Kitabı oku: «Integrative Psychotherapeutische Diagnostik (IPD)», sayfa 7

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2.2 Menschenbilder in der Psychotherapie: Philosophische Anthropologie

Jede Therapieform operiert mit einem Menschenbild, unabhängig davon, ob dies implizit oder bewusst geschieht. Genau genommen trägt die philosophische Anthropologie die letztendliche Begründungslast des psychotherapeutischen Handelns, weil sie Wahrnehmung, Einschätzung und Bewertung psychotherapeutischer Diagnostik und Interventionen fundiert. Auf dieser Grundlage werden alle weiteren Theorien errichtet. Evolutionsphilosophie, Leibphilosophie, philosophische Anthropologie und die Sozialphilosophie bilden die ersten wichtigen Stützpfeiler dieses Fundaments, als ein Bild des ,Menschseins in der Welt‘. So werden nun Aspekte eines therapiebegründenden Menschenbildes expliziert.

Wenn hier über „den Menschen“ in anthropologischer Sicht Wissen notiert wird, wird klargestellt, dass ein solcher Zusammentrag sich kulturabhängig und zeitepochal ereignet, darüber hinaus durch gesellschaftliche, wirtschaftliche, wissenschaftliche, politische und globale Denkschablonen imprägniert ist. Die pragmatische Annäherung an den Menschen, als Resultat eines Durchgangs durch die Humanwissenschaften, ist eurozentrisch und sie tendiert auch zu einer Mittelschichtsbetonung; die damit angesprochene Population ist freilich immer noch groß genug. Des Weiteren ist die Geschlechtszugehörigkeit des Autors zu berücksichtigen. Gernot Böhme (2008, 77f.) sagte diesbezüglich: „Vom Menschsein versteht jeder höchstens die Hälfte“, mehr als das kann es also nicht sein. Eine wache, achtsame Haltung ist daher diejenige, die es uns erlaubt, über folgende Aspekte in geeigneter Weise nachzudenken.

Beginn des Lebens

Das individuelle Leben als Subjekt beginnt frühestens mit der Befruchtung der Eizelle. Die Rekombination männlicher und weiblicher Allele zum Chromosomensatz des entstehenden Embryos ist ein Vorgang völliger Kontingenz, auch im Rahmen einer In-vitro-Befruchtung. Nicht nur das Geschlecht wird hier festgelegt, sondern viele Variablen, die später als Temperament beschrieben werden (Zentner, 1993). Wenn man sich epigenetischen Forschungen anvertrauen will, spielen das Verhalten und Umgebungsfaktoren der Eltern schon bis zu drei Monate vor dem Befruchtungsvorgang für diesen Prozess eine entscheidende Rolle (Lipton, 2009, 2016). Mit der Epigenetik jedenfalls konnte der Mythos vom Gen als monodirektional determinierende oder allein steuernde Größe fallen gelassen werden (Walter & Hümpel, 2017; Lewontin, 2002).

Was bedeutet das in anthropologischer Sicht für den Menschen? Es bedeutet, dass das Verständnis der Anlage-Umwelt-Debatte durch die Wissenschaften in ein Verhältnis totaler Rekursivität hinein aufgelöst wurde. Dem Menschen wurde damit die Vorstellung eines quasi archimedischen Ausgangspunktes seiner Individualität genommen, der Beginn seiner Existenz verliert sich nun in nicht mehr nachvollziehbare (biologische, sozialisatorische, enkulturative und ökologisatorische) Ketten von Ursache und Wirkung. Kausalität muss bi- oder sogar multidirektional gedacht werden; das aber bindet den ,denaturierten‘ Menschen wieder zurück in Vorgänge eines synergetischen Naturverständnisses (Weber, 2014).

Die Zeugung des Menschen ist (zumeist) ein erotischer, zwischenleiblicher Vorgang, das Leben beginnt mit einer Erotik, die man sich als durch das ganze Leben hindurch ziehend vorstellen kann. Wenn Menschen die Erotik des Lebendigen in dieser Durchgängigkeit nicht mehr wahrnehmen und spüren, liegt das an biografischen und kulturellen Zurichtungen mit zum Teil langen historischen Wurzeln, liegt das am Argwohn des Menschen gegen seine eigene Natur (Böhme, 2008). Die Geburt des Menschen, die traditionell als soziales Ereignis galt, ist als solches durch die Verwissenschaftlichung des Vorgangs abgewertet worden, durch die klinische Technisierung des Geburtsvorganges.

Der sozialisatorische Beginn des Lebens umfasst die Embryonalzeit, die Fötalzeit, die Säuglingszeit und dann die Kindheit. Nach Immanuel Kant (1803) wird der Mensch nur Mensch durch die Erziehung; sie soll aus der Natur, der „Tierheit“, den Menschen bilden. Die aufklärerische Pädagogik setzte damit den Menschen in eine Dichotomisierung zwischen Natur und Kultur, die noch heute das Verhältnis zur „Natur, die wir selbst sind“ (Böhme, 2019), verstörte. Damit sind nicht nur die freudianischen „Triebregungen“ angesprochen (Freud, 1999b), sondern auch Gefühle, der kindliche Wille, die Fehlbarkeit und Angewiesenheit des Kindes, seine Bedürftigkeit, seine Suche nach Orientierung, die fehlende Selbstkontrolle. Diese anthropologische Ausstattung des Menschen aber benötigt weder pädagogische Ausrichtung noch Zurichtung, sie benötigt (zwischen-)leibliche und emotionelle Präsenz, das Sicheinlassen auf und Öffnen von Räumen für ein Wesen, das sich in seiner Individualität erst noch entfalten will (in welche Richtung, ist noch nicht klar) – für den Menschen offenkundig eine der schwierigsten Aufgaben (Gumbrecht, 2004). Erst, wenn Erziehung in dieser Ausrichtung verstanden wird, kann sie Potenziale des Menschen freisetzen.

Bedürfnisse, Präsenz und Resonanz

Von Beginn an – und über seine ganze Lebensspanne hin – zeigt der Mensch Grundbedürfnisse, deren vage Beantwortung für seine gesunde Entwicklung eine zentrale Rolle spielt (Gasiet, 1980). Basale Bedürfnisse sind etwa solche nach Unterkunft, Wärme (thermisch, leiblich), Nahrung, Kleidung, Pflege (Sauberkeit bzw. im Krankheitsfall), Schlaf und Schutz vor Gefahren, solche nach geistigem und zwischenleiblichem Halt, vermittelt im Säuglingsalter z. B. durch Stimme, Berührungen und Blicke, später durch das Eingehen der Betreuungspersonen auf die Bedürfnisse, Gefühle und Präferenzen des Kindes. Irenische Bedürfnisse sind solche nach positiver, bestärkender, versichernder und freundlicher Atmosphäre, Liebe, nach zärtlichem Körperkontakt, elterlicher Zuwendung und (Mit-)Freude im Kontakt mit dem Kind. Exitierende Bedürfnisse haben einen appellativen, herausfordernden Charakter, stellen eine Evokation kindlicher Kompetenzen dar, rufen Neugier und Interesse wach, z. B. auf körperlich-leiblicher (Sport, Bewegung), geistiger (Spiele, Schule) und emotionaler (Konflikte, Streit mit anderen) Ebene. Sie beziehen sich auf das Bedürfnis nach Wandel und Wechsel, nach Veränderung, sie fordern die Kreativität heraus und führen so zu intrinsischen Motivationen, Selbstwirksamkeit, Selbstvertrauen. Bedürfnisse nach Orientierung und Kontrolle sind jene nach einem kohärenten Leibempfinden, nach Kraft, Aktivität, Intentionalität, Urheberschaft und Selbstwirksamkeit, nach Abgrenzung ebenso wie nach Kontinuität, nach einem kohärenten Selbstbild im Rahmen einer personalen Identität. Des Weiteren nach Struktur, emotionaler und kognitiver Orientierung in der Lebenswelt sowie danach, Selbstregulation und Handlungskontrolle im Sinne der Konsistenzerfahrung zu erreichen (Gasiet, 1980; Osten, 2009).

Die halbwegs treffsichere, lebendige Resonanz (Petzold, 1995) auf diese Grundbedürfnisse aus der unmittelbaren Umgebung bringt den Menschen, in der Frühentwicklung, aber auch über die Lebensspanne hinweg, auf ein Niveau von Sicherheit, das die Möglichkeiten seiner Entwicklung optimiert und, im Fall von Verstörungen und Traumatisierungen, ein wesentliches Moment der Heilung und Linderung darstellt (Porges, 2017; Kasser, 2004). Vermittelt wird diese Sicherheit zu Beginn des Lebens durch elterliche Präsenz (leiblich, emotional, kognitiv, volitiv, wertschätzend, Grenzen achtend) bzw. durch die liebende Zuwendung der Eltern (Gumbrecht, 2004). Das Kind ist dabei aber nicht nur ein passiver Empfänger elterlicher Wohltaten, von Beginn an steuert es Interaktionen und Liebesdialoge zwischen ihm und den Eltern mit, triggert sie, selektiert durch die eigenen Wahrnehmungen und Motivationen. Das Dasein des Kindes verändert auch die Familie, jedes neu hinzukommende Kind lernt eine andere Familie kennen als alle anderen zuvor (siehe II/3.2), es wählt nach kontingenten Kriterien seine Lernerfahrungen aus und gestaltet seine Umwelt bis hinein in die Formen der Liebe und Zwischenleiblichkeit mit (Dunn & Plomin, 1996). Weder ist die elterliche Liebe eine Einbahnstraße hin zum Kind, noch sind Lernerfahrungen der Art, dass das Kind nur passives Lernopfer wäre. Dies tritt umso deutlicher zutage, wenn Eltern in ihrem Kind von Beginn an ein eigenes, ihnen noch fremdes Wesen erblicken wollen, das erkannt werden will (Drerup & Schweiger, 2019; Hasse & Schreiber, 2019).

Der vielleicht zentralste Punkt im anthropologischen Weltverstehen betrifft den Wandel. Was in psychologischer Hinsicht als die Entwicklung des Menschen über die Lebensspanne beschrieben wird, sind in kultur- und geisteswissenschaftlicher Hinsicht der Wandel und die Metamorphose (Orth & Petzold, 1990). Wir erhalten von außen – aus der Einbettung in die ökologische und soziale Welt – beständig identitätsrelevante Informationen, Zuschreibungen, Außenattributionen (Identifizierungen), und bekommen ebenso beständig aus dem somatischen Binnenraum interozeptive Informationen. Beides begründet das Dasein als „informierter Leib“ (Petzold, 2011a). Dieses Spannungsverhältnis zweier miteinander verschränkter und manchmal auch konfligierender Informationsströme kann einerseits narrativ aufgeschlossen werden, andererseits als beständiger Strom selbstversichernder Interozeptionen dienen. Durch beides vollzieht sich unserem Dasein als Leib-Selbst permanenter Wandel und zugleich hinlängliche Beständigkeit (Ipseität; vgl. Ricœur, 1991, 196).

Der Andere, die Liebe

Die Liebe ist ein großes geisteswissenschaftliches Thema, das sich von hier aus in verschiedenen Metamorphosen und Bedeutungen durch die gesamte Lebensspanne zieht. Ihre wissenschaftliche Beachtung verhält sich reziprok zu der Bedeutung für den Menschen. Das Gelingen der Liebe oder das Gelingen einer Annäherung an sie stellt eine „ernste Frage“ (Böhm, 2013) dar.

Es sind viele Simplifizierungen hinsichtlich der Liebe vorgenommen worden, die ihrem herausfordernden Kern stets ausgewichen sind. In der Antike wurden ihre Facetten zwischen Eros, Philia und Agape angesiedelt, später durch die Römer um die Laetitia, die Liebe zu Gott, ergänzt (Comte-Sponville, 1998). Bis heute wird die Liebe irreführenden Verzerrungen ausgesetzt, etwa in Richtung romantischer oder religiöser Überhöhung, aber auch in Richtung von Entwertungen als Illusion, weiter in Reduzierungen auf die körperliche Liebe, die Sexualität als Spaß- oder Ertüchtigungsprogramm, dirty sex oder in Richtung der Ernüchterung als sexuelle Triebenergie oder Fortpflanzungsprogramm. Vom Positivismus wird sie als irrational disqualifiziert, an den Rand des Ungesagten verschoben, bloß noch als ein Spiel von Transmittern und Hormonen betrachtet (Osten, 2017a). Dem gegenüber stehen Anthropologien, die das Menschsein an sich aus der Paarliebe heraus verstehen und es einer Apologie des Erotischen unterziehen: „Der Mensch wird erst als Paar zum Menschen“ (Fellmann, 2005; Marion, 2013). Aus postmoderner Sicht klingt das uncool, wir werden aber sehen, dass die Liebe eine Mutprobe an den „autonomen Menschen“ (Höffe, 2015) darstellt, er schwankt, wenn er nicht sogar zerrissen ist, zwischen verblendeter Selbstbehauptung und den geheimen Versprechen der Hingabe.

Der Liebe eignet zuallererst ein pragmatischer Aspekt: Man liebt das, worum man sich sorgt, und man sorgt sich um das, was man liebt (Frankfurt, 2014). Auf basaler Ebene und in der Kindheit für Gesundheit und Wohlbefinden unverzichtbar, wird die Liebe in der Pubertät und im Erwachsenenleben gleichermaßen als eine der größten Herausforderungen für den Menschen wahrgenommen. Ist sie zu Beginn des Lebens noch ein Programm mit der Frage „Werde ich geliebt, von anderswoher?“, kann sie das im weiteren Verlauf nicht bleiben, ohne dass das Subjekt ewig Kind und abhängig bliebe. Marion (2013) fordert die Liebe des Erwachsenen daher mit einem zweiten Satz heraus, er fragt: „Kann ich als Erster lieben, vor dem anderen?“ Hier wird die Wende vom passiv-rezeptiven Modus in ein Bewusstsein der Liebesfähigkeit und das Bedürfnis, zu lieben, beschrieben. Da die Liebe sich weder im Subjekt selbst noch im Anderen intentional erzeugen lässt, stellt sie sich dem Menschen als Widerfahrnis dar. Präziser gesagt ist sie ein „Ereignis“ im Sinne Badious (2015b, 28), das an sich „vollkommen undurchsichtig bleibt und nur in seinen vielfältigen Folgen in einer wirklichen Welt Wirklichkeit hat“ (Osten, 2017a).

Vom Subjekt aus betrachtet, stellt die Welt sich als ein auf das eigene Selbst hin geordneter Zeugzusammenhang dar. Die Vernunft stellt die Domäne des Verstandes dar, die Liebe jene des Herzens (Frankfurt, 2016). Diese Ordnung wird verstört durch das Auftauchen des Anderen. Sein Erscheinen bringt eine fremde, diese Ordnung verstörende Wirklichkeit auf den Plan, mit der es sich auseinanderzusetzen gilt. Dies umso mehr, je stärker sich uns ein Begehren vermittelt, das keine rationalen Gründe mehr in sich trägt. Für Jean-Paul Sartre (1995 [1936], 339f.) stellte das eine Bedrohung der Freiheit dar, er meinte, „dass meine Welt zum Anderen hin abfließt“ und dass er „durch den Blick des Anderen zum Gegenstand“ gemacht werde. Erst durch die eigene leibliche Präsenz, indem man „den Blick des Anderen bezaubert“, könne man das Blatt wenden, indem man sich selbst für den Anderen zum Horizont der Welt macht – und damit selbst zum Leib wird.

Auch wenn man Sartre hier nicht folgen muss, stellt die Liebe eine Konfrontation mit dem „Fremden“ (Kristeva, 1990), dem „Anderen“ (Han, 2016) dar, dem, was man selbst nicht ist oder nicht hat, oder dem, was einem fremd ist in sich selbst (vgl. Baumann & Bischof, 2016). Mit Blick auf diesen Aspekt bezeichnet Alain Badiou (2015b) die Liebe als „Wahrheitsverfahren“, in mehrerlei Hinsicht: erstens, ob man dem „Nicht-Ich“ (der „Negativität“ bei Hegel, 1807) des Anderen standhalten kann, ohne diesen herabzusetzen, zweitens ohne sich im Anderen zu verlieren, drittens, ob man zulassen kann, dass Wahrnehmung, Bewusstsein und Welterfahrung sich durch die Begegnung mit dem Anderen wandeln, nicht mehr dieselben bleiben, die man „als der Eine“ hatte. Wer liebt, bleibt sich niemals gleich, sondern er gibt sich einer äußerst lebendigen Metamorphose hin – der Wahrheit zu zweit –, der Ausgang ist ungewiss (Badiou, 2015b).

Das Andere, das Fremde stellt für den Menschen eine Provokation dar. Dabei kommt keine Form der Sozialität ohne die Konfrontation mit der Alterität aus (Waldenfels, 2006, 2015; Ricœur, 2006). Die Liebe stellt in dieser Hinsicht eine besondere Form von Sozialität her. Obwohl die Begegnung mit dem Anderen zunächst eine Distanz einschließt, soll eben durch diesen Abstand zwischen den Liebenden ein „Spielraum“ entstehen und erhalten bleiben (Jullien, 2014b). Dies ist nur möglich, wenn der Andere etwas Undurchsichtiges, Undurchdringliches bleiben darf. Das soll nicht nur ausgehalten werden, das will auch genossen sein. Die erotische Liebe stellt die Frage, ob man zu zweit fähig und in der Lage ist, Differenz schöpferisch zu nutzen. Das Begehren und emotionelle Nöte des Subjekts stehen dem oft im Weg, woraus der Impuls entstehen kann, des Anderen habhaft zu werden (Lévinas, 1998; Theunissen, 1981). Gefühle der Einsamkeit und Isolation können aber nur durch die Präsenz des Anderen aufgehoben werden. Daher fallen im Augenblick, in dem man den Anderen sich gleich zu machen versucht, Sozialität, Alterität und alle Spielräume in sich zusammen.

Ohne das Andere bleibt das Selbsterleben verwaschen, weil die Bestimmung dessen, was man ist, sich nur durch Abhebung und Differenzierung vom Nicht-Ich begreifen lässt. Die Negierung des Anderen führt daher in eine Agonie der Identität (Ricœur, 1996; Han, 2016; Baudrillard, 1978). Zuweilen fühlt der Mensch sich durch diese Abhängigkeit, aber auch durch das Fremde an sich, bedroht. Dieses Fremde erscheint ihm – selten, dass dies bewusst würde – auch als eine Widerspiegelung des Fremden in sich selbst (Kristeva, 1990). Angst vor dem Fremden, Paranoia und Feindseligkeit verhindern eine Begegnung und Überprüfung, die das Fremde als eine ,gute Herausforderung‘, vielleicht sogar als eine Bereicherung erscheinen lassen könnten.

Alain Badiou (2015b) zitiert Arthur Rimbaud: „Die Liebe muss neu erfunden werden.“ Im Falle der erotischen Liebe zeigt sich, dass dies jedes Paar zu vollziehen hat, damit sogar der Andere, die Welt und auch das eigene Selbst neu erfunden werden müssen. Hier ist die Liebe die reale Möglichkeit, bei der Geburt der Welt dabei zu sein. Das ist die „Welt der Zwei“, die nur vom Gesichtspunkt des Unterschiedes erfahren wird (ebd., 42). Die Liebe spannt eine Art Brücke zwischen zwei Einsamkeiten, sie will die Differenz durchqueren, sie stellt einen Kampf gegen die Isolation dar. Sie ist eine Transformation der eigenen Existenz durch eine Begegnung mit dem Anderen. Ihr Beginn ist absoluter Zufall, Kontingenz. Die Liebeserklärung erst stellt einen Übergang dar vom Zufall zum Schicksal, dem man im Rahmen einer Beziehung Dauer verleiht. Dabei wird die Liebeserklärung in einem Modus ,ohne Zeit‘ gegeben, und das heißt, sie stellt Ewigkeit ins Zentrum ihrer Intention. Aus all diesen Gründen steht die Liebe auch am Ursprung von heftigsten existenziellen Krisen, gibt es nicht nur das Wunder der Liebe – es wird vom Subjekt auch Mut zur Liebe verlangt, schließlich eine Art Arbeit in und mit der Liebe (ebd., 47, 67; Kramer & Petzold, 2017b; Scheler, 1955; Schönherr-Mann, 2012).

Die Liebeserklärung besiegelt das Ereignis der Begegnung, im radikalen Vertrauen auf die Kontingenz verpflichten sich die Liebenden. Diesen Großmut trotz, vielleicht sogar gegen alle Begrenzungen des Menschlichen aufzubringen, deutet den ,Wahnsinn der Liebe‘ an, in dem das tiefste Glück sich erst findet. Selbstöffnung erzeugt Furcht vor Selbstverlust und das Wissen darum, dass man etwas schuldig bleiben wird. Im bloßen Konsumieren von Liebe, Lust und Sexualität kann das Subjekt seine Autonomie weitgehend wahren, es bleibt ihm aber besonders in der Lust das Erlebnis verborgen, den eigenen Leib im Höhepunkt in völliger Abhängigkeit vom Anderen her zu erfahren – „seinen Körper auszuliefern, sich auszuziehen, nackt für den anderen zu sein, unvordenkliche Gesten zu vollziehen, jede Scham aufzugeben, zu schreien, diese ganze Inszenierung des Körpers kann als Beweis für eine Hingabe an die Liebe angesehen werden […]. Anders als die Freundschaft will die Liebe daher, dass ihr Beweis das Begehren umfasst. Die Zeremonie der Körper ist das Pfand des Wortes, das in der Liebeserklärung gegeben wurde“ (Badoiu, 2015b, 37).

Die Postmoderne hat eine Tendenz zur „Austreibung des Anderen“ (Han, 2016) hervorgebracht, dem gegenüber generiert sie einen „Terror des Gleichen“: „Man nimmt Kenntnis von allem, ohne zu einer Erkenntnis zu gelangen. Man häuft Informationen […] an, ohne Wissen zu erlangen. Man giert nach Erregungen, in denen man sich immer gleich bleibt. Man akkumuliert […] Follower, ohne dem Anderen zu begegnen. Soziale Medien stellen eine […] Schwundstufe des Sozialen dar.“ (ebd., 9). In analoger Weise soll die Liebe oder wenigstens das Begehren des Anderen als Wunschkonzert (Online-Partnervermittlungen), als Kuschelprogramm oder als behagliche, konsumatorische Sexveranstaltung designed werden. Dies entspricht dem Wunsch nach einer Vollkaskoversicherung, einer Liebe ohne Risiko, ohne Zufall, ohne Herausforderung durch das Fremde.

Gefahren werden dabei auf die Seite des Anderen verschoben, der dann eben als „nicht modern“, „zu sensibel“ oder „romantisch“ diagnostiziert wird. Wer leidet, ist selbst dran schuld. Das Gegenstück hierzu ist der Versuch, die Liebe herunterzuspielen, entweder als pure Verrücktheit, als Modus der Natur, die Fortpflanzung voranzutreiben, als imaginären Anstrich über dem Realen des Geschlechtlichen. Diesen abgezehrten Formen fehlt sowohl der Stachel der Leidenschaft als auch die belebende Kraft des Anderen, weil die digitale Abstandslosigkeit und das Kalkül der Risikominimierung alle Spielformen von Nähe und Ferne hyperproduktiv beseitigen (ebd., 11; Illouz, 2007; Foucault, 1989a).

Dies zeigt letztlich, wie schwer es für den Menschen ist, seine Balance in all dem zu finden. In ihrer aufsteigenden Kontinuität, begonnen bei der Anziehung, über Erotik, die Intimität bis hin zur Sexualität – als ein einziges Phänomen –, wird die Liebe selten gesehen. Noch weniger als ein existenzielles Programm zur Findung subjektiver Wahrheit über sich selbst – über die Konfrontation mit dem Anderen (vgl. aber: Han, Marion, Badiou, Illouz, Baudrillard, Butler, Jullien, Barthes, Nancy). Dieses Programm, mitsamt Erotik und Sexualität, wird erst nährend, wenn das Konsumatorische zurücktreten kann, der Ernst der Herausforderung bewusst wird und das Subjekt bereit ist, nicht nur das Wunder oder das idealisierte Rauschhafte zu suchen, sondern sich auch auf existenzielle Tiefen und Schmerz einlassen kann.

Dies führt beim Menschen in der Regel zu mannigfaltigen Konflikten und Ambiguitätserfahrungen; wenn es aber gelingt, zu Weitungen der Horizonte, in geistiger wie auch in leiblicher Hinsicht. In universeller Art zu lieben bedeutet, in ständiger Resonanz zu stehen mit allem, was in der Welt das Dasein mit Leben erfüllen kann. Die Liebe will unsere Öffnung, die Zustimmung zu dem, was ist. Auf allen Ebenen. Der Rückzug auf die eigene Subjekthaftigkeit oder die eigene kulturelle Identität bieten nur marginale Sicherheit, sie lassen das Subjekt verarmen (Bataille, 1994; Jullien, 2017; Nancy, 2010).