Kitabı oku: «Die Steuersünder», sayfa 3
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Die Weltstadt London glänzte wie neu, als Herbert Matter mit seiner Geliebten eintraf. Die Abendsonne warf lange Schatten; sie fuhren mit der Schnellbahn an putzigen neuen Reihenhäuschen mit winzigen Vorgärten und spiegelnden Fensterscheiben vorbei, dazwischen Werkstätten, Garagen und viel Schrott. Ein Kran verschob lautlos Metallträger, im Hintergrund zog gemächlich die Themse.
Ein Taxi brachte sie von der Endstation zum Old Hampshire Hotel. Matter fragte den Fahrer in hölzernem Englisch, ob sich zu dieser Jahreszeit viele Touristen in London aufhielten; mehr fiel ihm nicht ein. Sehr viele Touristen, lautete die Antwort, und zwar zu jeder Jahreszeit. Tanja erkundigte sich, ob Matter seiner Frau den Namen ihres Hotels genannt habe. Ja, es wäre unnatürlich gewesen, das nicht zu tun. Dann werde sie gewiss im unpassendsten Augenblick anrufen. Matter lachte: «Dann lassen wir es einfach läuten, wenn es uns nicht passt!»
Im Hotelzimmer dämpften lange Tüllvorhänge das letzte Tageslicht. Ein hohes Doppelbett, überzogen mit einer rostfarbenen Brokatdecke, erinnerte ans vorletzte Jahrhundert, ebenso der unförmige Nussbaumschrank. Aber das Bad war neu eingerichtet. Nicht ohne Stolz musterte Matter den hellen Travertinboden und die großen, weißen Kacheln, welche die Badewanne und eine geräumige Dusche umgaben. Ob es ihr gefalle, wollte er von Tanja wissen. Ja, und sie freue sich sehr, ein wenig durch die Stadt zu bummeln, es sei vier Jahre her seit ihrem letzten Besuch in London.
«Sofern wir Zeit und Lust haben zum Bummeln», meinte Matter.
«Ich kann alleine bummeln, während du zur Beerdigung gehst.»
Matter schüttelte den Kopf. «Eigentlich hatte ich im Sinn, auf die Beerdigung zu verzichten. Der gute Bogdan hat nichts davon, wenn ich seinen Nachrufen zuhöre, haha.» Er trat zu Tanja und fasste sie an den Schultern. «Zusammen haben wir es viel schöner, glaubst du nicht?»
«Natürlich», sagte Tanja und drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Stirne. «Aber du solltest trotzdem hingehen. Es werden Leute dort sein, die dich kennen. Wenn du nicht erscheinst, wird sich das herumsprechen.»
Sie entwand sich behutsam Matters Griff. «Ich hatte vor, mich jetzt ein wenig zu erfrischen, für den Fall, dass wir nachher ausgehen.»
Er sah an Tanja vorbei und erblickte sich im Spiegel. Sein rundes Gesicht glänzte, und hinter der linken Schläfe stand ein Haarbüschel unvorteilhaft ab. Aus den Nasenlöchern ragten schwarze Härchen, dafür wuchsen ihm praktisch keine Brauen über den Augenwülsten. Über dem Bauch spannte die Jacke, die er noch nicht abgelegt hatte. Herbert Matter gefiel sich nicht, und seine Stimmung schlug um in eine milde Depression.
«Du hast recht», sagte er. «Ich überlasse dir jetzt das Bad.»
Seit langem hatte er sich in den Kopf gesetzt, Alpakas zu züchten. Dass er nichts von Alpakas verstand, keine Ahnung hatte, wie man Weideland bewirtschaftete, kümmerte ihn wenig. Das Nötigste konnte er lernen, man konnte Fachkräfte anstellen, Geld war ja kein Problem. Ein Freund hatte von Neuseeland geschwärmt; es sei wie die Schweiz, sauber, mit Schneebergen, Weiden mit Vieh, mehr Schafe als Kühe, und eben Alpakas. Sie waren robust, vertrugen jedes Klima und brachten erst noch Geld ein. Und Neuseeland war weit genug entfernt von Basel, von Sylvia und seinem Sohn, den sie verdorben hatte, und von der Steuerverwaltung und den drei Tölpeln mit ihren Darlehen.
Diese Überlegungen unterbreitete er Tanja beim Abendessen im «Bibendum», während sie auf das Rindsfilet warteten. Der Rotwein, ein argentinischer Malbec, nahm allen schwierigen Gedanken die Härte, und Matter war von seinen Argumenten derart begeistert, dass ihm undenkbar erschien, Tanja könne von seinen Plänen nicht überzeugt sein. Sie schwieg, und ihre Augen verrieten nicht, was sie dachte. Im Dämmerlicht erschien ihm ihr Haar wie ein goldener Kranz, ihr Gesicht darunter wie das Antlitz einer Königin. Endlich sagte sie:
«Kennst du jemanden in Neuseeland?»
«Nein», erwiderte er. «Aber man kann überall Leute kennenlernen.»
«Und den Ort hast du schon ausgesucht?»
«Noch nicht. Ich will mir alles zuerst ansehen. Es gibt auch eine Alpaka-Vereinigung.» Matter unterbrach sich, unsicher, wie viel Tanja überhaupt über Alpakas hören mochte. Er fuhr fort: «Die ersten Alpakas wurden 1986 aus Chile nach Neuseeland exportiert. In Südamerika hat man sie schon vor 6000 Jahren domestiziert. Ihre Wolle ist wertvoll, sie brauchen wenig Pflege und sind gutmütig.»
Jetzt lachte Tanja hell und unbeschwert. «Entschuldige, Herbert, aber an die Vorstellung von dir in blauen Latzhosen, wie du deine gutmütigen Tiere fütterst, striegelst oder was sonst man mit ihnen macht, muss ich mich erst gewöhnen. Verstehst du das ein wenig?»
«Ja und nein.» Matter zögerte verunsichert. «Ich stelle mir vor, dass wir das alles gemeinsam erkunden. Danach wissen wir mehr und können Entscheidungen treffen.»
«Herbert, du bist ein Träumer», sagte Tanja leise. «Ich mag das an dir.» Sie legte ihre Hand auf seine. «Aber ich habe eine Stelle und kann nicht von einem Tag auf den anderen verschwinden.»
«Die Stelle kannst du aufgeben. Wir haben jetzt genug Geld.»
«Du hast genug Geld», berichtigte sie.
«Es ist für uns», erklärte Matter. «Ich habe bereits ein Vollmachtsformular angefordert, damit du auch darüber verfügen kannst.»
«Und du? Deine Familie, deine Stelle?»
Matter fasste Tanjas Hand. «Ich hoffe, du wirst meine Familie. Von Sylvia trenne ich mich, das habe ich dir bereits gesagt. Und meine Stelle kündige ich zur Jahresmitte. Mit meinen Ferien und Überzeitguthaben kann ich vor Ende Mai aufhören im Amt.»
«Was machen deine Opfer, wenn du einfach von der Bildfläche verschwindest?»
«Sie werden mich verfluchen, was sonst.» Matter lachte sein lautes Lachen, und die Gäste am Nachbartisch drehten sich um.
«War das ein Antrag vorhin?», fragte Tanja. «Habe ich richtig gehört?»
«Ja, natürlich», erwiderte Matter. Er fühlte sich unbequem. Gespräche über Liebe und Zuneigung erschreckten ihn; man konnte falsch verstanden oder gar zurückgewiesen werden. Mit Sylvia redete er schon seit Jahren nicht mehr über solche Dinge.
Jetzt brachte der Kellner das Hauptgericht und goss Wein nach. So verschob sich das delikate Thema wie von selbst auf einen späteren Zeitpunkt. Das Fleisch war innen zartrosa, ganz wie es sein sollte.
«Vortrefflich», sagte Matter.
«Allerdings», erwiderte Tanja.
Später beim Nachtisch, als der Wein fast ausgetrunken war, sagte Tanja: «Ich weiß nicht, ob ich einfach so mit dir nach Neuseeland verschwinden kann. Seit meiner Scheidung vor drei Jahren bin ich unabhängig und auf mich gestellt. Das ist manchmal schwierig, hat aber auch Vorteile. Die paar Bekannten, die ich habe, leben in oder bei Basel; ich möchte sie eigentlich nicht verlieren. Und was ist, wenn du eines Tages genug hast von mir?»
«Oder du von mir?», fragte Matter zurück.
Darauf ging Tanja nicht ein. Aber sie fragte: «Warum willst du eigentlich ausgerechnet nach Neuseeland? Nur wegen der Alpakas?»
«Nein!», rief Matter, wieder ein wenig zu laut. «Ich habe genug! Genug von Basel, von Sylvia, vom Fischmarkt, von allem. Das führt doch alles nirgends hin. Immer dieselben Tage, dieselben Gesichter, dieselben Sprüche der Kollegen. Zu Hause wird auch alles immer enger. Sylvia und ihr Haushalt! Arnold braucht neue Hosen. Der Geschirrspüler muss repariert werden. Rita hat angerufen, sie probiert eine neue Diät aus. Die Fahrräder dürfen nicht mehr im Treppenhaus abgestellt werden. Und so weiter, und so weiter! Ich brauche einen totalen Tapetenwechsel, ein neues Leben. Alpakas sind faszinierende Tiere. Pflegeleicht, freundlich. Und Neuseeland ist sauber und zivilisiert, bietet alles, was man braucht.»
«Und deine Freunde?», fragte Tanja. «Willst du die einfach so aufgeben?»
Matter zögerte. «Ich weiß nicht, ob ich Freunde habe. Eher Kollegen. Man kann schreiben …»
«Und dein Sohn?»
«Arnold? Der macht sich nichts aus seinem Vater. Und die Mutter verwöhnt ihn wegen einer kleinen Behinderung. Er wird mich nicht vermissen.»
«Wirst nicht du ihn vermissen?»
«Ich weiß es nicht.»
Tanja schüttelte den Kopf. «Mir scheint, du willst flüchten. Vor deinem bisherigen Leben, vor deiner Familie, vor dir selber. Aber dich hast du immer und überall dabei.»
Herbert Matter lachte wieder. Der kritische Unterton in Tanjas Bemerkung entging ihm. Er sagte: «Wenn du dabei bist, macht es mir nichts aus.»
Am Sonntagabend holte ihn Sylvia am Flugplatz ab. Er hatte Tanja gebeten, vor ihm durch die Passkontrolle zu gehen, und versprochen, sie am Montagabend anzurufen. Sylvia entdeckte ihn sofort, als er durch die Milchglastür trat. Sie umarmte ihn und küsste ihn auf den Mund.
«Du hast eine neue Krawatte», stellte sie fest, während sie zum Ausgang schritten.
«Ja.»
«Gefällt mir. Passt gut zu deinem Hemd.»
Später entdeckte Sylvia den roten Priority-Kleber am Koffergriff. «Bist du Business Class geflogen?», fragte sie ungläubig.
Er folgte ihrem Blick zum Koffer. «Ah, das», meinte er. «Man hat mir ein Upgrade gegeben in London, weißt du.»
«Da ist es dir aber gut ergangen!»
«Die Sitzanordnung ist gleich wie hinten. Nur das Essen ist besser.»
«Hm.» Sylvia zögerte. «Du warst offenbar viel unterwegs. Ich habe dreimal versucht, dich anzurufen. Und das Handy war ausgeschaltet. Du hättest mich einmal anrufen können.»
Matter widersprach. «Die Batterie war am Ende, und ich habe das Ladegerät zu Hause vergessen. Wir waren unser sechs gestern Abend. Nach Mitternacht wollte ich dich nicht wecken, verstehst du.»
Während sie zum Parkplatz schritten, überlegte er krampfhaft, wie er Sylvia seinen Entschluss möglichst schonend beibringen konnte.
Am Montagmorgen bat ihn sein Chef zu einer kurzen Besprechung. Das Büro des Abteilungsleiters war geräumig; an der Wand gegenüber dem Fenster hing eine Lithografie von Niklaus Stöcklin, und in der Ecke machte sich ein Gummibaum mit dunkelgrün glänzenden Blättern breit. Sie setzten sich an den großen Besprechungstisch. Matter war bedrückt; für heute Abend hatte er das Gespräch mit Sylvia geplant. Nägeli, zweiundfünfzig, strahlte Kraft und Energie aus. Man sah ihm den ehemaligen Spitzenhandballer an. Unter seinem silbergrauen Bürstenhaarschnitt funkelten wache, braune Augen; jetzt gerade waren sie prüfend auf Herbert Matter gerichtet.
«Wie war London?», erkundigte er sich freundlich.
«Tolle Stadt», brummte Matter. «Die Abdankung fand in einer alten Basilika statt, gut zweihundert Leute. Viele Kollegen, die ich seit der Jugend nicht mehr gesehen habe.»
«Ja, so geht das, wenn man älter wird. Man trifft sich immer häufiger bei Beerdigungen. – Aber jetzt zur Sache», sagte Nägeli. «Ich habe am Freitag ein paar Akten überprüft. Da sind Fragen aufgetaucht, die du sicher beantworten kannst.»
Matter runzelte die Stirn. «Ja?»
Konrad Nägeli zählte die drei Dossiers auf, erkundigte sich nach dem Vermerk über Vaduz und dem Brief der Ehefrau Huber, fragte ungläubig, ob Herbert denn bei Regenass nicht die Verbrauchsrechnung überprüft habe. Matter schloss die Augen wie um nachzudenken. Milde Panik breitete sich in ihm aus. Dann lehnte er sich zurück.
«Alles der Reihe nach», begann er. «Natürlich ist mir die wundersame Vermehrung des Vermögens von Herrn Regenass aufgefallen. Er bekommt eine amtliche Veranlagung, die sich sehr von seiner eigenen Steuererklärung unterscheiden wird.»
«Dann ist ja gut», sagte Nägeli.
«Nun Kellenberger. Ich prüfe noch, ob er von einer Liechtensteiner Gesellschaft Honorare bezogen hat, die er uns nicht deklariert hat. Aber ein Schreiben von Frau Huber habe ich nicht in den Akten.»
«Warum ist es denn im Verzeichnis vermerkt?»
Matter zuckte die Achseln. «Ich weiß es nicht. Vielleicht liegt es noch bei einem anderen Sachbearbeiter. Immobilien vielleicht.»
Sein Chef machte eine Pause. Mit den Fingern trommelte er auf das Tischblatt. Endlich sagte er: «Warum hast du denn alle drei Dossiers als genehmigt abgehakt, Herbert? Das geht doch nicht auf!»
«Reine Routine, glaube ich», erklärte Matter lahm. Er fühlte, wie ihm in den Achselhöhlen Schweiß ausbrach. «Es war an einem Abend nach Arbeitsschluss, als ich die drei Fälle bearbeitete. Ich hatte viel um die Ohren. Ich muss die Akten abgehakt haben, ohne zu denken. Tut mir leid.»
Nägeli nickte bedächtig. Matters Antworten klangen nach Ausflüchten. «Ich hoffe sehr, dass es nur das ist, Herbert», sagte er leise. «Berichte mir, wie es weitergeht, bei allen drei bitte.»
«Klar, mache ich.»
Matter zog sich zurück, versuchte zu grinsen, während er noch unter der Tür stand, aber es geriet ihm zu einer kläglichen Grimasse. Der Tag war verpfuscht. Wieder in seinem eigenen Büro, schaltete er das Besetztlämpchen an der Tür ein und legte die Füße auf sein Pult. Jetzt nur nicht den Kopf verlieren. Kellenberger konnte er retten, Huber möglicherweise auch, aber Regenass musste er eine saftige Rechnung ins Haus schicken. Was dann geschah, war nicht auszudenken. Dabei war London in schönster Harmonie ausgeklungen. Tanja würde ihn auf die Erkundungsreise nach Neuseeland begleiten; und es schien, als empfinde sie echte Gefühle für ihn.
Und heute Abend musste er Sylvia beibringen, dass es aus war.
6
Seit drei Tagen lebte Matter in einem kleinen Stadthotel nicht weit vom Zentrum. In einem Rollkoffer und einer Tasche hatte er das Notwendigste mitgenommen. Er musterte den Inhalt der Minibar, dann verstaute er seine Wäsche in einer Schublade. Aus seinem Fenster im zweiten Stock sah er, wie sich die grünen Straßenbahnen in beiden Richtungen stauten; eine Greisin an Stöcken wartete minutenlang, bis ein Hilfspolizist sie am Arm fasste und aus der Gefahrenzone geleitete. Matter schauderte beim Gedanken, eines Tages ebenfalls alt zu werden. Wenn schon alt werden, dann wenigstens stilvoll und in Würde. Die Mittel dazu besaß er jetzt, Gott sei Dank.
Sobald er sich in einem Hotel befand, überkam ihn stets eine gewisse Erregung, eine unbestimmte Sehnsucht nach Neuem, ein Drang, in die Welt auszuschwärmen zu fremden Menschen, Städten, Landschaften. Daran änderte auch die Ernüchterung nichts, wenn er auf Mallorca regelmäßig um einen Sonnenschirm am Strand kämpfen musste und die neuen Bekannten kleine Ladenbesitzer aus Bochum oder Wanne-Eickel waren. Ein Hotel, selbst seine schlichte Absteige in Basel, war der Ausgangspunkt für aufregende Abenteuer, für alles, was ihm seine Träume einflüsterten. Herbert Matter freute sich auf die Reise nach Neuseeland mit Tanja, auf die Suche nach Land für seine Alpakazucht, auf den Abschied von vielen Jahren langweiligem Erwerbsleben als kleiner Beamter. Bei der Universal Bank hatte er angeordnet, alle Post banklagernd zurückzubehalten. Außerdem hatte er Tanja Goldstein unbeschränkte Vollmacht erteilt, über sein Konto zu verfügen.
Dass die Information über diese Vollmacht zu ihm gelangte, verdankte Michael Kellenberger einem Zufall. Mit Generaldirektor Danuser von der Bank führte er ein Telefongespräch über eine komplizierte Transaktion, die innerhalb von vierundzwanzig Stunden für seine litauischen Klienten durchgeführt werden musste. Am Schluss, als alles klar war, sagte Danuser:
«Übrigens, die Vollmacht ist eingetroffen.»
«Welche Vollmacht?», fragte der Anwalt, ahnungslos.
Danuser entschuldigte sich für den abrupten Themenwechsel. «Ich spreche vom neuen Konto, das wir für Ihren Klienten Matter eröffnen durften, von der Vollmacht für Frau Goldstein. Ich finde es klug, dass in Ihrer Kanzlei noch jemand über das Konto verfügen kann. Es handelt sich doch um eine beträchtliche Summe. Und Ihre Assistentin ist ja eine kompetente Vertrauensperson.»
Kellenberger fand kaum Zeit, sich zu fassen. Tanja saß draußen im Sekretariat und tippte seine Korrespondenz. Auf seinem Pult stand der Morgenkaffee, daneben lag die Zeitung, in die er noch keinen Blick geworfen hatte. Und da kam Danuser und eröffnete ihm, dass Tanja Vollmacht über das Konto des Erpressers Matter führte. Er erwiderte vage: «Ja, da haben Sie recht, Herr Danuser.»
Nachher saß er reglos an seinem Schreibtisch und brütete über den Abgrund, der sich vor ihm aufgetan hatte. Normalerweise half ihm der Blick durchs Fenster auf den Rhein, seine Gedanken zu ordnen. Wenn sich die Sonne in den kleinen Wellen spiegelte, wenn ein Lastkahn flussaufwärts zog, kamen ihm die besten Ideen für die Probleme seiner Mandanten. Heute jedoch sah er durch den Fluss hindurch bis ans dunkle Ende der Welt. Tanja, das Luder! Zwischen Matter und ihr musste eine enge Beziehung bestehen. Sie war geschieden wie ihr Chef, auf sich selber angewiesen und entschlossen, nicht unterzugehen. Sie war fünfunddreißig, hübsch, liebenswürdig und gescheit. Ihr Anblick erfreute ihn, besonders wenn sie ihr blondes Haar offen trug. Über Privates sprachen sie kaum je, und als Frau war sie für ihn tabu, obwohl ihn manchmal angenehme Tagträume heimgesucht hatten. Und jetzt dies! Den Hintern sollte man ihr versohlen. Mit einem Riemen, wie ihn sein Vater manchmal benützt hatte.
Natürlich kannte Tanja seine sämtlichen Akten. Auch Plus Minus ag. Was, wenn Matter gar keine Meldung von der Fürstlichen Steuerverwaltung in Vaduz erhalten hatte? Wenn Tanja ihn darauf aufmerksam gemachte hatte? Dann wäre sie die eigentliche Urheberin von Matters Plan, Steuersünder zu erpressen. Allerdings wusste Kellenberger nichts über die Umstände der weiteren Einzahlungen auf das Konto bei der Universal Bank. Vielleicht hatte erst seine Situation Matter auf den Geschmack gebracht, nach weiteren Opfern zu suchen?
Bald war ihm klar, dass er eine Entscheidung zu treffen hatte. Aber welche? Weiterfahren, wie wenn nichts geschehen wäre, kam nicht in Frage. Sollte er mit Matter reden? Oder mit Tanja? Tanja entlassen? Mit der Vollmacht sein Geld wieder von Matters Konto abziehen und sich ins Ausland absetzen? Mit den zwei Millionen und dem, was sich noch auf dem Konto von Plus-Minus befand, ließ sich überall ein sorgenfreies Leben einrichten. Aber der Bank gegenüber war Matter sein Klient. Und Anwälte vergreifen sich im Allgemeinen nicht am Vermögen ihrer Klienten.
Es schauderte ihn beim Gedanken an einen derartigen Verstoß gegen sein Berufsethos und was sich Danuser dabei denken würde. Andererseits gehörten die zwei Millionen ihm, Matter hatte sie ihm unrechtmäßig abgenötigt. Am Ende bremste dieselbe Erkenntnis seinen Gedankenflug, die ihn bereits vor drei Wochen veranlasst hatte, Matters Erpressung nachzugeben: Michael Kellenberger lebte gerne in Basel, er liebte seine Stammkneipe Zum goldenen Sternen und er war nicht bereit, sich aus seiner Stadt vertreiben zu lassen. Wie er mit Tanjas Verrat umzugehen hatte, wusste er deswegen allerdings noch immer nicht.
Herbert Matter hatte, zumindest vorübergehend, wieder zu seinem unbeschwerten Optimismus zurückgefunden. Sylvia hatte seinen Auszug erstaunlich gefasst aufgenommen. Sie hatte vorgeschlagen, nach ein paar Monaten zu überprüfen, ob ihre Ehe wirklich nicht zu retten sei. Natürlich dachte er in seiner jetzigen Verfassung nicht daran, Rettungsversuche zu unternehmen. Im Amt ließen sich mit etwas Glück drei Wochen herausschinden, bis er Nägeli zur Akte Regenass Resultate vorweisen musste. Das Osterwochenende stand bevor, und Matter wusste, dass sein Chef für diese Zeit zwei Wochen Ferien auf einer Südseeinsel geplant hatte.
Er fing an, sich um die Anlage seines Vermögens zu kümmern. Der Einblick in die Vermögensverhältnisse vieler Steuerpflichtiger – seine Kunden nannte er sie – hatte ihm gezeigt, mit welchen Investitionen Geld zu verdienen war. Obligationen kamen nicht in Frage; sie waren langweilig, ihr Ertrag mickrig. Aktien versprachen da mehr Gewinn, aber nur auf lange Sicht. Es gab immer wieder Ausreißer, und kurzfristig waren Verluste nicht ungewöhnlich.
Aber Matter hatte keine Zeit, und er war ungeduldig. Seine Alpakazucht lockte ihn. Er hatte bereits per Mail mit der Züchtervereinigung in Wellington Kontakt aufgenommen. Die Auskunft war ermutigend: Es gab reichlich gutes Land, die Tiere gediehen hervorragend in Neuseeland, und der Bedarf nach ihrer Wolle und ihren Fellen, aber auch nach geeigneten Zuchttieren, stieg laufend an. Am besten wäre, Herbert Matter käme persönlich vorbei; das Sekretariat verfüge über alle einschlägigen Informationen, und der Vereinspräsident würde sich freuen, einen Schweizer mit Mut und Pioniergeist kennenzulernen.
Am Dienstagabend der Karwoche saß Matter in der Gaststube seines Hotels, vor sich ein kaltes Weizenbier, und studierte Finanzzeitschriften und den Wirtschaftsteil der «Neuen Zürcher Zeitung». Niemand kannte ihn, niemand störte ihn, und im Lokal wurde nicht geraucht. Er hatte seine Jacke über die Stuhllehne gehängt, den Krawattenknopf gelockert und den obersten Hemdenknopf geöffnet, eine Freiheit, die ihm seine Eitelkeit sonst nicht gestattete. Allmählich kristallisierte sich eine Anlagestrategie heraus, die ihm vielversprechend erschien.
Zufrieden lehnte er sich zurück und gönnte sich einen großen Schluck Bier. Er spürte, wie die Kühle sich langsam in ihm ausbreitete. Eins mit sich und der Welt dachte er an seine Alpakas; in Gedanken wuchs seine Herde bereits auf Hunderte von Tieren an, und schon ein einziges gesundes männliches Jungtier brachte mehrere tausend Dollar ein. Er sah sich auf dem Jeep seine Weiden abfahren, für die Pflege der Tiere würde es Angestellte geben. Herbert Matter hatte nicht im Sinn, wie Tanja es ausgedrückt hatte, in blauen Latzhosen seine Tiere selber zu striegeln und was sonst noch mit ihnen zu tun war.
Am Gründonnerstag, kurz vor Büroschluss, rief ihn Dr. Huber an. Matter hatte seine Akten bereits weggeschlossen und den Computer heruntergefahren. Die Stimme des Arztes vibrierte und klang noch spitzer, als er sie von seinem Gespräch in der Praxis her in Erinnerung hatte.
«Ich muss Sie sprechen, so rasch wie möglich.»
«Was ist geschehen, Herr Huber?», fragte Matter ungeduldig. Er hatte für das Osterwochenende im Tessin reserviert und freute sich auf einige intime Tage mit Tanja. Sie wollten in zwei Stunden abfahren.
«Nicht am Telefon.» Hubers Stimme tremolierte am Rande der Hysterie. «Ich muss Sie sehen.»
«Wenn es sein muss», erwiderte Matter. Er stellte sich das schmale Gesicht des Arztes vor und seine starren, fast unheimlichen grauen Augen. «Am Dienstagabend. Ich komme zu Ihnen in die Praxis.»
«Nein!» Huber schrie fast durchs Telefon. «Heute. Sofort.»
Matter erinnerte sich an den unerfreulichen Wortwechsel mit dem Arzt bei ihrem ersten Gespräch. Huber war am Durchdrehen und offenbar nicht mehr ganz Herr seiner Sinne. «Also gut. Ich komme in einer Stunde. Beruhigen Sie sich.»
Statt einer Antwort vernahm Matter bloß ein Klicken in der Leitung. Es passte ihm nicht, dass Huber ihn im Amt angerufen hatte. Es bestand immer die Möglichkeit, dass jemand mithörte. Er ergriff die Finanzzeitung, die er über das lange Wochenende zu studieren gedachte, und verließ sein Büro.
Mit dem Lift fuhr er in die Tiefgarage zu den Parkplätzen, die für Beamte der Steuerverwaltung reserviert waren. Jahrelang hatte er darum gekämpft, bis man ihm einen Platz zugestand. Sein Opel Astra stand unscheinbar zwischen dem bmw-Coupé des Amtsvorstehers und einem bulligen blauen Landrover, dessen Besitzer Matter nicht kannte. Noch ein paar Wochen, dachte er, höchstens zwei Monate, dann ist Schluss mit «Guten Tag, Herr Doktor» und «Natürlich, sofort, Konrad». Dann ist endlich Schluss mit Sylvia, mit Steuerveranlagungen und all dem elenden Kram.
Inzwischen verfolgte ihn der Gedanke an Paul Regenass. Schickte er ihm eine Steuerrechnung ins Haus, kam es zur Katastrophe. Tat er nichts, drohte Ärger mit Konrad Nägeli. Matter war ratlos. Aber er vertraute darauf, dass ihm über Ostern eine Lösung einfallen würde.
Das alte Jugendstilhaus, in dem Dr. Huber praktizierte, schien auf ihn gewartet zu haben. Kaum ließ er den Klingelknopf los, ging die Haustür aus Eichenholz auf. Der Arzt stand persönlich im Eingang, im weißen Ordinationsmantel, ohne Krawatte.
«Kommen Sie herein, wir sind allein.»
Herbert Matter trat ein. Ein schwerer Teppich im Vorraum, der seit Jahrzehnten hier zu liegen schien, dämpfte seine Schritte. Er kam nicht dazu, die alten Stiche an den Wänden zu bewundern. Huber dirigierte ihn am Wartezimmer vorbei gleich in sein Behandlungszimmer.
«Nehmen Sie Platz», sagte er und wies auf den Patientenstuhl.
«Was ist geschehen?», fragte Matter erneut, während er sich setzte. Er registrierte Hubers unsteten Blick und eine lose Haarsträhne, die ihm in die Stirne hing. Von der kühlen Gefasstheit des Arztes war nichts zu spüren.
«Ich will mein Geld zurück.»
Matter beugte sich vor und musterte Huber aufmerksam. Ärger stieg in ihm hoch; er begriff, dass Ungemach drohte, und er wusste nicht, wie darauf zu reagieren war.
«Was soll das, Herr Dr. Huber?», erwiderte er endlich. «Wir haben eine Abmachung getroffen. Sie haben Ihren Teil erfüllt, ich habe meinen Teil erfüllt. Was wollen Sie eigentlich?»
«Mein Geld zurück», wiederholte der Arzt. «Auf unsere Abmachung pfeife ich. Mein Schwiegervater hat das Darlehen für das Haus im Burgund gekündigt, auf Ende des nächsten Monats. Meine Frau beansprucht eine Abfindung von über einer Million. Und mein eigener Anwalt erklärt mir, dass diese Forderung berechtigt sei. Damit ist meine Praxis ruiniert.»
Während Hubers Ausbruch dachte Matter an Sylvia. Sie hoffte auf Aussöhnung, er auf eine schnelle Scheidung ohne viel Ärger. Aber auch sie würde Forderungen stellen, sobald sie feststellte, dass sein Entschluss unabänderlich war. Von seinem Guthaben in Vaduz ahnte sie nichts. Früher hatte er ihr gerne Überraschungsgeschenke gemacht, einen Blumenstrauß, ein zartes Seidenfoulard; sie hatte es ihm mit Liebe und Fürsorge gedankt. Manchmal wunderte er sich, wo all das geblieben war. Sylvia war älter geworden, fester im Auftritt; unbemerkt hatte sie ein Eigenleben entwickelt. Und ebenso unbemerkt war sein Interesse an ihr erkaltet, ihre Spuren des Alters störten ihn jetzt ebenso wie sein eigenes Aussehen, mit dem er seit seiner Jugend haderte. An beidem ließ sich heute nichts mehr ändern.
Matter sah, wie der Arzt ihn herausfordernd anblickte. Er sagte: «Ihr Privatleben tut hier nichts zur Sache. Unsere Vereinbarung ist klar: In fünf Jahren erhalten Sie Ihr Darlehen zurück, nicht früher.»
Huber stand auf und ging hinter seinem Schreibtisch hin und her, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Bei der afrikanischen Kriegerstatue aus Holz blieb er stehen. Er nimmt ihm gleich den Speer aus der Hand und geht auf mich los, dachte Matter.
Aber Huber wandte sich bloß um und sagte: «Unsere Vereinbarung ist ungesetzlich, das wissen Sie so gut wie ich. Wenn Sie mir nicht entgegenkommen, reiche ich eine Selbstanzeige ein und lege unsere sogenannte Vereinbarung offen. Dann sind Sie dran, Herr Matter. Mit versuchter Beamtenbestechung können Sie mich heute nicht mehr erschrecken. Sie haben die Bestechung, wenn es denn eine war, angenommen. Wenn die Behörden Ihr Konto in Vaduz beschlagnahmen, bleibt Ihnen nichts, verstehen Sie. Es würde mich nicht wundern, wenn sich herausstellen sollte, dass Sie sich noch an weiteren Opfern finanziell vergriffen haben.»
Herbert Matter spürte, wie ihm warm wurde. Jetzt nur kein Schweißausbruch, hoffte er. Es würde schlecht aussehen, wenn er ein Taschentuch zücken und sich die Stirne abwischen müsste. Er realisierte staunend, wie Dr. Huber immer ruhiger wurde, während er ihm seine Vorwürfe entgegenschleuderte. Er sah die schlanke Figur des Arztes in Weiß, in fast derselben Pose wie hinter ihm die Kriegerstatue, und hinter beiden ein breites Glasfenster, das den Blick in einen kleinen Garten freigab. Er fragte sich, ob Huber nicht tatsächlich einen Anwalt konsultiert hatte, wie er es schon bei ihrem ersten Gespräch in Aussicht gestellt hatte. Es war ein Fehler gewesen, sich mit dem Arzt einzulassen. Was, wenn der Kerl in einer Schublade ein Aufnahmegerät eingeschaltet hatte?
«So einfach ist das alles nicht, Herr Huber», erwiderte Matter und fixierte die grauen Augen des Arztes. «Eine Selbstanzeige kostet in erster Linie Sie eine Menge Geld …»
«Das ich nicht habe», warf Huber ein, «und deshalb ist es mir egal, ob ich von meiner Frau, von der Steuerbehörde oder von beiden in den Ruin getrieben werde. Aber Sie kommen nicht ungeschoren davon, Herr Matter, lassen Sie sich das gesagt sein!»
«Dann kann ich ja gehen», erklärte Matter und erhob sich. Langsam knöpfte er seine gelbe Tweedjacke zu, die er eigentlich schon für die Fahrt ins Tessin angezogen hatte, und wandte sich zur Tür. «Ihre Selbstanzeige können Sie ohne mich vorbereiten.»
«Ich will mein Geld zurück, Herr Matter», rief der Arzt aus. Seine Stimme bewegte sich wieder am Rand der Hysterie. «Ich brauche es, verstehen Sie das denn nicht? Geben Sie es mir zurück, dann ist allen geholfen, Ihnen, mir, meiner Frau …»
«Sie hören nächste Woche von mir, Herr Huber.» Matter verließ das Ordinationszimmer, durchquerte mit strammem Schrittden reich ausgestatteten Vorraum, zog die schwere Eichentür auf und trat auf die Straße.
Seinen Astra hatte er in der nächsten Querstraße abgestellt. Er ließ sich hinters Steuer sinken und zog die Tür zu. Er lehnte den Kopf an die Nackenstütze und schloss die Augen, ohne zu denken. Schweiß tropfte ihm jetzt von der Stirne auf den Kragen. Unter der Jacke war ihm warm geworden; er spürte die dunklen Ringe, die unter seinen Achselhöhlen wuchsen. Herbert Matter hasste seinen Schweiß, dem er machtlos ausgeliefert war. Mit der Rechten fischte er sein Taschentuch aus der Hosentasche und fing an, seine Stirne abzutrocknen. Er würde sich umziehen müssen, bevor er mit Tanja ins Osterwochenende aufbrach.