Kitabı oku: «Getrieben - Adoptiv-Knilch packt aus», sayfa 4
Ohne Hund zu leben, hielt ich, seit mehreren Jahren Rentner, wirklich nicht aus, zumal meine Frau, voll berufstätig, den ganzen Tag außer Haus war. Wieder einen großen Hund? Nein! Eine kleine Hündin, wie unser Tierarzt sie hat, ja.
Blick ins Internet: Tatsächlich, unglaublich niedliche Welpen im Angebot. Jetzt als Rentner habe ich viel mehr Zeit, mich um ein solch kleines Wesen zu kümmern, dachte ich, mehr als Heimleiter damals, als die Sozialisation der mir anvertrauten Kinder und Jugendlichen Vorrang hatte.
Duisburg-Meiderich. Acht Wochen alt, entwurmt, geimpft, zweitletzte vom Wurf: Noch namenlos. Sie streckte sich uns aus der Wurfkiste entgegen, kuschelte sich in Frauchens Hand, schnupperte.
Tierarzt Aloys’ blitzschnelle Untersuchung. Er hatte uns begleitet, war neugierig auf das kleine Wesen.
„Wenn ihr sie nicht haben wollt, nehme ich sie, Emma wird sich freuen.“ Emma war seine ältere Zwergschnautzer-Hündin.
Alles in Ordnung, signalisierte er. Ich blickte in ihr Gesicht, sah die dunkle Fellfärbung um das Näschen, die fast weißen Haare drumherum, die bernsteinglänzenden Äugelein, die kleinen Pfötchen und hatte sofort das Verlangen, dieses kleine Bündel beschützen zu wollen. Große Hunde passen auf dich auf, kleine Hunde musst du behüten, dachte ich spontan.
Auf der Rückfahrt kuschelte sie sich in meinen Arm, schmiegte ihr Köpfchen in meine Hand, zufrieden andeutend: Zu euch wollte ich. Die Trennung von der Mutter schien ihr nichts auszumachen. Wir waren total irritiert. Wir hatten damit gerechnet, dass sie weinen würde, Hunde können weinen, aber nichts Derartiges geschah. Wie selbstverständlich ging sie mit uns. Völlig unbefangen, voller Zutrauen, im Gegensatz zu mir damals, als ich meinen neuen Eltern folgte.
Zuhause stellten wir einen rechteckigen, hohen weichgepolsterten Korbkoffer ohne Deckel direkt neben unser Bett. Dahinein setzten wir sie. Sofort streckte sich der kleine Körper zu voller Länge, die Pfoten erreichten gerade den oberen Rand. Sie versuchte, hoch zu klettern. Plumps, lag sie. Ein neuer Versuch. Mehr Schwung, wieder nichts. Sie gab nicht auf, beim fünften Mal erschien ihr Köpfchen über dem Kofferrand und plumps, lag sie in unserem Bett. Wir strahlten, als sie sich zwischen uns einrollte und genüsslich die Äugelein schloss. Jetzt hatte sie ganz gewonnen, ganz nahe bei uns, als ob es vorherbestimmt gewesen sei.
Den Blechnäpfchen, eines mit Wasser, das andere mit Welpenfutter gefüllt, näherte sie sich am nächsten Morgen ganz vorsichtig, eher noch abweisend, als ob von ihnen eine Gefahr ausginge. Ob sie den anderen im Rudel immer den Vortritt lassen musste, überlegte ich, würden die Blechgefäße sie an Rangkämpfe erinnern? Also tauschte ich die Blechnäpfe mit Keramikschüsseln aus. Siehe da, sofort nahm sie das Futter und Wasser an. Ich strahlte: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt!
Florentine, genannt Flo oder Flöchen, wuchs heran, gewöhnte sich an unseren Tagesablauf und tat alles, um geliebt zu werden. Sie zeigte an, wann sie in den Garten musste, verstand jedes Wort und wusste, wann sie zu gehorchen hatte. Zuerst an der Schleppleine, spazierten Frauchen und sie durch den Buchenberg-Wald. Sie verstand, nicht vom Weg ins Unterholz laufen zu dürfen, weil dort viele Gefahren lauerten. Wenn Jogger kamen oder Radfahrer hieß der Befehl „Stopp“, sich sofort auf den Po zu setzen und sitzen zu bleiben. Nach wenigen Wochen las sie ohne Leine die ‚Zeitung‘, höchstens zehn Schritte voraus.
Unser Grundstück war eingezäunt. So war es Flo verwehrt, eine überaus Neugierige, ihre nähere Umgebung außerhalb zu erkunden. Zur Abwechslung bauten sich Wildkaninchen vor den Terrassenfenstern auf, kratzten sich, jagten einander und grinsten in Richtung Flo. Sie stand am Fenster, zitternd vor Erregung, in höchsten Tönen bellend und bittend, doch endlich die Tür geöffnet zu bekommen. Kaum kam ich ihrem Wunsch nach, stob sie hinter den davonrasenden Kaninchen hinter her. Kurz, bevor sie hätte zupacken können, machte sie einen Bocksprung und blitzschnell verschwanden die Tiere in ihren unterirdischen Bauen, die sie sich in die Lärmschutzwand gebuddelt hatten. Das war der Beweis für mich, dass Flo eigentlich nur mit ihnen spielen wollte. Das begriffen die jungen und älteren Exemplare nicht, die sich an unseren Stauden satt fraßen und die herabhängenden Zweige der Trauerweiden in achtzig Zentimeterhöhe rundum kahlrasierten.
Neue Nachbarn zogen neben uns ein. Ein drolliger schwarzer Mops lugte durch den Maschendrahtzaun zu uns hinüber. Nase an Nase begrüßten sie sich. An einer Stelle zum Nachbarn öffnete ich den Zaun, damit die beiden Hündinnen miteinander toben konnten. Der Mops drückte eines Tages den Zaun zur Straße hin nach oben, weil auf der anderen Zaunseite ein fremder Hund zur Begrüßung bellte, womöglich auch aufforderte, die Welt zu erkunden. Neugierig wie Flo ist, zwängte sie sich unter dem Draht hindurch und eilte dem fremden Hund hinterher. Der rannte wohl zu seinem Herrchen, Flo hinterher.
Ich kam aus der Dusche und rief sie. Sie kam nicht, stattdessen der schwarze Mops, irritiert. Ich suchte unter allen Sträuchern. Hoffentlich hat sie nicht wieder einen epileptischen Anfall wie vor einigen Monaten, hoffte ich. Damals lag sie wie Tod auf dem Rasen, atmete kaum, die Augen geschlossen. In Panik rief ich den Tierarzt an. In meinen Armen liegend, erwartete ich ihn. Nach etwa zehn Minuten, kurz bevor der Doc kam, rührte sie sich wieder, hob ihren Kopf, sah mich aus langsam erwachenden Augen an. Der Doc diagnostizierte einen epileptischen Anfall, der während der ersten Hitze vorkommen könne. Seitdem hatte sie nie wieder einen.
Ich schwang mich aufs Fahrrad und fuhr unsere Siedlung ab. Nichts. Zeitgleich kam meine Frau von der Arbeit zurück. Aufgelöst berichtete ich ihr, als plötzlich das Telefon schellte.
„Hier ist das Tierheim Rote Erde. Ihr Hund ist bei uns abgegeben worden!“
Aufatmend kamen wir am Tierheim an. Geschlossen! Auf keinen Fall wollten wir Flo dort über Nacht lassen. Läuten im Nachbarhaus, freundlich-mitfühlende Mitarbeiterin des Tierheims, freudestrahlend schlossen wir unser verängstigtes Häufchen Elend in die Arme.
Wochentags steht sie mit mir um Punkt halb sechs auf, verschwindet kurz in den Garten, während ich das Frühstück für Frauchen und mich zubereite. Da sie die Treppe hinauflaufen kann, eilt sie ins Badezimmer, um ihr Frauchen zum Frühstück abzuholen. Gemeinsam kommen sie freudestrahlend die Treppe hinunter, Flo im Stechschritt, immer an Frauchens Schnürsenkeln hängend.
Wenn Frauchen dann hinaus zum Auto geht, stehen wir beide in geöffneter Tür, winkend, sie mit ihrem Hundeschwänzchen, und hoffen auf eine gesunde Heimkehr. Kaum ist das Auto außer Sichtweite, dreht sie sich um und hüpft über die Treppe ins Bett mit einem kurzen Bell: „Herrchen, wo bleibst du?“
Am Wochenende geht sie mit Frauchen Brötchen holen, inspiziert auf dem Weg zum Bäcker alle Vorgärten, markiert fünfzig Mal ihren Besuch auf kleinen Beet-Pflanzen und neckt alle Hundefreunde, die kläffend hinter der Haustürscheibe toben. So, wie sie, bekannt als springendes, tierisch-bellendes Wollknäul, wenn die anderen Vierbeiner an unserer Haustür vorbeischleichen. Wenn die Türen zum Garten geöffnet sind, rast sie hinaus zum Zaun, um ihren besten Witz loszuwerden. Manchmal haben wir Angst, dass sie vor lauter Erregung einen Herzinfarkt erleiden könnte. Andererseits, so hoffen wir, schreckt ihr Bellen Einbrecher prophylaktisch ab, denn sie hat ein ausgesprochen feines Gehör und eine weithin hörbare Klangfülle.
Was mich völlig überrascht, ist die Tatsache, dass Flo ihre Zuneigung zu uns in einem ausgewogenen Verhältnis zeigt. Wenn einer von uns außer Haus ist und sie nicht mitgenommen hat, steht sie an der Eingangstür und wartet, mit einem Abstecher durch den Garten, um die Wildkaninchen aufzumischen. Man muss ihr dann klar machen, warum der andere gerade weggefahren ist, wann er wiederkommt und wie wir die Zeit miteinander verbringen könnten. Dann ist sie ziemlich ruhig.
Punkt Viertel nach Fünf rennt sie zur Haustür. Frauchen muss ja gleich zurückkommen! In höchsten Tönen bellend kommt sie zu mir gerannt: „Frauchen kommt!“, wenn das Auto ins Carport einbiegt, um sofort wieder zur Eingangstür aus Glas zurück zu hüpfen. Kratzend, schnüffelnd, vor Freude quietschend wartet sie, um dann, wenn sich die Tür öffnet, an ihrem heißgeliebten Frauchen emporzuspringen, immer wieder, trotz nasser oder sandiger Pfoten, trotz Frauchen Aufschrei: „Nein. Nicht springen. Dreckpfoten!“ Dann streckt sie sich der Länge nach, legt ihre Vorderpfoten in die ausgestreckten Hände meiner Frau und versucht, mit ihrem Näschen das sich ihr zubeugendes Gesicht zu stupsen, manchmal mit blitzartig schnellem ‚Zungenkuss‘. Auf diese Begrüßung freuen wir uns jedes Mal, wenn wir heimkehren. Ach, wäre es doch unter uns Menschen auch so!
Angeleint, stöberten wir durch unsere kleine Stadt. Beim Bäcker ließen wir uns nieder zu einem Pott Kaffee und zwei Milchbrötchen, genau aufgeteilt. Auf dem Rückweg schlenderten wir an leerstehenden Geschäftsräumen vorbei, sie schnüffelnd, alle zehn Meter markierend, während ich darüber nachdachte, wie man diesem Leerstand begegnen könnte. Ich stellte mir vor, dass Flüchtlinge, die in die zu Wohnungen umgebauten Geschäftsräume einziehen könnten und, ähnlich einem Bazar, vor ihren Wohnungen an kleinen Sitzgruppen Tee für Einheimische anböten, um Gastfreundschaft und Kommunikation zu fördern.
In diesem Augenblick querte eine ältere Dame mit ihrem Rollator unseren Weg.
„Ach, ist der süß! So ein kleines Hundchen hatte ich auch! Leider …“
Wir blieben stehen. Flo begrüßte die Dame ausführlich schnuppernd, sprang vorsichtig an ihr hoch, um gestreichelt werden zu können.
Ich sah, wie sie einige Tränen wegfegte, ein wenig traurig-resigniert, mehr wütend.
Auf meine Nachfrage sprudelte es aus ihr heraus. Sie musste in eine Wohnung des Betreuten Wohnens ziehen. Ihren liebsten Begleiter, nach dem Tode ihres Mannes, durfte sie nicht mitnehmen.
„Wissen Sie“, empörte sie sich, „mein Stupsi sieht genauso aus wie ihr Flo, haart nicht, ist stubenrein, ruhig, versteht jedes Wort, bellt nicht unnötig, kurz ein ganz liebes Kerlchen. Ich vermisse ihn so!“ Verstohlen strich sie ihre Tränen aus den Augen. „Wo ist ihr Hundchen jetzt“, fragte ich anteilnehmend.
„Bei Bekannten. Am Wochenende kann ich ihn besuchen. Aber, das reicht einfach nicht! Der Vermieter müsste doch wissen, dass es mir viel besser ginge, wäre mein Hund bei mir! Aber, das ist dem egal. Vorschrift ist Vorschrift!“
Sie schob ihren Rollator weiter über das Kopfsteinpflaster, müde, weinend.
Lange dachte ich über unsere Gesellschaft nach, über die Lieblosigkeit, über mangelnde Flexibilität, über die Gewinnsucht und das Verhältnis der Menschen zueinander. Flo sprang an mir hoch, stupste mich, als wollte sie sagen: Ich bin bei dir!
Wieder kamen Aloys und seine Frau Simone zum Doppelkopf-Spielen zu uns. In Begleitung Emma und ihr Neuzugang, Pöffel, ein halbes Jahr jung, ebenfalls ein reinrassiges Zwergschnautzer-Mädchen.
Im Gegensatz zu Flo, die uns als Zwergschnautzer angeboten worden war, sich allerdings als Hybridhündin herausstellte. Ein ‚Schnoodle‘, eine Kreuzung zwischen zwei Rassehunden, Zwergschnautzer und Zwerg-Pudel, in den USA weit verbreitet, bei uns als Rassehund nicht anerkannt.
Emma schlich stiekum unsere Treppe zum Obergeschoß hinauf. Pöffel blieb unten, weil das Treppensteigen zu gewagt war. Als Emma wieder herunterkam, muss sie Flo gesagt haben, dass dort oben ein Geist sei, sie solle vorsichtig sein, bloß nicht allein hochgehen.
Was passierte?
Als wir uns am Spätabend nach oben begeben wollten, streikte Flo auf halber Treppe. Auf meinen Armen streckte sie alle Viere von sich und zitterte vor Angst. Als sie sich an den folgenden Tagen ebenfalls weigerte, versuchten wir, den Grund für ihre Angst zu erforschen. Wir fanden nichts und erklärten ihr, dass sie keine Angst zu haben brauche, Emma hätte sich wohl geirrt.
Was geschah?
Am nächsten Tag glaubte ich zu träumen, als ich sah, wie Flo sich auf der viertletzten Stufe umdrehte und rückwärts die vier Stufen nach oben stakste. Mit beiden Hinterläufen und dem Po zuerst, jede einzelne Stufe sich hochdrückend. Es sah so drollig aus!
Welche Denkleistung muss dahinter stecken, wurde mir bewusst, wenn Flo der Gefahr nicht ins Auge sehen will, sondern dem Feind den Hintern zeigt!
Dieses Verhalten demonstrierte sie auch unserem Tierarzt und anderen Freunden, die sich vor Lachen bogen und gleichzeitig überrascht von dieser Reaktion waren.
Mir als Jäger wird ganz schlecht, wenn ich darüber nachdenke, wie gleichgültig, oberflächlich, unwissend mein Verhältnis trotz aller angelesenen Kenntnisse zu Tieren war und ist.
Dieses kleine Wesen, auf meine Frau und mich gleichermaßen fixiert, ändert meine Sichtweise Tieren gegenüber grundlegend.
Der Gedanke erschreckt mich: Wenn meine Frau und ich mich trennen würden, bei wem soll Flo dann leben? Flo, die genau weiß, dass sie uns beiden die Gleiche Nähe zeigen muss, damit der eine nicht auf den anderen eifersüchtig ist.
Vielleicht spinne ich, mache ich mir etwas vor, aber, Flo würde verkümmern, hätte sie nur einen von uns beiden!
Und wenn das so ist, dann mag ich nicht darüber nachdenken, was ich mit meinen Scheidungen bei meinen Kindern angerichtet habe. Wie gnadenlos bin ich als Mensch.
METHODEN IM ZWIELICHT
Grundgedanken
Ich saß an meinem Schreibtisch, blickte durch das geöffnete Fenster, sog die würzige Waldluft in meine Lungen und träumte davon, ein Adler zu sein, über die Wipfel zu fliegen und über tiefe Täler, so, wie ich es in der Nacht zuvor geträumt hatte. Dieses Fliegen, mit beiden Armen flügelschlagend, hochpumpend, vom Abhang ins Leere springen, den Aufwind nutzen und über die Wiesen und Baumwipfel gleiten, ein Traum, der tiefstes Glück verhieß und mich den ganzen Tag lächeln ließ.
Wenn ich vom ersten Rang in der Oper oder von der Orgelbühne in der Kirche hinunterblicke, verspüre ich den fast zwanghaften Drang, loszufliegen, es allen Anwesenden zu zeigen, wozu ich fähig bin! Ich stehe auf der Brüstung, ein Aufschrei der Anwesenden, und ich fliege über alle Köpfe hinweg. Erstaunen, Beifall, Anerkennung für meine Meisterleistung! Ich muss mir immer wieder eindringlich klar machen: Du kannst nicht fliegen!
Wenn mein Traum doch real werden könnte, hoffte ich früher, dann könnte ich es meinen Mitschülern und Lehrern zeigen, wozu ich fähig wäre. Dann gälte ich in ihren Augen sicherlich mehr als ein starker, naiver Waldmensch, mehr als ein ‚Bastard‘?
Wie oft sehnte ich mich danach, wieder im Traum zu fliegen. Ob ich wohl in einem meiner früheren Leben ein Vogel gewesen war, ein Adler oder ein Storch oder ein Fischreiher? Ich beobachtete zwei Tauben, die vor meinem Fenster auf einem Eichenast turtelten und beneidete sie um ihr Leben. Ich sah den Schwarm Mücken im Sonnenlicht, hörte den Specht wie wild hämmern und ließ zu, wie eine dicke Hummel durch das geöffnete Fenster taumelte, sich auf meinem Handrücken niederließ und erschrocken wieder das Weite suchte. Sie hatte sich wohl vertan. Jeder Blick aus dem Fenster entzauberte meinen geliebten Wald.
Darüber vergaß ich meine Pflichten, im Haushalt zu helfen, die Schularbeiten zu machen, den furchtbar stinkenden Inhalt des Plumpsklos im Garten als wertvollen Dünger zu verteilen, den Fahrradschlauch zu flicken, die Hundehütte zu säubern, Holz für den Ofen zu hacken, Tannenzapfen als Anbrennhilfe zu sammeln.
Meine Mutter verzweifelte an meiner Vergesslichkeit und beschwerte sich bei ihrem Mann über meine Faulheit. Und wenn Blaue Briefe aus der Schule eintrudelten, die mein Fehlverhalten auflisteten, lief das Fass über.
Ich saß auf der Liege, Vater hoch auf seinem Stuhl, zwischen uns der Schreibtisch. Zunächst erfragte er den Sachverhalt mit dieser für mich unerträglichen Frage: „Warum?“
Für ihn stand fest, dass ich einfach zu faul sei, fauler als damals er und sein Bruder zusammen. Zu faul zum Nachdenken, zu faul zum Planen, zu faul zum Handel.
Wie sollte ich ihm erklären, dass es Schöneres gibt, von dem ich träumte oder ergriffen war? Ich wusste nicht, wie ich die Vielfalt meiner Gedanken und Gefühle vermitteln konnte und ahnte zugleich, dass er meine Erklärungen als Ausreden werten würde. Ich schwieg. Das potenzierte seinen Zorn.
Gefährlich wurde es, wenn er aufstand, um seinen Tisch schritt, den Spazierstock aus der Ecke fischte und sich mir näherte. Das hieß für mich, aufstehen, bücken, Schläge auf den Hintern. Anschließend sauste ich nach draußen und verkroch mich mundharmonikaspielend auf dem Plumpsklo. Vater starrte aus dem Fenster in den angrenzenden Wald, traurig, dass er mich wieder hatte züchtigen müssen.
Mit etwa achtzehn Jahren gründete ich eine Jungschargruppe. Durch meine Tätigkeit innerhalb der katholischen Gemeinde als Messdiener lernte ich alle Jungen kennen. Mit ihnen wollte ich die Welt erleben. Zunächst dachte ich an eine Pfadfindergruppe. Dafür hätte ich Mitglied einer Pfadfinder-Gemeinschaft sein und an Gruppenleiterkursen teilnehmen müssen. Eine Jungschargruppe aufzubauen war unkomplizierter.
Mit vierzehn vorpubertären Jungen, die sich mehr für die Geheimnisse der Natur und weniger für Mädchen interessierten, machte ich eine Radtour von Wittingen nach Celle. Übernachtungen in einer Celler Jugendherberge. Die Jungscharkluft unterstrich die Gemeinschaft zu dieser Gruppe und wurde von den Jungen wie ein Heiligtum behandelt, so berichteten die Eltern.
„Die anderen Klamotten pfeffern sie in irgendeine Ecke, das Jungscharhemd kommt auf den Bügel, weil du das gesagt hast!“
Bei allen Gruppentreffen merkte ich, wie sehr die Jungen meine Gefühlswelten verinnerlichten, sei es am Lagerfeuer, wenn ich mit meiner Mundharmonika Abendlieder spielte, wenn ich ihnen Geschichten aus meinem Schülerleben erzählte oder ihnen aufzeigte, wie ich in Konfliktsituationen mit meinen Eltern reagiert habe.
Zum ersten Mal in meinem Leben begriff ich, was es bedeutet, von Jüngeren zu allen möglichen Themen befragt zu werden, ein interessierter Zuhörer zu sein und als ‚Vorbild‘ zu gelten, dem man vertrauen und dem man folgen kann.
Mein Vorschlag, eine große Radtour zu machen, wurde begeistert angenommen, von einigen Eltern allerdings ziemlich kritisch gesehen, wegen unkalkulierbarer Gefahren. Die Jungen überredeten ihre Eltern.
Damals gab es so gut wie keine Radwege, getrennt von den Autostraßen. Folglich mussten besondere Regeln eingehalten werden, damit keiner verunglückte. Wenn wir hintereinander in Kolonne fuhren, sollte jeder auf mein Handzeichen achten.
Ich fuhr vorweg, einer der ältesten Jungen am Schluss.
Wir radelten durch Celle. Auf einem Radweg. Ich hob den Arm zur Warnung, weil wir links abbiegen mussten. Rolf träumte und fuhr seinem Vordermann an das Hinterrad. Er stürzte samt Rad und rollte auf die Straße, direkt vor einen herannahenden Lastwagen. Vor Schreck stieß ich den Schrei aus: „Wegrollen!“ Rolf reagierte blitzschnell. Mit aggressiver Hornfanfare zog der LKW an uns vorbei. Mein Blick stieg zum Himmel mit tiefem Dank, da niemand verletzt war.
Dieses Ereignis stärkte die Fürsorglichkeit aller Gruppenmitglieder zueinander und zugleich die Bindung zu mir, einem jungen ‚Erwachsenen‘, bei dem man seine Angst zeigen kann, schwach sein darf und als Mensch Anerkennung erfährt,
An meinem dreißigsten Geburtstag schritt ich um mein privates Kinderheim samt Grundstück in der Nähe des Steinhuder Meeres, stolz wie Oscar, und nach den praktischen Erfahrungen während der ersten Monate überzeugt, meinen geplanten Grundgedanken treu bleiben zu können:
Niemals wirst du ein Kind mit einem Stock züchtigen oder sonst wie schlagen. Du wirst keine sinnlosen Verbote aussprechen, wie Fernsehverbot oder Hausarrest.
Wie habe ich meine Mutter gehasst, wenn ich zur Strafe im Zimmer bleiben musste.
Freiheit ist eines unserer höchsten Güter, sie zu beschneiden aus belanglosen Gründen erzeugt Ablehnung und Widerstand. Und Fernsehverbot? Was hat dieses Verbot mit dem begangenen Fehler zu tun? Wäre es nicht klüger, den Fehler wieder gut zu machen?
Wenn ein Kind etwas stiehlt, diesen Vorgang muss ich benennen, bringe ich mit dem Kind das Gestohlene wieder zurück. Die Scham auf seinem und meinem Gesicht könnte eine Verhaltensänderung bewirken.
Du wirst jedes Mal „JA“ sagen, wenn ein Kind dich um etwas bittet, nahm ich mir vor, weil ein JA dem Kind signalisiert, dass ich den Wunsch des Kindes grundsätzlich verstehe und ihm gerecht werden will.
„Aha“, registriert das Kind, „er versteht mich, er mag mich, er lässt mich nicht hängen!“
Gemeinsam wird überlegt, wie die Bitte des Kindes durch meinen Einfluss realisiert werden kann.
Es fällt keine Klappe, im Gegensatz zu einem „NEIN“. Bei dieser Ablehnung läuft ein Film im Kopf des Kindes ab, der verdeutlicht, dass ich als Erwachsener noch nicht einmal gewillt sei, mich mit seiner Bitte auseinander zu setzen.
„Er nimmt mich nicht ernst, ich bin unbedeutend für ihn, er sieht nur sich, er mag mich nicht!“
Diese Gedanken führen zur Resignation oder Aggression.
Noch klüger ist es, sagte ich mir, wenn ich vorausschauend weiß, was ein Kind gern hätte. Dafür muss ich mich in die Welt des Kindes, des Jugendlichen versetzen, mich vielleicht daran erinnern, auch mal in diesem Alter gewesen zu sein.
Wenn ich zum Tanken fahre und Kinder mitnehme, weiß ich, dass an der Kasse in Blickhöhe viele Leckereien locken, ebenso beim Einkauf im Supermarkt. Folglich lege ich vorher fest, wieviel sich jeder aussuchen darf zu welchem Wert. Und wenn ich dann flexibel bin, also unberechenbar großzügig, bekommt der Spruch: ‚Eine Hand wäscht die andere‘, einen zwischenmenschlichen Sinn.
Kein einziges Mal bin ich mit dieser Einstellung von Kindern oder Jugendlichen ausgenutzt worden, weil sie wussten, dass ich ihre Zuneigung nicht ‚erkaufen‘, sondern ihnen einfach nur eine Freude machen wollte.
In der Schule war es so, dass ich für die Lehrer am meisten gearbeitet habe, die mir zeigten, mich zu mögen, trotz meiner Wildheit, trotz meiner Unberechenbarkeit, trotz meiner Faulheit. Für ihn habe ich die Formeln gelernt, für sie die französischen Vokabeln. Keinen der beiden hätte ich je beleidigt oder verletzt. Ihre Güte, Nachsicht, Anerkennung meiner Person beflügelten meine Zuneigung zu ihnen.
Genau diese Zuneigung der Kinder und Jugendlichen zu mir wären nur über Gerechtigkeit, Verständnis, Großzügigkeit zu erreichen, sagte ich mir in Anlehnung an meine Erfahrungen.
Wenn ich mir das heute überlege, bin ich von den Kindern, die meine Interaktion intuitiv erspüren konnten, nie bestohlen oder beleidigt worden. Bei den wenigen, die sich nicht darauf einlassen konnten, weil sie sich vom schlechten Milieu nicht lossagen konnten, bereits zu abgebrüht waren oder zu schlechte Erfahrungen mit Erwachsenen gemacht hatten, blieb die von mir erwünschte Verhaltensänderung unerfüllt, leider.
Ich wusste, dass ältere Jugendliche den Drang haben, an Feten ihrer Freunde teilnehmen zu wollen. Die Feten werden allerdings erst ab elf Uhr nachts interessant. Folglich erwartete ich die Frage:
„Wie lange darf ich bleiben?“
Auf diese aggressionsauslösende Beantwortung wollte ich nicht hereinfallen. Ich stellte die Gegenfragen, wie lange sie denn bleiben möchten und bei wem die Fete stattfände, da ich sie, egal wie spät, von dort abholen würde.
Erstaunte Gesichter. Es rotierte im Gehirn, etwa so: Wenn ich zu lange bleiben will, meckert er; wenn zu kurz, habe ich selbst nichts davon.
Zaghafte Antwort: „Ja, so gegen ein Uhr?“
„Gut, um zwei, wenn eher, ruf’ an. Adresse? Telefonnummer?“
Alles klar. Freudestrahlend verabschiedeten sie sich. Natürlich dachte ich daran, dass Sex im Spiel sein würde, ebenso wie Alkohol oder sonstige Drogen.
Gegen das Schwangerwerden erhielten die Mädchen im entsprechenden Alter und nach Rücksprache mit ihnen selbst sowie der Gynäkologin die Drei-Monats-Spritze.
Über die Einnahme von Drogen aller Art waren sie aufgeklärt, müssten allerdings auch eigene Erfahrungen machen. Ratschläge sind gefragt, war ich mir sicher, Verbote laufen ins Leere, weil es ‚cool‘ ist, in der Clique über die Stränge zu schlagen.
Überrascht waren sie, wenn ich tatsächlich auftauchte, auch mal eben so zwischendurch, um mir ein ‚Bild‘ zu machen. Sie schwankten dann mit ihrer Beurteilung meines Blitzbesuches zwischen ‚total uncool‘ und ‚geht so, krass‘.
Wenn ein Kind „Mist“ gebaut hat, nahm ich mir vor, werde ich mit ihm reden und erklären, was mir wichtig ist. Nie werde ich das Fragewort: „Warum?“ stellen, sondern eine Erklärung für sein Tun aufzeigen, die es annehmen kann. Auch, wenn sie nicht hundertprozentig stimmen sollte, das Kind kann aber mit dieser meiner Interpretation sein Gesicht wahren. Ich gehe grundsätzlich davon aus, dass bestimmte Konstellationen oder Zwänge zu diesem Tun geführt haben müssen und somit nicht unbedingt dem Kind anzulasten sind. Außerdem: Hat nicht jedes Kind das Recht, Fehler zu machen?
Keine Befragung vor anderen Kindern, wenn es um ernste Auseinandersetzungen geht, lieber zunächst unter vier Augen. Ich wollte ein Klima des Verstehens schaffen. Ich wollte dem Kind signalisieren, dass es die Wahrheit sagen kann, ohne bestraft zu werden. Kinder haben die Erfahrung gemacht, dass sie, sagen sie die Wahrheit, für ihr Tun sanktioniert werden. Wenn sie lügen, kommen sie zunächst ungeschoren davon.
Natürlich war es vielen Erzieherinnen im Laufe meiner Heimleitertätigkeit suspekt, dass ich immer mit dem betroffenen Kind allein geredet habe. Schnell kam das Gerücht auf, als ‚offenes Geheimnis‘, dass ich Kinder züchtigen oder unter Druck setzen würde. Sie schlossen von sich auf andere, weil sie selbst davon überzeugt waren, mit Druck und drakonischen Strafen Verhaltensänderungen bei Heimkindern bewirken zu können.
Es hätte ihnen allerdings auffallen müssen, dass diese Kinder sich niemals über meine Gespräche mit ihnen unter vier Augen beschwert hatten. Stattdessen traten diese Kinder vor die Gruppe, in meinem Dabeisein, unter meinem Schutz, gaben ihr Fehlverhalten zu und erklärten, wie sie den Schaden in Ordnung bringen wollten.
Dieses Verhalten eines Kindes entsteht nur durch ein stetig wachsendes Vertrauen in die Fähigkeit des Pädagogen, negatives Verhalten in ein positives umzukehren. Das Eingestehen von Fehlern, ohne Beschönigung, gelingt nur, wenn es nicht als Schwäche zusätzlich bestraft und der Wille zur Wiedergutmachung realisiert wird. Ein pädagogischer Ansatz, der von allen Kindern als gerecht empfunden wurde und wird.
Ein Beispiel: In der Küche und zum Vorratsraum gab es keine verschlossenen Türen. Ich fand im Regal ein Würstchenglas mit einer übriggebliebenen Wurst. Der „Dieb“ hätte das ganze Glas mitnehmen und verschwinden lassen können. Hat er nicht. Ich interpretierte diese Tatsache als Aufforderung an mich:
Bekommst du heraus, wer der ‚Dieb‘ ist, und was passiert mit ihm?
Man könnte annehmen, dass diese Frage zukünftig unnötig würde, wenn man die Türen abschlösse. Genau das wollte ich nicht. Keine abgeschlossenen Türen in meinem Haus! Kein grundsätzliches Misstrauen! Es war eine Kardinalfrage: Traue ich den mir anvertrauten Kindern Ehrlichkeit zu?
Ich stellte der Gruppe genau diese Frage und bat den ‚Dieb‘, sich zu offenbaren. Als ‚Strafe‘ würde er ein zweites Glas Würstchen erhalten und die totale Anerkennung von uns allen, weil er sich getraut hätte, die Wahrheit zu sagen, ohne genau einschätzen zu können, was ihm tatsächlich passieren würde.
Er meldete sich, zaghaft, erstaunt.
Beifall von allen. Er musste beschreiben, wie und wann er die Würstchen stibitz hatte. Was er sagte, klang glaubhaft und wurde von einem anderen Kind bestätigt. Er nahm das zweite Glas strahlend entgegen.
„Fragt einfach, wenn ihr etwas haben möchtet!“
Genau das geschah und verhinderte verschlossene Türen. Schlaue Pädagogen hielten dagegen und fragten:
„Wenn das Schule macht?“
Kinder sind gerecht, meine Meinung. Keiner nutzte es aus.