Kitabı oku: «Die Steuersünder», sayfa 4

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Der Aufenthalt Matters im Nobelhotel Giardino im Tessin über Ostern war kein uneingeschränktes Vergnügen. Hubers hysterischer Auftritt und die Anweisung seines Chefs Konrad Nägeli, die drei Dossiers in Ordnung zu bringen, bedrückten ihn. Eingewickelt in eine Wolldecke lag er im Hotelgarten in einem Liegestuhl, die bleiche Sonne blendete ihn, und auch der Blick auf den See weit unten brachte keine Erleuchtung. Neben ihm lag Tanja und las. Der Gedanke an den Arzt Huber endete stets mit der grimmigen Entschlossenheit, nichts herauszurücken. Und die Vorstellung, dem sympathischen Jungunternehmer Regenass eine Nach- und Strafsteuerveranlagung ins Haus zu schicken, löste kalte Schauer aus. Matter informierte Tanja in epischer Breite über seine Ärgernisse, und sie gab sich alle Mühe, ihn abzulenken. Aber beim Essen blieb er einsilbig. Und auf ihre Verführungskünste am Morgen und am Nachmittag während der Siesta reagierte er nur halbherzig.

Am Sonntag schließlich, während eines Frühstücks mit Champagner, Kaviar und einem reichen Büfett, in dessen Mitte ein Osterlamm aus Butter thronte, entwickelten sie den Plan: Am nächsten Dienstag würde Herbert in Vaduz eine Stiftung gründen und sein Vermögen auf die Stiftung übertragen lassen. Die Erkundungsreise – vielleicht wurde mehr daraus – über London nach Neuseeland würde auf den kommenden Sonntag vorverlegt. Damit entging er weiteren Diskussionen mit seinem Chef. Am Samstagnachmittag davor hatten sich Huber, Regenass und Kellenberger in London einzufinden, um je einzeln Anweisungen entgegenzunehmen. Was für welche, war noch zu überlegen. Sollten sie sich weigern, so hätten sie die Folgen zu tragen. Vor der Abreise würde Matter per Post seine Kündigung bei der Steuerverwaltung einreichen. Den Urlaub für die Reise würde er sich vom Amtsvorsteher persönlich bewilligen lassen; als Grund musste eine schlimme Wendung beim Brustkrebs seiner Schwester in Miami herhalten. Niemand wusste, dass er keine Schwester hatte. Und wenn am folgenden Montag sein Chef von der Südsee zurückkam, würde Matter verschwunden sein; mochte sich Nägeli dann selber mit Regenass und den anderen herumärgern.


Herbert Matter fühlte sich frei und leicht wie die Möwen, die über dem Zürichsee ihre Kreise zogen. Am Morgen hatte er sich im Büro krankgemeldet. Jetzt genoss er das Gefühl, an einem gewöhnlichen Arbeitstag sein eigener Herr und Meister zu sein. Am Abend stand ihm der Einzug in die kleine Wohnung bevor, die er am Stadtrand von Basel gemietet hatte.

Im Internet hatte er «Treuhandbüros in Vaduz» eingegeben und festgestellt, dass es über hundert davon gab. Nach gründlichem Studium verschiedener Internetseiten entschied er sich für die Treuhand Dr. Wanger, rief an und erhielt einen Termin auf den frühen Nachmittag. Jetzt gab er sich ganz seiner Autofahrt hin. Das Radio spielte anspruchslose Schlager, sein Opel Astra spulte mit gemütlichen hundertzwanzig über die Autobahn, und es störte ihn nicht, dass er immer wieder von übermütigen Rasern überholt wurde. Sein Vermögen lag gut angelegt bei der Universal Bank. Einige Aktien waren bereits im Wert gestiegen, wie ihm seine regelmäßigen Kontrollblicke auf eine Wertschriftenseite im Internet bestätigten, die er auf seinem Laptop eingerichtet hatte. Am Walensee öffnete sich die Sicht auf die Kurfirsten; ihre bissigen Zacken waren noch mit Schnee bedeckt, und am Himmel schwebten flauschige Schäfchenwolken und hatten nichts zu tun.

Sorge bereitete ihm allerdings die deutsche Steueraffäre. Aufgeschreckt durch die Äußerungen des Anwalts Kellenberger hatte er alle Zeitungsartikel studiert, deren er habhaft werden konnte. Zweifel befielen ihn, ob das Fürstentum das Bankgeheimnis noch zu wahren vermochte. Schon vor zwei, drei Jahren hatte ein gewissenloser Angestellter einer der großen Banken Liechtensteins Kundendaten ausländischer Bankkunden, darunter über tausend reiche Deutsche, gestohlen und für mehr als vier Millionen Euro an den deutschen Bundesnachrichtendienst verkauft. Dieser hatte die Informationen an die Steuerbehörde weitergeleitet. Und jetzt, kürzlich, waren den deutschen Behörden neue cds mit Kundendaten, diesmal aus der Schweiz, zugespielt worden. Die Steuerfahnder vermuteten, häufig zu Recht, dass die denunzierten Personen Einkommen und Vermögen am Fiskus vorbei nach Liechtenstein oder in die Schweiz geschleust und in anonymen Stiftungen versteckt hatten. Razzien im Morgengrauen in vornehmen Villen, Beschlagnahmung von Akten, Verhaftungen – teilweise vor laufenden Fernsehkameras – und Einvernahmen von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens waren die Folge. Da enthüllte die Staatsgewalt eine hässliche Fratze, die man seit gut siebzig Jahren überwunden geglaubt hatte. Dass eine Person als unschuldig galt, bis ein Gerichtsurteil das Gegenteil feststellte, wurde vergessen. Erfolgreiche Anwälte, Unternehmensleiter und reiche Erbinnen erstatteten in großer Zahl Selbstanzeige. Die deutsche Regierung, um ihr ramponiertes Ansehen aufzubessern, offerierte die erbeuteten Daten unentgeltlich den übrigen Regierungen der Europäischen Union. Einige nahmen an, Dänemark lehnte entrüstet ab.

In der Schweiz wurde viel Druckerschwärze auf das Problem verwendet, ob die deutschen Behörden rechtmäßig gehandelt hatten. Alle waren sich einig, dass wer Steuern hinterzog, bestraft werden sollte. Die Frage war bloß, ob der Staat rechtswidrig handeln durfte, um Unrecht aufzudecken. Wenn eine Privatperson Diebesgut erwarb und wusste, dass es gestohlen war, erfüllte sie den strafbaren Tatbestand der Hehlerei. Wenn eine Behörde eines Rechtsstaates dasselbe tat, warfen ihr die einen Raubrittertum vor, während andere fanden, der Zweck heilige durchaus die Mittel.

Für Herbert Matter waren das moralische Spitzfindigkeiten. Ihn interessierte einzig, ob Schweizer Kunden von liechtensteinischen Banken ebenfalls gefährdet waren, ob allenfalls andere unzufriedene Bankangestellte auch auf die Idee kamen, ihre Informationen dem Meistbietenden zu verhökern. Aufgrund seiner Lektüre war er zum Schluss gekommen, dass Schweizer Behörden für vergleichbare Informationen kein Geld herausrücken würden. Außerdem handelte es sich bei der Universal Bank um ein vergleichsweise kleines Institut mit wenigen Angestellten, die einfacher zu überwachen waren. Und schließlich würde er sein Vermögen ohnehin nach Neuseeland transferieren, sobald er dort Fuß gefasst hatte.

Vor der Abfahrt am Morgen hatte er ihre Flüge gebucht, am Freitag nach London und für den Sonntagabend – First Class – weiter über Sydney nach Wellington. Anschließend telefonierte er mit seinen Opfern und bestellte sie nach London ins Old Hampshire Hotel. Ein wichtiger neuer Umstand erfordere ein weiteres persönliches Gespräch, erklärte er. Und, nein, aus Diskretionsgründen komme Basel als Ort für das Treffen nicht in Frage. Eine Weigerung würde sich äußerst nachteilig auswirken. Sein Vorgesetzter sei bei einer Routinekontrolle auf ihre Dossiers gestoßen und habe detaillierten Aufschluss verlangt. Weitere Einzelheiten seien nicht am Telefon zu besprechen. Bei Dr. Huber fügte er bei, er werde sich in London zu seinem Wunsch äußern.

Alle drei reagierten verärgert, aber alle drei willigten ein, am Samstag zur Besprechung zu erscheinen.

Im Treuhandbüro Dr. Wanger wurde Herbert Matter von einem Mitarbeiter namens Josef Ritter empfangen. Es gefiel ihm, dass man ihn überaus freundlich in ein Sitzungszimmer bat und ihm gleich eine Tasse Kaffee offerierte. Der junge Mann hatte Manieren und wusste, was sich gehörte. Er trug einen dunkelblauen Anzug; eine Hornbrille verlieh seinem Gesicht einen ernsten, nachdenklichen Ausdruck. Als Matter sich nach Einzelheiten zur Gründung einer Stiftung erkundigte, öffnete Ritter eine Broschüre und schob sie über den Tisch. Während der nächsten Viertelstunde erfuhr Matter alles Notwendige. Diskretion sei gewährleistet; Stiftungen würden nicht in ein öffentliches Register eingetragen, sondern die Akten lediglich bei einer Amtsstelle hinterlegt. Die Kosten erwiesen sich als bescheiden. Als Stiftungszweck sollte «Förderung der Alpakazucht und Ausrichtung von Beiträgen an die Lebenshaltungskosten bestimmter Personen» festgeschrieben werden. Die «bestimmten Personen» waren in einem Reglement zu bezeichnen; sie konnten jederzeit wieder gestrichen und durch andere ersetzt werden.

Jetzt lehnte sich Herbert Matter zurück. Mit seinen Kugelaugen fixierte er den jungen Angestellten, bis dieser hinter seiner Brille den Blick senkte. Er sagte:

«Zum Thema Diskretion. Die Schlagzeilen der letzten Wochen über das Fürstentum haben das Gegenteil in die Welt hinausposaunt, haha! Wie sicher sind Sie eigentlich, dass nicht auch Ihre Kundendaten an deutsche oder andere ausländische Behörden verkauft werden?»

Ritter räusperte sich, als sei ihm ein Insekt in die Luftröhre geraten. «Herr Matter, es wird Sie nicht wundern, wenn ich Ihnen verrate, dass man uns diese Frage in den letzten Tagen schon einige Male gestellt hat.»

«Nein, das wundert mich nicht. Und Ihre Antwort?»

«Wir sind ein kleines Unternehmen mit zweiundzwanzig Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Wir haben das Glück, einen guten und verständnisvollen Chef zu haben. Unser Geschäft lebt von seinem guten Ruf, der über mehr als dreißig Jahre erarbeitet worden ist. Niemand bei uns würde auf die Idee kommen, am Ast zu sägen, auf dem wir sitzen. Die Zufriedenheit unserer Kunden ist unser oberstes Ziel.»

Herbert Matter lachte sein schepperndes Lachen. «Soso! Und diese große Bank, deren Kunden nach Deutschland verraten worden sind? Lebt die nicht auch von ihrem guten Ruf?»

«Es handelt sich dort um eine eigentliche Großbank mit sehr vielen Mitarbeitern. Offensichtlich haben die Kontrollen und das Sicherheitssystem versagt. Es wird Jahre dauern, bis sie das verlorene Vertrauen zurückgewinnt. Ob sie überhaupt überlebt, ist noch völlig ungewiss.»

Ganz allmählich begriff der Steuerbeamte Herbert Matter, dass es in Geldangelegenheiten keine Sicherheit mehr gab.


Um halb vier war alles klar.

«Bis Ende Woche ist die Alpaka-Stiftung gegründet», erklärte Josef Ritter. «Dann können wir das Bankkonto eröffnen.»

«Kann man das nicht beschleunigen?», fragte Matter. Er dachte an die Reise nach Neuseeland.

«Schwierig», sagte Ritter. «Haben Sie bereits eine Bankverbindung in Vaduz?»

«Ja, die Universal Bank.»

«Gute Adresse. Nicht zu groß.» Ritter nickte anerkennend. «Aber die Bank muss die Kontoeröffnungsdokumente vorbereiten und Ihnen zur Unterzeichnung zustellen. Und Sie müssen sich überlegen, wer unterschriftsberechtigt sein soll. Das dauert ein paar Tage. Außerdem müssen wir bestimmte Sorgfaltspflichten einhalten. Sie wissen – die Vorschriften zur Bekämpfung der Geldwäscherei und des internationalen Terrorismus. Dazu gehört, dass Sie uns aufklären, woher die Mittel stammen, die Sie auf die Stiftung übertragen.»

Matter runzelte die Stirne. Terrorismus. Geldwäscherei. Er wusste nur ungefähr, um was es dabei ging. Al Kaida fiel ihm ein, Drogenhandel, Prostitution, Pornografie. Damit hatte er nichts zu tun. Er wünschte sich, Dr. Kellenberger wäre an seiner Seite. Der Anwalt würde das gewandt für ihn erledigen.

«Ich habe das alles schon der Bank dargelegt», sagte er schließlich.

Ritter schien mit der Auskunft zufrieden. «Dann genügt es, wenn Sie uns dieselben Angaben zur Verfügung stellen wie der Bank. Im Weiteren benötige ich eine Kopie Ihres Passes.»

Herbert Matter seufzte. «Ich hatte mir Diskretion eigentlich ein wenig anders vorgestellt. Aber bitte – wenn es sein muss.»

Sie einigten sich rasch über alle Einzelheiten. Matter erwähnte seine Tätigkeit als Steuerexperte und seine erfolgreichen Finanzgeschäfte. Unterdessen kopierte eine Sekretärin seinen Pass. Dem Stiftungsrat sollten er selber, Tanja und Josef Ritter angehören. Bei der Bank würden er und Tanja Unterschrift führen. Die Treuhand Dr. Wanger würde der Stiftung ihre Adresse zur Verfügung stellen. Und Herr Matter verstand selbstverständlich, dass er als Neukunde des Büros gebeten wurde, eine Anzahlung von fünftausend Franken zu leisten.

Bei der Universal Bank bezog er die verlangte Anzahlung und darüber hinaus fünftausend englische Pfund für die bevorstehende Reise. Man warnte ihn, nicht zu viel Bargeld mit sich herumzutragen, und offerierte, ihm einen Teil in Reiseschecks auszuhändigen. Matter lehnte dankend ab und verabschiedete sich.

Als er wieder im Auto saß, fragte er sich, ob sein Sohn Arnold es jemals zu einer so interessanten Position bringen würde wie der junge Josef Ritter.


Am selben Dienstagabend, es war der 22. April, rang Rechtsanwalt Kellenberger sich zu einem Entschluss durch. Er schob die Akte, die er seit über einer Stunde studierte, beiseite. Der Fall war hoffnungslos. Sein Mandant, der seit zehn Jahren Seite an Seite mit einem Nachbarn lebte, fand plötzlich, dessen Haus werfe zu viel Schatten auf sein Grundstück. Er hatte einen gehässigen Briefwechsel gestartet, bei dem die Wortwahl mittlerweile die Grenze strafbarer Verunglimpfungen erreichte. Und jetzt sollte der Anwalt einen Gerichtsbefehl erwirken, der dem Nachbarn auferlegte, den Schattenwurf zu beseitigen. Kellenberger griff zum Telefon und drückte eine Taste.

«Frau Goldstein, kommen Sie bitte für einen Augenblick.»

Tanja trat ein, und er bat sie, sich zu setzen. Sie trug ein beigefarbenes, ärmelloses Wollkleid, das ihr bis zu den Knien reichte und schon den Sommer vorwegnahm.

«Frau Goldstein», begann Kellenberger förmlich, «ich muss Ihnen mitteilen, dass ich beabsichtige, mein Arbeitspensum stark einzuschränken. Neue Mandanten werde ich nicht mehr annehmen.» Er sah, wie die Sekretärin ihn ausdruckslos musterte. Ihre Augen glänzten bernsteinfarben. Sie schien schon alles begriffen zu haben. Er dachte an ihren Verrat. «Das bedeutet, dass ich auf Ihre Mitarbeit, die ich außerordentlich schätze, in Zukunft verzichten muss. Ich schlage vor, dass wir unser Arbeitsverhältnis auf Ende Juli beenden. Unter Berücksichtigung Ihrer Ferienansprüche und Überstunden denke ich, dass Sie noch bis Ende Juni hier arbeiten werden.»

Tanjas Mundwinkel verzogen sich zu einem unmerklichen Lächeln. In ihren Augen stand leiser Spott.

«Werden Sie Ihre Korrespondenz dann selber schreiben?»

«Nein. Aber eine stundenweise Aushilfskraft wird genügen.»

«Aha.» Sie machte eine Pause, dann fuhr sie fort: «Ich habe gerne bei Ihnen gearbeitet, Herr Kellenberger. Aber Ihre Mitteilung kommt mir nicht ganz ungelegen.»

«Wieso?»

Tanja lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Sie war immer selbstbewusst gewesen; jetzt empfand der Anwalt sie als provokativ. «Ich hatte auch im Sinn, mich gelegentlich zu verändern.»

«So.»

«Ja. Es sieht so aus, als ob ich wieder heiraten werde.»

Kellenberger schluckte. Matter. Der Strolch hat sie völlig in der Hand, jetzt sowieso mit dem vielen Geld. Und Vollmacht über sein Konto hat er ihr auch noch gegeben. «Wer ist denn der Glückliche?»

«Ich schicke Ihnen eine Anzeige, wenn es so weit ist», sagte Tanja und lachte. «Er ist älter als ich.» Es klang wie eine Entschuldigung.

Und sieht aus wie eine Witzfigur, dachte Kellenberger. Was Geld nicht alles fertigbrachte.

Matters Lachen klang ihm wieder in den Ohren, und er sah seine wässrigen Augen über der Stupsnase mit den ungepflegten Nasenlöchern vor sich. Und jetzt zitierte der Kerl ihn noch nach London, wieder mit der verdeckten Drohung eines Nach- und Strafsteuerverfahrens. Er sagte: «Ich wünsche Ihnen, dass er reich ist und Sie glücklich macht.» Und dass ihn der Teufel holt, setzte er in Gedanken hinzu.

«Danke», erwiderte Tanja. Dann fuhr sie fort: «Wir können das Ganze auch abkürzen. Ich würde gerne die beiden kommenden Wochen als Ferien beziehen. Danach helfe ich Ihnen noch, die pendenten Akten aufzuarbeiten, wenn es Ihnen recht ist. Dafür sollten weitere zwei Wochen genügen.»

«Einverstanden», sagte Kellenberger. Er hatte plötzlich die Nase voll. Sollte sie sich doch dem Banditen an den Hals werfen. «Sie erhalten selbstverständlich ein ausgezeichnetes Zeugnis.»

Tanja verabschiedete sich, und Michael Kellenberger wandte sich wieder seiner Akte zu. Er sehnte sich nach einem kühlen Bier und beschloss, das Abendessen im «Goldenen Sternen» einzunehmen. Nur jetzt nicht ins leere Haus zurückkehren. Die Vergangenheit würde ihn mit ihren klebrigen Fingern einholen, Helen ihm seinen Fehltritt während ihrer dritten Schwangerschaft wieder vorwerfen, den Abort im vierten Monat; die Verachtung seiner Töchter, Reue über verpasste Gelegenheiten, dann die Angst vor Versagen im Beruf, und jetzt der Pfusch mit den Steuern – alles würde ihn heimsuchen wie ein Ausschlag, der sich nie ganz auskurieren ließ. Und die Vorstellung der Stille, die ihn umhüllen würde wie ein schweres Laken, wenn er im Wohnzimmer eine Zeitung las, erfüllte ihn mit sanftem Schrecken.

Als er sich zum Weggehen bereitmachte, läutete das Telefon. Es war zehn vor sieben. Für einen geschäftlichen Anruf war es zu spät, und seine paar Freunde und Bekannten riefen ihn – wenn überhaupt – zu Hause an. Er hob ab.

«Ja», sagte er, leicht ungeduldig.

Eine Frauenstimme sprach. «Herr Dr. Kellenberger?»

«Ja, wer spricht?»

«Sind Sie allein? Können Sie sprechen?»

«Ja.» Jetzt wurde er neugierig.

«Mein Name ist Sylvia Matter», sagte die Frauenstimme. «Kann es sein, dass Sie meinen Mann kennen, Herbert Matter?»

«Allerdings!», entfuhr es Kellenberger. Dann fiel ihm ein, dass auch sie zu Matters Opfern zu zählen war. Freundlicher fuhr er fort: «Was veranlasst Sie, mich anzurufen?»

«Ich möchte nicht am Telefon weiterreden. Wann kann ich Sie allein sprechen?»

«Geben Sie mir wenigstens ein Stichwort.»

«Vaduz.»

«Ich bin heute Abend frei. Wenn Sie mich in meinem Büro besuchen wollen, können wir ungestört reden.»

«In zwanzig Minuten bin ich bei Ihnen.»

8

Michael Kellenberger führte seine Besucherin in sein kleines Konferenzzimmer. Sylvia Matter trug einen grünen Hosenanzug. Ihr Haar war braun gefärbt mit einem Stich ins Rötliche, kurz geschnitten und straff nach hinten gekämmt. Darunter traten starke Backenknochen hervor, und trotz eines sorgfältigen Makeups waren bei beiden Augen Krähenfüsse sichtbar, und tiefe Falten zogen sich von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln hinab. Die grauen Augen blickten streng, und das breite Gesicht wirkte gehetzt und müde. Der Anwalt schätzte sie auf Mitte vierzig.

Sie saß kerzengerade auf der Kante ihres Stuhls, die Unterarme auf den Tisch gestützt, und suchte nach einem Anfang. Sie sagte: «Danke, dass Sie mich so kurzfristig empfangen.»

Kellenberger lächelte schwach. «Das fiel mir leicht, als ich Ihren Namen und Ihr Stichwort hörte.»

«Sie haben meinen Mann bei einer Bank in Vaduz eingeführt und ihn bei einer geschäftlichen Angelegenheit beraten. Das stimmt doch?»

Der Anwalt schüttelte den Kopf. «Ja und nein. Ja, ich habe Herrn Matter bei der Universal Bank eingeführt; und nein, ich habe ihn nicht als Mandanten beraten. Wäre er mein Klient, wäre unser Gespräch bereits beendet. Warum kommen Sie zu mir, Frau Matter?»

Die Frau gab sich einen Ruck. «Mein Mann hat mich vor ein paar Tagen Hals über Kopf verlassen. Dabei vergaß er einen Umschlag mit Papieren der Bank aus Vaduz. Neben einem Brief der Direktion – darin werden Sie erwähnt – lagen drei Gutschriftanzeigen über fast vier Millionen Franken im Umschlag. Wir haben nicht so viel Geld, Herr Dr. Kellenberger. Ich möchte wissen, was los ist. Ich hatte gehofft, dass Sie mir dabei helfen. Unsere Ersparnisse betragen etwas über hunderttausend Franken. Und wir haben einen vierzehnjährigen Sohn, dem ich nicht erklären kann, weshalb sein Vater verschwunden ist. Das ist das Schlimmste an der ganzen Geschichte.»

«Steht auf den Belegen, woher die Zahlungen kommen?», fragte Kellenberger, weil ihm nichts anderes einfiel.

«Ja. Von einem Dr. Hubert Huber und einem Paul Regenass, beide aus Basel, ich habe sie im Telefonverzeichnis gefunden, und einer Plus-Minus AG.»

«Hm.»

Wie auf Knopfdruck spulte Kellenbergers Erinnerung den Film seiner Begegnungen mit Herbert Matter ab: die beiden Gespräche im Büro bei der Steuerverwaltung am Fischmarkt, die kurze Sitzung hier im selben Konferenzzimmer, in dem jetzt seine Frau nach Antworten suchte. Dann der Schock, dass seine Assistentin mit Matter gemeinsame Sache machte. Er fragte:

«Wissen Sie, warum Ihr Mann Sie verlassen hat? Eine andere Frau?»

Sylvia Matter schluckte. «Er hat gesagt, er halte es nicht mehr aus, er brauche endlich seine Freiheit. Ob eine Frau im Spiel ist? Ich weiß es nicht. Aber man kann es wohl nicht ausschließen, nach zwanzig Ehejahren, nicht wahr?»

«Nein, das kann man nicht.»

Der Anwalt versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er war froh, dass Matters Frau zuerst zu ihm gekommen war. Die Namen Regenass und Huber sagten ihm nichts. Aber offensichtlich waren sie ebenfalls erpresst worden. Wenn Sylvia Matter sie aufsuchte, flogen die Gaunereien ihres Mannes höchstwahrscheinlich auf. Es war unverkennbar, dass sie vor den großen Geldbeträgen Angst hatte.

Wenn sie Anzeige erstattete, ließen sich auch die Steuerhinterziehungen – er nahm an, dass Huber und Regenass sich in derselben Lage befanden wie er – nicht mehr geheim halten. Er begriff, dass seine Besucherin mit äußerster Sorgfalt zu behandeln war.

«Darf ich fragen, woher Sie meinen Mann kennen?», wollte sie wissen.

Kellenberger nickte. «Er ist für die Bearbeitung meiner Steuererklärungen zuständig.» Die Höflichkeit der Frau stand in krassem Gegensatz zur forschen Aufdringlichkeit ihres Mannes.

«Und wie kommt es, dass Sie ihn bei einer Bank in Vaduz einführten?»

«Er hat mich darum gebeten.»

«Um was geht es bei seinen Geschäften?» Die Frau zögerte, dann setzte sie leise hinzu: «Ich kann nicht glauben, dass alles mit rechten Dingen zugeht.»

«Ich verstehe Sie.»

Der Anwalt stand auf und trat zum Fenster. Die Abenddämmerung hatte eingesetzt und ließ den Fluss noch goldbraun und teilweise bereits dunkelgrau schimmern. Einige Lichter vom gegenüberliegenden Ufer spiegelten sich darin; es sah aus wie ein kleines Sternenmeer. Er dachte an seine Jugend, wie alles noch harmlos war, wie er als Student mit einem Buch an der Böschung des Flusses gelegen hatte, Vorlesungen, Zukunft und alles andere vergessend. Das Buch hieß «Die Weisheit des lächelnden Lebens» von Lin Yutang, einem chinesischen Philosophen. Das schönste Kapitel handelte vom Genuss guten Essens. Der Autor beklagte die Unsitte westlicher Männer, ihren Bauch mit einem Gurt einzuschnüren, wo doch die lose hängenden Gewänder der Chinesen der Entfaltung der Leibesfülle viel mehr Spielraum boten.

Kellenberger verscheuchte die Reminiszenz an eine entschwundene Zeit und wandte sich wieder seiner Besucherin zu. «Ich weiß teilweise, was geschehen ist», fuhr er fort, vorsichtig bemüht, nichts Unwahres auszusprechen. Dann drehte er sich um und erklärte, noch immer am Fenstersims lehnend:

«Es ist gut, dass Sie mich aufgesucht haben, Frau Matter. Ihre Vermutung ist leider berechtigt: Ihr Mann hat sich Gesetzwidrigkeiten zuschulden kommen lassen. Ich kenne allerdings noch nicht alle Einzelheiten. Ich schlage deshalb vor, dass wir ein weiteres Gespräch führen, sobald ich mehr weiß. Wichtig ist, dass Diskretion gewahrt bleibt. Wenn am falschen Ort geredet wird, droht verschiedenen Personen großes Ungemach, insbesondere auch den Herren Huber und Regenass. Ich bitte Sie deshalb, mit ihnen nicht in Kontakt zu treten. Jeder Schritt, der jetzt unternommen wird, kann falsch sein.»

Sylvia Matter hörte Kellenbergers Enthüllungen mit unbewegtem Gesicht zu, nur in ihren Augen flackerten Unruhe und eine Spur von Angst.

«Herbert wollte immer hoch hinaus», sagte sie schließlich. «Er war nicht zufrieden, mit sich nicht, mit seiner Arbeit nicht, und offenbar mit mir auch nicht. Dabei hatte er alle Aussicht, zum Abteilungsleiter befördert zu werden. Konrad Nägeli – das ist sein direkter Vorgesetzter – war ja bereits als Nachfolger des Amtsvorstehers vorgeschlagen. – Ach, das ist alles so unglaublich. Und so traurig. Wie geht es jetzt weiter?»

«Ich weiß es nicht», sagte der Anwalt. «Noch nicht.»

«Wann sollen wir uns wieder treffen?»

«Morgen Abend um dieselbe Zeit. Wissen Sie, wo Ihr Mann sich jetzt aufhält?»

«In einem kleinen Hotel. Er hat es mir gesagt. Wir sind übereingekommen, nach einiger Zeit zu überprüfen, ob die Trennung wirklich unabwendbar ist.»

In ihrer Stimme schwang plötzlich Hoffnung mit, ihr Gesicht hellte sich auf. Aber Kellenberger dachte an Tanja Goldstein; er bezweifelte, dass Matter je zu einer Versöhnung Hand bieten würde. Er musterte seine Besucherin, und insgeheim bewunderte er die Würde, mit der sie die Trümmer ihrer Ehe zu ordnen versuchte. Seine Exfrau Helen hatte ihn seinerzeit kurzerhand hinausgeworfen, als sie von seinem kurzen – und wie er heute noch glaubte: harmlosen – Techtelmechtel während ihrer Schwangerschaft erfuhr. Jetzt aber quälte ihn vor allem die Frage, wie viele Informationen er Sylvia Matter offenlegen durfte. War sie zuverlässig? Wie würde sie auf die Steuerhinterziehungen reagieren, die ihr Mann so rücksichtslos ausgenützt hatte? Was, wenn sie von Tanja erfuhr? Ob Huber und Regenass ebenfalls nach London zitiert worden waren? Ob er es riskieren durfte, mit ihnen in Verbindung zu treten?


Kellenberger folgte eher einem Impuls als einer rationalen Überlegung, als er in sein Arbeitszimmer zurückging. Er fand die Telefonnummern von Huber und Regenass auf Anhieb. Er entschied sich, mit dem Arzt zu beginnen. Aus dem Verzeichnis ging hervor, dass sich Praxis und Wohnräume im selben Haus befanden. Nach dem dritten Klingeln wurde abgenommen.

«Ja?» Die Stimme klang hart und ungehalten.

«Spreche ich mit Dr. Hubert Huber?»

«Ja. Und wer sind Sie?»

«Ein Bekannter von Herbert Matter. Sagt Ihnen dieser Name etwas?»

«Und ob, verdammt noch mal! Was wollen Sie? Ich habe nichts mehr.»

«Keine Sorge, ich will nichts von Ihnen», sagte der Anwalt. «Ich fürchte, wir befinden uns in derselben Lage, was Matter angeht. Haben Sie auch eine Einladung nach London erhalten?»

«In der Tat, auf nächsten Samstag.» Die Stimme des Arztes tönte weniger gereizt. «Aber ich würde jetzt schon gerne wissen, mit wem ich spreche.»

«Klar.» Kellenberger stellte sich vor und schloss: «Sie verstehen, dass man sich nicht leichthin jemandem als Steuersünder, der erpresst wird, zu erkennen gibt.»

Jetzt lachte der Arzt. «Allerdings. Und wie sind Sie eigentlich auf mich gestoßen?»

«Durch eine Nachlässigkeit von Matter. Purer Zufall. Es gibt noch ein drittes Opfer. Ich habe vor, ihn ebenfalls zu kontaktieren. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich ihm von Ihnen erzähle?»

«Nein, aber bitte zunächst ohne Namensnennung, so wie Sie unser Gespräch angefangen haben. Und dann sollten wir uns vermutlich treffen, um abzuklären, ob wir gemeinsam etwas gegen diesen Strolch unternehmen können.»

«Einverstanden», erklärte Kellenberger. «Ich rufe nochmals an, sobald ich mit dem anderen Herrn geredet habe.»

Das Gespräch mit Paul Regenass verlief ebenso reibungslos. Man kam überein, sich am Donnerstagabend um sieben Uhr im Büro des Anwalts zu treffen. Zufrieden räumte Michael seine Akten weg. Er freute sich auf sein Abendessen im «Goldenen Sternen».

Sein Stammplatz war noch frei. Die Oberkellnerin Lucie, eine zierliche Elsässerin mit einem hellen Kinderstimmchen, brachte ihm die Karte. Er entschied sich für eine Kalbsconsommé, danach Riesenkrevetten mit Reis und grünem Blattsalat, dann bat er um eine Zeitung. Matter und seine Gaunereien waren in den Hintergrund gerückt; allein schon die Kontaktaufnahme mit seinen beiden Leidensgenossen linderte den Druck, der seit Tagen auf seiner Seele lag.

«Möchten Sie einen Schluck Wein zum Essen?», fragte Lucie, während sie die Zeitung auf den Tisch legte.

«Gerne, was schlagen Sie vor?»

«Wir haben einen weißen Villa Antinori, der ausgezeichnet zu den Krevetten passt.»

«Also, dann bringen Sie mir einen Dreier.»


Am Dienstagabend hatte Matter seine Zweizimmerwohnung eingerichtet. Die wenigen gebrauchten Möbel waren schnell hingestellt, die paar Lampen aus dem Einkaufszentrum rasch aufgehängt. Freude bereitete ihm eine Biedermeierkommode, die er in einem Antiquariat gefunden hatte. Er platzierte sie prominent im Eingang, die Wand darüber dekorierte er mit einem alten Ölgemälde mit einer englischen Jagdszene aus demselben Antiquariat. Tanja half ihm und beschrieb dabei ihr Kündigungsgespräch mit Kellenberger. Ob dieser wohl etwas ahne von ihrer Verbindung, wollte Matter wissen. Es sei schwer zu glauben, dass er genau jetzt seine Berufstätigkeit einschränke, wo er einen massiven Mittelabfluss hinzunehmen hatte. Dazu lachte er sein grelles Lachen; es klang wie das Bellen eines Foxterriers. Tanja hatte nur die Achseln gezuckt, es war ihr egal.

«Ich bin jetzt ganz dir ausgeliefert», hatte sie erklärt. «Die Ära Kellenberger ist für mich abgeschlossen.»

«Nicht ausgeliefert», hatte Matter protestiert. «Nicht ausgeliefert, mein Häslein. Aber wir sind jetzt auf einander angewiesen, verstehst du? Das ist ein Unterschied.»

«Ja.»

Dann hatte er ihr über die Gründung der Alpaka-Stiftung berichtet und dass sie beide dem Stiftungsrat angehören sollten. Wegen lästiger Formalitäten konnte das Vermögen nicht mehr vor der Reise nach Neuseeland auf die Stiftung übertragen werden. Tanja bereitete zwei Tassen Kaffee und trug sie ins kleine Wohnzimmer. Sie trat ans Fenster mit Blick auf eine stark befahrene Kreuzung. Ihre eigene Wohnung hatte Aussicht ins Grüne, in der Ferne sah man den Waldrand, und es gab keinen Verkehrslärm. Dort war es schön, und sie konnte sich entspannen. Sie versuchte sich Neuseeland vorzustellen und Herbert auf einer Farm, wie er sich mit Tieren beschäftigte, von denen er nichts verstand. Sie zweifelte, ob dieser Nachteil mit Geld allein wettzumachen war. Oder ob Matter nicht doch einfach Fluchtgedanken hegte und sein Ziel nicht weit genug entfernt sein konnte. Zuletzt kam es ihr unwahrscheinlich vor, dass er sich innert nützlicher Frist von seiner Frau scheiden lassen und sie heiraten würde. Und wenn er sie fallen ließ – was für eine Zukunft stand ihr bevor mit fünfunddreißig Jahren? Eine neue Stelle als Sekretärin in einem langweiligen Büro mit jüngeren Kolleginnen, denen das Leben mit allen Verrücktheiten noch offen stand. Was für Männer würden sich noch für sie interessieren? Über Fünfzigjährige mit viel perverseren Wünschen als Matter, der bloß seinen sexuellen Nachholbedarf bei ihr auslebte. Schließlich ging ihr durch den Kopf, dass sie nach wie vor eine Vollmacht über sein Konto in Vaduz besaß.

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