachte. «Zusammen sind wir offenbar ein gutes Team.» Ihr Blick ruhte auf dem rostrot eingewickelten Päckchen. «Und die anderen beiden?», fragte sie.
«Es war reiner Zufall, dass ungefähr zur selben Zeit Hubers Frau ihren Mann denunzierte, aus reiner Wut, um ihm eins auszuwischen. Und Regenass», Matter schmunzelte, «habe ich in den Akten gefunden. Er ist ein Tölpel. Kann einem fast leidtun.»
«Und wie viel hast du jetzt insgesamt?»
«Drei Millionen achthundertfünfzigtausend.»
«Das tönt gut.» Tanja streckte die Hand nach dem Geschenk aus. «Darf ich es öffnen?»
«Klar, nur los!»
Matter schaute zu, wie Tanja das Geschenkpapier aufriss. Es erfüllte ihn mit Stolz, dass er in der Lage war, seiner Freundin etwas Wertvolles zu schenken. Er hatte am Nachmittag für eine Stunde sein Büro verlassen. Bei einer Bankfiliale hob er zehntausend Franken von seinem Konto ab. Dann ließ er sich im schönsten Juweliergeschäft Diamanten zeigen. Es erstaunte ihn, wie klein die Klunkerchen waren. Geduldig hörte er sich die Erklärungen des Fachmanns an, dann entschied er anhand des Preises. Ein wunderschönes Stück, bestätigte der Verkäufer; 1,2 Karat, vvs. Geeignet für einen Ring oder als Herzstück eines Anhängers.
«Oh, wie schön, Herbert!»
Tanja stand auf, ging um den Tisch, umarmte Matter und drückte ihm einen Kuss auf die Stirne.
«Es ist recht, wenn es dir gefällt. Wir können in Ruhe überlegen, was wir damit machen. Einen schönen Ring oder einen Anhänger.»
«Oder wir lassen ihn, wie er ist, als Kapitalanlage.» Sie ging zurück zu ihrem Platz. «Sag, Herbert – Diamanten steigen doch im Wert, oder?»
Matter zögerte; diese Frage hatte er dem Verkäufer nicht gestellt. «Wahrscheinlich schon. Warum?»
«Nur so. Ist ein Zertifikat dabei?»
«Natürlich. Unten in der Schachtel.»
Sie fand das Dokument und studierte es. «Was bedeutet vvs?», wollte sie schließlich wissen.
«Jeder Diamant hat gewisse Unreinheiten, die von bloßem Auge kaum sichtbar sind», begann Matter seine Erklärung, zufrieden über sein neu erworbenes Wissen. «vvs heißt, dass nur ganz, ganz winzige Unreinheiten vorhanden sind. Es ist eine der höchsten Qualitätsstufen.»
«Das ist sehr gut.» Sie verschloss die Schachtel und verstaute sie in ihrer Handtasche. «Und jetzt?»
Matter lachte scheppernd. «Jetzt gehen wir zu dir. Hast du keinen Appetit?»
Tanja antwortete nicht gleich. Sie blickte ihn an, prüfend, wie ihm schien. Ihr Mund war zu einem Strich zusammengepresst. Endlich sagte sie:
«Wir werden uns wohl wieder beeilen müssen. Damit du vor deiner Frau zu Hause bist.»
«Nicht mehr oft. Noch zwei Tage, dann fliegen wir nach London, ungestört ein ganzes Wochenende lang.»
«Und danach?»
«Ich trenne mich von Sylvia.»
«Weiß sie es schon?»
«Nein, noch nicht.»
«Und wann willst du es ihr sagen?»
«Wenn wir von London zurück sind.»
«Aha.» Dann fügte sie mit einem kleinen Schmunzeln bei: «In London kaufe ich dir eine schöne Krawatte.»
Am Freitagnachmittag, als Herbert Matter sich gut gelaunt anschickte, das Büro zu verlassen, beschäftigte sich sein Chef, Konrad Nägeli, noch intensiv mit seinen Amtspflichten. Als Abteilungsleiter Veranlagung oblag es ihm, von Zeit zu Zeit stichprobenweise die Steuerveranlagungen der ihm unterstellten Beamten zu überprüfen. Ohne besonderen Grund wählte er Matters Bereich. Er rief die zuletzt bearbeiteten Dossiers auf und gelangte so zu Huber, Regenass und Kellenberger. Bei allen fand sich Matters Genehmigungsvermerk; bloß die Steuerbeträge mussten noch errechnet und die Steuerrechnungen ausgefertigt und versandt werden.
Konrad Nägeli vertiefte sich in die elektronischen Akten. Bei Kellenberger fand er eine Notiz Matters «Vaduz überprüfen», aber keinen Hinweis, ob die Überprüfung stattgefunden hatte. Das Dossier Huber enthielt im Aktenverzeichnis den Hinweis auf den Eingang eines Briefes der Ehefrau Huber vom 7. März. Der Brief selber war nicht eingescannt; Nägeli würde ihn am Montag von Matter anfordern. Interessant war der Fall Paul Regenass. Nägeli verglich die beiden letzten Steuererklärungen und stellte sofort fest, dass Regenass im vergangenen Jahr angeblich bloß rund zwanzigtausend Franken für den Lebensunterhalt seiner Familie – ein Ehepaar und zwei Kinder – aufgewendet hatte. Jeder Laie musste erkennen, dass das nicht stimmen konnte.
Kopfschüttelnd schloss Konrad Nägeli die drei Dossiers. Matter war ein äußerst pflichtbewusster und sachkundiger Beamter. Nach fast zwanzigjähriger Zusammenarbeit betrachtete Nägeli ihn als Freund. Dennoch würde er am Montag einiges zu erklären haben.
Am Freitagabend bestand Sylvia darauf, Matter zum Flughafen zu fahren. «Wenn ich dich schon das ganze Wochenende nicht habe», erklärte sie. In der großen Halle mit den Check-in-Schaltern sah er von weitem Tanja; sie entdeckte ihn im gleichen Augenblick. In der Tasche trug er die Flugtickets für beide. Tanja machte ein paar Schritte in seine Richtung, dann hielt sie inne. Wahrscheinlich hatte sie erkannt, dass die rundliche Dame mit dem strengen Haarschnitt zu ihm gehörte. Um sein Entsetzen unter Kontrolle zu bringen, richtete er den Blick auf die Anzeigentafel mit den Flugbewegungen. Bei seinem Flug stand eine Anzeige: eine halbe Stunde Verspätung. Das war Matters Rettung.
Er wandte sich seiner Frau zu. «Schau, wie sich das trifft! Jetzt haben wir Zeit für einen Abschiedstrunk. Den Koffer gebe ich nachher auf.»
Im Lift nach oben zum Restaurant erkundigte sich Sylvia: «Warum fliegst du eigentlich nicht mit EasyJet? Das wäre doch viel billiger.»
Matter winkte mit einer großen Geste ab. Den Mittagsflug habe er nicht nehmen können, weil er im Amt stark beansprucht war. Und der nächste Flug morgen Vormittag kam nicht in Frage, weil er damit die halbe Beerdigung verpasst hätte. Also Swiss, leider. Dass er Business Class gebucht hatte, verschwieg er.
Im Restaurant fanden sie einen Tisch beim Fenster mit Blick aufs Flugfeld. Sie bestellten Getränke, Matter ein Bier und Sylvia einen Pfefferminztee. Er erhob sich.
«Entschuldige mich einen Augenblick. Ich muss zur Toilette.»
Mit seinen kleinen, energischen Schritten eilte er den Gang zurück, durch den sie gekommen waren. Die Türen zu den Toiletten befanden sich links, gleich neben dem Aufzug. Es dauerte nur Sekunden, bis sich die Lifttür öffnete und drei übermütige Burschen und ein kicherndes Mädchen mit roter Cherokeefrisur entließ. Matter fuhr nach unten und suchte die Halle ab. Tanja stand am Auskunftsschalter der Swiss. Sie lachte, als er zu ihr trat und ihr einen Kuss auf die Wange drückte.
«Deine Frau, nehme ich an», sagte sie.
«Ja, sie wollte mich unbedingt begleiten.»
Tanja strich ihm über sein schütteres Haar. «Du Armer! Ich verstehe jetzt, dass du dich von ihr trennen willst.»
Matter war nervös. «Ich muss zurück. Hier ist dein Ticket. Setz dich in die Lounge. Ich komme, sobald Sylvia verschwunden ist.»