Kitabı oku: «Der Tod - live!», sayfa 2

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Kilian Derungs ging zu seinem Giftschrank, wie er die antike Kommode nannte, holte sich ein grosses, bauchiges Glas hervor und schenkte sich einen Cognac Camus XO Elégance ein, schwenkte das Glas, liess den bernsteinfarbenen Edelweinbrand kreisen und roch den leichten Duft nach Vanille, der für diesen Cognac charakteristisch war. Er nahm einen Schluck. Dann lächelte er zufrieden, setzte sich und schaute sich das Video auf «Aktuell»-Online noch einmal an.

GREIFENGASSE, BASEL

Wie ein Kriegsreporter hielt Alex Gaster seine Fotokamera vor sich und schlich an den Sanitäts- und Polizeiwagen und den aufgebauten Zelten vorbei. Alex spähte hinein und sah, wie Menschen sich umarmten oder an Tischen sassen und redeten. Alex war sich sicher, dass es sich um Care-Teams handelte, die Opfer und Angehörige betreuten. Alex machte einige Aufnahmen und ging weiter. Schliesslich erreichte er das Zentrum der Katastrophe. Er fotografierte die weissen Menschen, die hinter den Absperrbändern auf den Knien mit allerlei technischen Geräten nach Spuren suchten. Alex entdeckte die zerborstenen Schaufenster des Warenhauses Manor und fotografierte sie. «Wer sind Sie?», fragte plötzlich eine Stimme. Alex drehte sich um und blickte in das grimmige Gesicht eines Polizisten.

«Ich suche meine Frau, also meine Freundin.» Alex versuchte, so traurig wie möglich dreinzuschauen.

«Gehen Sie zu diesem Zelt. Dort ist ein Care-Team. Das hilft Ihnen weiter. Hier können Sie nicht bleiben.»

Glück gehabt, dachte Alex und war froh, dass er nicht seinen Sohn, den er in Wirklichkeit gar nicht hatte, sondern seine Lebensgefährtin erwähnt hatte. Wie geheissen, ging er Richtung Zelt, entdeckte dann aber einen Fasnächtler in einem giftgrünen Heuschrecken-Kostüm, der mit einem Mann sprach, der einen Cashmere-Mantel trug. Er fotografierte die beiden aus sicherer Distanz mit dem Gefühl, dass die beiden irgendeine wichtige Funktion hatten. Dann steckte er die Kamera in seine Tasche. Er rannte los. Er schrie: «Wo ist meine Frau? Wo ist meine Frau? Ist sie tot?»

Alex lief direkt auf die Heuschrecke und den Mann im Cashmere-Mantel zu: «Hilfe!» Die Heuschrecke reagierte zuerst. Sie kam ihm entgegen und sagte mit angenehm sonorer Stimme: «Beruhigen Sie sich. Ich bin Kommissär Kaltbrunner. Sie suchen Ihre Frau?»

«Ja, ist sie tot? Ist sie tot? Sagen Sie es mir, bitte!»

«Nein, nein, sie ist sicher nicht tot. Es gab keine Toten ausser der Attentäterin.»

«Ich muss die Tote sehen, vielleicht ist es meine Frau. Wer ist die Attentäterin? Wo ist sie?»

«Beruhigen Sie sich. Ich begleite Sie zu unserem Care-Team!»

«Ich brauche keine Scheiss-Psychologen. Ich brauche meine Frau! Mara, wo bist du?» Alex schrie aus Leibeskräften und liess sich dabei auf die Knie fallen: «Mara!»

«Hören Sie, Ihre Frau ist nicht tot. Die Frau, die getötet wurde, muss um die fünfzig gewesen sein, das konnten die Gerichtsmediziner bereits feststellen. Ich nehme nicht an, dass Ihre Frau so alt ist. Zudem gehen wir davon aus, dass es sich um eine geistig behinderte Frau handelt.»

«Sie müssen diese verdammte Fasnacht abstellen, bitte!»

«Ja, wir werden versuchen, sie abzustellen. Aber jetzt kommen Sie bitte mit.»

Alex liess sich von der Heuschrecke mit dem Namen Kaltbrunner hochziehen und versuchte, Tränen in die Augen zu drücken, was ihm aber nicht gelang. Dafür stöhnte er laut.

«Gehen wir?», fragte Kaltbrunner. «Ja, ich gehe. Ich gehe ins Spital. Wo muss ich mich melden?» Alex riss sich los und rannte Richtung Zelt des Care-Teams. Er blickte zurück und sah, wie sich die Heuschrecke wieder dem Mann im Cashmere-Mantel zuwandte. Dann rannte er Richtung Claraplatz und passierte die Polizeisperre ohne Probleme. Er rannte über den ganzen Platz und stoppte erst beim Restaurant Holzschopf. Er kramte sein Handy hervor und rief seinen Chef Peter Renner, die Zecke, an. Zehn Minuten später piepste sein Smartphone und meldete eine Breaking-News der «Aktuell» -App: «Attentäterin ist tot. Es soll eine geistig behinderte Frau um die fünfzig sein. Polizei will Basler Fasnacht abbrechen.» Nach wenigen Minuten piepste sein Handy mehrmals: Die anderen Online-Portale hatten die neuste Information ebenfalls per Breaking-News-App verbreitet und sich auf «Aktuell»-Online berufen.

Dann ging er den Claragraben entlang zum Wettsteinplatz, verliess das fasnächtliche Getümmel, erreichte die Grenzacherstrasse, wo Busse der Basler Verkehrsbetriebe standen und von Fasnächtlern und Besuchern gestürmt wurden. Alle wollten so schnell wie möglich aus der Innerstadt hinaus. Alex ging weiter und sah die ersten TV-Übertragungswagen, die mit «International Broadcast» oder mit bekannten TV-Stationen wie «ZDF» oder «Südwestfunk ARD» angeschrieben waren. Alle Katastrophen-Reporter waren da. Aber er, Alex Gaster, hatte gewonnen. Seine News über die Attentäterin war exklusiv. Wenigstens für kurze Zeit. Bald würde irgendein anderer Reporter eine neue Exklusivität vermelden.

CLARAPLATZ, BASEL

Auch Joël Thommen hatte die «Aktuell»-App abonniert und musste feststellen, dass sein Kollege Alex die Nase vorn hatte. Er war zwar als einer der ersten Reporter vor Ort gewesen, aber er war entweder am falschen Ort gewesen oder an die falschen Leute geraten. Vielleicht hatte er einfach Pech gehabt, oder er war zu wenig abgehärtet und brutal für solche Einsätze. Er war eigentlich ein Promi-Fotograf, für die Boulevard-Zeitung «Aktuell» war er erst seit Kurzem im Einsatz.

Die vielen Anrufe seines Chefs Peter Renner waren wenig erbaulich. Mach das und dies, hatte dieser ins Telefon gebrüllt. Aber für Joël war an jeder Polizeisperre Ende. Er hatte zwar viele Fotos geschossen und Videos gedreht, aber, und das wusste er, mit diesen Aufnahmen konnte er keinen Blumentopf gewinnen. Er war frustriert. Bis er hörte, wie ein Mann einem anderen Mann erzählte, er habe gesehen, dass eine Frau mit Stofftieren förmlich explodiert sei.

Als Joël den Mann ansprach, stellte sich dieser als Thomas Neuenschwander vor und erzählte, ohne dass ihn Joël danach fragte, dass er die Frau gekannt habe, die mehr oder weniger vor ihm explodiert war. Er sei Buschauffeur bei den Basler Verkehrsbetrieben und habe die Frau schon mehrfach in seinem Wagen gehabt. Sie sei eigentlich nett. Sie habe immer gesagt, sie würde nie jemandem etwas zu Leide tun. Und sie habe immer Stofftiere dabei gehabt. Im Arm einen Teddybären, im Rucksack einen Elefanten. Aber heute sei ein Hase im Rucksack gewesen, was ihn gewundert habe. Dann sei der Hase explodiert.

Joël notierte alles und machte ein Foto von Thomas Neuen- schwander. Dann rief er Peter Renner an, der an diesem Tag zum ersten Mal ein gutes Wort für ihn übrig hatte: «Gut gemacht!»

FÄRBERSTRASSE, SEEFELD, ZÜRICH

«Die Aktion ist bestens angelaufen, wie ihr sicherlich den Medien entnommen habt», tippte Kilian Derungs. «Wir starten Phase zwei.» Er klickte auf Senden. Rund fünfundzwanzig Empfänger in aller Welt, hauptsächlich aber in Europa, würden in diesem Augenblick die Nachricht empfangen. Wie ein Mail. Es war ja irgendwie auch ein Mail. Aber eben: Nur irgendwie. Kilian Derungs gönnte sich einen zweiten Cognac.

HOTEL BASEL, BASEL

Im fasnächtlichen Bermudadreieck rund um das Hotel Basel, am Fusse des Spalenbergs, hatte sich um 21.55 Uhr etwas wie eine Fasnachtsvollversammlung gebildet. Hunderte von Fasnächtlern standen da und diskutierten aufgeregt, wie es nun weitergehen solle.

Zuvor hatten sich die Regierung, die Staatsanwaltschaft, die Polizei und das offizielle Fasnachts-Comité an einer gemeinsamen Medienorientierung dafür ausgesprochen, die Fasnacht sofort abzubrechen. Da man sich bewusst sei, dass ein eigentliches Fasnachtsverbot kaum durchzusetzen wäre, handle es sich um eine dringende Empfehlung. Bis die grauenhafte Tat, die eine Tote und fünfunddreissig Verletzte gefordert habe – darunter dreizehn Kinder und Jugendliche – geklärt sei, müsse man mit erhöhter Terrorgefahr rechnen. Per sofort werde ein Grossaufgebot des Nordwestschweizer Polizeikonkordats im Einsatz stehen. Diskutiert werde auch, ob die Schweizer Armee zur Unterstützung angefordert werden solle. Kommissär Kaltbrunner hatte sich gegen den Ausdruck «Terrorgefahr» gewehrt, weil er nicht an einen Terroranschlag glaubte. Aber Staatsanwalt Fässler wollte es so. Kaltbrunner vermutete, dass Fässler sich damit profilieren wollte, immerhin wäre er dann ein Terroristenjäger.

Vor dem Hotel Basel waren die Meinungen über den Fasnachtsabbruch geteilt. Die einen standen unter Schock oder hatten Angst, die anderen wollten sich von einer Amokläuferin oder einer Terroristin oder einer gestörten Alten nicht einschüchtern lassen. Schliesslich sei die Basler Fasnacht schon immer etwas Aufmüpfiges gewesen, ein Ventil des Volkes gegen die Obrigkeit. Was das mit der jetzigen traurigen Lage zu tun habe, fragten die anderen.

Um 23.39 Uhr kam es fast zu einer Schlägerei, weil ein Politiker aufgetaucht war, dessen Name zwar niemand wirklich kannte, der aber auf eine Festbank vor dem Hotel Basel gestiegen war und schrie, dass die Fasnacht unbedingt weitergehen müsse, man solle auch an das lokale Gastgewerbe denken, dessen Verdienstausfall bei einem vorzeitigen Ende der Fasnacht viele Betriebe in den Ruin treiben würde.

Daraufhin wurde der Mann von mehreren Männern attackiert. Der Kerl konnte aber ins Innere des Hotels Basel flüchten und getraute sich nicht mehr hinaus. Um 23.55 Uhr leerte sich der Platz. Es waren aber immer noch einzelne Trommel- und Pfeiferklänge zu hören. Auch eine Guggenmusik zog irgendwo durch die Strassen.

«Respektlose Arschlöcher», sagte ein Mann in einem Ueli-Kostüm mit vielen kleinen Schellen daran. Er ging bimmelnd und fluchend den Spalenberg hinauf.

23. Februar

INNERSTADT, BASEL

Buschauffeur Thomas Neuenschwander war seit 05.46 Uhr auf der Linie 34 im Einsatz. Die Greifengasse war wieder freigegeben. Spuren des Anschlags waren kaum noch zu sehen. Bloss die Markierungen der Polizei waren noch deutlich erkennbar. Ansonsten sah die Stadt so aus wie fast jeden Morgen: verschlafen und sauber geputzt. In den Kleinbasler Beizen hingen noch einige Fasnächtler herum. Im Grossbasel war von Fasnacht fast gar nichts zu merken. Auffällig waren nur die vielen Polizisten, die auf Streife waren.

Im Radio gingen ab sechs Uhr auf den lokalen und nationalen Sendern die Diskussionen los, wie es in Basel nach der nach wie vor ungeklärten Tat weitergehen solle.

Ab sieben Uhr stiegen in den Vorortsgemeinden, die vom 34er-Bus bedient wurden - Riehen, Binningen und Bottmingen - die ersten Kostümierten in Neuenschwanders Bus. Sie sahen ziemlich frisch aus. Thomas war sich sicher, dass sie zu Hause geschlafen hatten, um nun den zweiten Tag Fasnacht in Angriff zu nehmen. Aus dem von den Behörden ausgerufenen, freiwilligen Fasnachtsverzicht wird wohl nichts, dachte Thomas.

Kurz nach neun Uhr hatte er Pause. Er holte sich eine «Aktuell» aus einem Zeitungskasten und las die Berichterstattung über das Attentat von Basel. Seine Stellungnahme gegenüber dem Reporter Joël Thommen war Teil eines doppelseitigen Artikels. Beim Lesen blieb er an der Stelle hängen, an der er zitiert wurde, dass er sich gewundert habe, warum die geistig behinderte Frau für einmal keinen Plüschelefanten im Rucksack gehabt habe, sondern einen Hasen. Auch jetzt empfand er dies nach wie vor als sehr seltsam, denn er hatte die Frau in all den Jahren noch nie ohne den Elefanten gesehen. Das Stofftier war auch dementsprechend abgewetzt und schmutzig. Er überlegte sich, ob er das der Polizei mitteilen solle.

Als er anrief, wunderte er sich ein bisschen, weshalb der Beamte am Telefon sagte, die Staatsanwaltschaft habe ihn bereits gesucht, man müsse sich sofort treffen, ob er in den Waaghof an der Heuwaage kommen könne, er solle sich umgehend bei Kommissär Olivier Kaltbrunner melden. Das gehe nicht, er müsse in einer halben Stunde an der Schifflände auf die Linie 36. Darüber solle er sich keine Sorgen machen, man werde das mit den Basler Verkehrsbetrieben organisieren.

Neuenschwander erkundigte sich trotzdem zehn Minuten später beim Personaldisponenten der Leitstelle. Dieser bestätigte: «Die Polizei hat mehrfach angerufen. Wir wollten dich anfunken oder gleich ablösen, sobald du den zweiten Dienstteil in Angriff genomm…»

Thomas klickte den Disponenten weg und schlenderte über die Mittlere Brücke. Es wehte ein leichter Wind, der Himmel war bedeckt, aber – das hatte Thomas in den Nachrichten des Lokalsenders Basilisk gehört - es sollte trocken bleiben, teilweise könnte sich sogar die Sonne durchsetzen. Was für ein tolles Wetter für die heutige Kinderfasnacht und die abendlichen Guggenkonzerte. Vorausgesetzt, die Fasnacht würde überhaupt weitergehen.

Thomas blieb beim Käppelijoch, der kleinen Kapelle in der Mitte der Brücke, stehen und schaute, ob auch dieses Jahr eine Fasnachtsfigur darin platziert worden war. Ja, es war eine alti Dante, eine alte Frau, eine klassische Figur der Basler Fasnacht. Sie war allerdings kaum zu sehen. Denn an den Gitterstäben vor der Figur hingen unzählige Liebesschlösser, von Verliebten, die ein Schloss mit ihren Namen am Gitter festmachten und den Schlüssel in den Rhein warfen. Neuenschwander fand diesen Brauch albern.

«Neuenschwander?», rief jemand. Thomas drehte sich um. Ein Polizeiauto hatte angehalten. Ein Mann, nicht all zu gross, mit rundlichem Kopf und einer Brille mit feinem Goldrand stieg aus und kam auf ihn zu: «Herr Neuenschwander?».

«Ja …»

«Ich bin Olivier Kaltbrunner, Kommissär. Wir haben mit Ihnen telefoniert.»

«Ja …»

«Wie geht es Ihnen?» Der Mann nahm seine feine, goldene Brille von der Nase und schaute ihn mit grün-blauen Augen freundlich an. Der Mann hat etwas Sympathisches an sich, dachte Thomas. «Es geht gut.»

«Ist es Ihnen recht, wenn wir gleich an den Claraplatz fahren und Sie uns schildern, was Sie wie gesehen haben? Sie können uns damit ganz gewaltig helfen.»

«Meinen Sie?»

«Natürlich. Sie sind derzeit unser wichtigster Zeuge.»

Thomas konnte es nicht fassen, dass er plötzlich so wichtig war. Er kramte sein Handy hervor und wollte seine Frau anrufen. Doch der Kommissär schaute ihn immer noch an. Deshalb liess er es bleiben und stieg mit dem Kommissär in den Wagen.

REDAKTION AKTUELL, WANKDORF, BERN

Peter Renner sass in seiner Nachrichtenzentrale und starrte auf den mittleren Bildschirm der drei Monitore auf seinem Pult. Renner sass bereits seit sechs Uhr hier und hatte mittlerweile rund dreissig Zeitungen aus dem In- und Ausland gelesen. Nun überprüfte er die grössten News-Portale im Web auf irgendwelche Informationen, die er noch nicht hatte.

Peter Renner sass reglos da. Sein massiger Körper und sein kleiner Kopf bewegten sich kaum. Nur sein rechter Zeigefinger, der die Computermaus bediente, regte sich ab und zu, die Augen folgten den Buchstaben und Zeilen, hin und her. Peter Renner hatte seinen Übernamen nicht umsonst: Die Zecke lauerte auf Nachrichten, in die sie sich reinbeissen konnte.

Das grosse Thema war in allen Medien der Bombenanschlag an der Basler Fasnacht. Einig waren sich die Journalisten, dass es eine Katastrophe war. Uneinig dagegen, ob es sich um einen Terrorakt oder einen Amoklauf handelte. «Aktuell» war die einzige Zeitung, die dank Renners Reportern Alex Gaster und Joël Thommen Informationen hatte, die auf die Tat einer geisteskranken Frau hinwiesen. Diese wurden von den Nachrichtenagenturen, die ständig neue Meldungen verbreiteten, vielfach zitiert.

Da die offiziellen Mitteilungen der Basler Behörden sehr dürftig waren, hatten viele Medienleute Experten befragt. Peter Renner hatte diese sogenannten Strategieexperten alle schon am Vorabend auf diversen Fernsehstationen gehört und gesehen. Ihre Aussagen waren aber vage. Auch in Interviews mit Zeitungs- und Online-Journalisten waren sie nicht konkreter geworden. Doch die Tendenz war klar: Mit dieser «unfassbar grausamen» Tat habe der Terror endgültig die Schweiz erreicht. Oft waren die Fragen so gestellt, dass es genau darauf hinauslief. Beispielsweise wurde ein Vergleich mit dem fürchterlichen Anschlag auf die französische Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo angestrebt, weil die Basler Fasnacht ja auch aktuelle und brisante Themen karikiere. Einige Experten nahmen diesen Zusammenhang dankbar auf. Natürlich wollte niemand vordergründig auf Panik machen, aber dass nun selbst die heile und friedliche Schweiz nicht mehr von Terroranschlägen verschont wurde, war einfach eine zu ungeheuerliche Tatsache – da konnten selbst seriöse und besonnene Journalisten nicht widerstehen, die Tat in den Kontext des internationalen Terrors zu stellen. Viele Kommentatoren kamen zum Schluss: Nun hat der Terror die Schweiz erreicht.

Peter Renner zweifelte daran und nahm sich vor, seine Reporter heute auf die vermeintliche Attentäterin anzusetzen beziehungsweise auf deren Umfeld. Wenn es eine Geisteskranke war, dann müsste es für seine Leute ein Leichtes sein herauszufinden, was da passiert und wie sie zu dieser Bombe gekommen war.

Um 09.52 Uhr, acht Minuten vor der grossen Redaktionssitzung, rief er Sandra Bosone an, die eigentlich Politik-Journalistin war, sich wegen dem Anschlag aber immer noch in Basel aufhielt. «Hey, wie weit bist du?», wollte Renner wissen. «Hast du mit Verletzten reden können?»

«Nein, noch nicht.»

«Scheisse, warum nicht?»

«Ins Spital kommt man nicht rein. Zu viel Polizei und Security.»

«Kauf dir einen Doktorkittel und ein Stethoskop! Dann versuchst du es nochmals! Das Zeug kannst du in einem Geschäft am Bernoullianum … ach, wie heisst das dort? … da, wo diese Wissenschaftlerin ihr Zeugs holte, als damals dieses Virus ausgebrochen war … Warte kurz …» Renner googelte sich auf dem rechten Monitor durch die Basler Läden für Spitalbedarf. «Klingelbergstrasse. Dort kannst du solche Sachen kaufen.»

«Und was soll ich damit?»

«Was wohl?! Sandra, wo ist dein Problem?

«Ich mach das nicht.»

«Aussergewöhnliche Storys brauchen aussergewöhnliche Recherchen.»

«Das kannst du nicht von mir verlangen.»

«Und ob. Keine Diskussion jetzt!»

«Peter, ich gebe mich nicht als Ärztin …»

«Ende der Diskussion, Sandra!», sagte Renner in seinem gefürchteten Befehlston. «Oder muss dich unser Kotzbrocken Haberer darum bitten?»

«Sehr witzig», kommentierte Sandra und brach die Verbindung ab.

In diesem Augenblick flog die Türe zum Newsroom auf: Klack – klack – klack! Chefredaktor Jonas Haberer tappte herein und schlug Renner mehrfach auf die linke Schulter: «Ha! Hast von mir, dem Kotzbrocken, geredet, was, Pescheli? Um deinen Sklaven Beine zu machen? Das gefällt mir!» Er schlug noch einmal auf Renners Schulter, diesmal so heftig, dass die Zecke am ganzen Körper bebte.

CLARAPLATZ, BASEL

«So, so», murmelte Olivier Kaltbrunner immer wieder. Manchmal machte er auch nur «Hmm, Hmm.» Der Kommissär hörte der Schilderung des Buschauffeurs Thomas Neuenschwander aufmerksam zu. Manchmal nahm er die Brille von der Nase, setzte sie aber nach wenigen Sekunden wieder auf. Sein Kollege Giorgio Tamine machte Notizen.

Neuenschwander erzählte, dass er die geisteskranke Frau schon mehrfach im Bus gehabt habe. Sie sei immer friedlich gewesen, auch wenn sie manchmal leise geflucht habe. Er konnte auch eine ziemlich gute Personenbeschreibung abgeben: kleine, rund fünfundfünfzigjährige Frau, kurze, graumelierte Haare.

«So, so», machte Kaltbrunner. Das, was von der Leiche übriggeblieben war, passte auf die Frau, von der Buschauffeur Neuenschwander erzählte. «Geht es noch?», fragte Kaltbrunner plötzlich. «Oder brauchen Sie eine Pause?»

Der Buschauffeur schaute etwas verdutzt, sagte dann aber: «Nein, alles klar. Was wollen Sie noch wissen?»

«Erzählen Sie mir von den Stofftieren, die die Frau immer dabei hatte.» Neuenschwander schilderte so genau wie möglich, dass die Frau normalerweise immer einen Bären und einen Elefanten mit sich trug und sich mit den beiden unterhielt. Gestern sei aber ein weisser Hase mit lustigen Lampiohren in ihrem Rucksack gewesen.

«So, so», machte Kaltbrunner.

«Meinen Sie, die Frau hat sich wirklich selbst in die Luft …»

«So, so», murmelte Kaltbrunner. «Hmm, hmm.»

STOCKERENWEG, BERN

Um 10.33 Uhr fuhr Kirsten Warren ihren Computer hoch. Die alleinerziehende Mutter eines zwölf Jahre alten Jungen konnte ihre Arbeitszeiten selbst einteilen, da sie als freischaffende Internetspezialistin praktisch sämtliche Aufträge in ihrem Homeoffice erledigen konnte. Nebst der Entwicklung von Internet- und Intranet-Lösungen für diverse Firmen, schrieb die Amerikanerin für die Gratiszeitung «Aktuell» regelmässig Artikel für die Computer-Spezialseiten. Sie testete auch die neusten Spiele, die auf den Markt kamen. Allerdings war sie keine begeisterte Gamerin. Mittlerweile konnte sie ihren Sohn Christopher für diese «Arbeit» einspannen. Er konnte besser beurteilen, ob ein neues Spiel bei den Jungen ankam oder nicht. Der einzige Nachteil dieser Mutter-Sohn-Zusammenarbeit war, dass sie ihn kaum mehr von seinem PC wegbrachte.

Christophers Vater war der Grund gewesen, warum sie überhaupt in die Schweiz gekommen war. Er war Diplomat und arbeitete bei der US-Botschaft in Bern. Nach ihrer Trennung und einer beruflich unrühmlichen Geschichte wurde er versetzt. Kirsten hatte nie genau erfahren, worum es in dieser Affäre gegangen war. Sie wusste nur, dass ihr Mann, Jeff Warren, im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen Schweizer Banken auf einer ominösen schwarzen Liste der New Yorker Staatsanwaltschaft aufgetaucht war. Und plötzlich war er weg. Kirsten wusste nicht, ob er zurück in die USA oder in eine andere Botschaft versetzt worden war. Doch die Alimente flossen. Direkt von den US-Behörden.

Sie hatte sich als Webspezialistin schon vor ihrer Heirat einen Namen gemacht und ein eigenes Geschäft aufgebaut. Die US-Botschaft gehörte seit der Sache mit ihrem Mann zu ihren wichtigsten Kunden. Das wunderte sie zwar. Doch sie war auch dankbar, damit halbwegs wieder auf eigenen Beinen stehen zu können. Erst später kamen «Aktuell» und hin und wieder andere Verlage dazu.

Sie vermisste ihre Heimat Texas. Ihre Familie. Und ihre Freunde. Aber ihr Sohn wollte in Bern bleiben. Und irgendwie wusste sie auch nicht, ob sie weg gekonnt hätte, wenn sie weg gewollt hätte. Botschaftsvertreter hatten ihr mehrmals angetönt, dass sie die Alimente und die Aufträge nur auf sicher habe, solange sie in der Schweiz wohne. Zudem gab es noch «the others», wie Kirsten sie nannte.

Schweizer Freunde hatte sie wenige. Es waren im besten Fall Bekannte. Aber vielleicht würde sich das irgendwann ändern. Allerdings tat sie nicht viel dafür. Sie ging kaum aus, engagierte sich auch in keinem Verein oder Club. Nur Golf spielte sie regelmässig. Meistens allerdings mit Amerikanerinnen, deren Ehemänner wochenlang auf Geschäftsreisen waren. Und auch mit diesen Frauen pflegte Kirsten eine distanzierte Beziehung, lehnte die meisten ihrer Einladungen ab oder ging einfach nicht hin. Es war ihr lästig, dass alle sie mit irgendwelchen Männern verkuppeln wollten. Ein so attraktives und nettes Girl könne doch nicht alleine leben, meinten die Damen.

Sie war hübsch. Lange, blonde Haare, lange Beine, schlank und mit tollem Busen und wohlgeformtem Po. Wenn sie Jeans, Boots, eine kurze Lederjacke und einen Hut trug, verkörperte sie das perfekte Cowgirl. Boots und Jeans hatte sie oft an, die restlichen Cowgirl-Accessoires nur zweimal im Jahr. Wenn sie mit ihrem Sohn ans Country- und Truckfestival nach Interlaken fuhr. Und an die Countrynight in Gstaad. Dann genoss sie es, mit ihrem Sohn als Dreamgirl aufzutreten. Christopher war das mittlerweile allerdings peinlich.

Sie holte einen wässrigen Filterkaffee aus der Kanne – mit Kapselkaffee konnte sie nichts anfangen – und loggte sich im Internet ein. Ihre Mailbox zeigte zweiundvierzig neue Mitteilungen an. Eine davon war ein Hinweis, dass sie ins Newnetnet reinschauen solle. Newnetnet war ein geschlossenes Netz, ein sogenanntes Darknet im Deep Web, ausserhalb des bekannten World Wide Web, das nur mit spezieller Software zu erreichen war. Wie andere solche Netze war Newnetnet nur mit Username und mehreren Passwörtern zugänglich. Wer sich anmelden wollte, musste einen Bekannten haben, der bereits im Newnetnet Mitglied war und für das Neumitglied bürgte. Selbst professionelle Hacker konnten sich nicht in diesen geheimen Zirkel einschleichen. Kirsten selbst war aus Recherchezwecken – sie musste vor einem halben Jahr für die US-Botschaft in Bern einen Bericht über das Deep Web und seine Auswirkungen auf die Schweiz verfassen – darauf gestossen und war schliesslich zu Newnetnet eingeladen worden. Von wem und warum wusste sie bis heute nicht. Da ihre Aufnahme im Gegensatz zu vielen anderen Usern völlig reibungslos und schnell vonstattenging, war Kirsten überzeugt, dass die Leute, die sie eingeladen hatten, irgendwie mit den US-Behörden verbandelt waren. Sie hatte keine Angst vor diesen Leuten, aber ein ungutes Gefühl. Deshalb nannte sie sie einfach nur «the others».

Ob sich in diesem Newnetnet auch so viele Spinner, Spione, Drogendealer, Waffenschieber und Pädophile tummelten wie in anderen Schattennetzen des Deep Webs, wusste sie ebenfalls nicht. Aber spannend war es auf alle Fälle. Sie loggte sich also ein und erhielt sofort eine Mitteilung von einem User namens John Fox. Der Mann schrieb: «Möchtest du eine Story?»

«Yes», gab Kirsten ein. Sie trank ihren Kaffee und hoffte, der Kerl, der sich «John Fox» nannte, wäre online.

«Melde meinem alten Freund Haberer, dass Basel nur der Anfang war …»

«Soll das ein Joke sein? Wer bist du?»

«Kein Joke. Ich bin John Fox.»

«Sehr witzig.»

«Haberer steht sicher auf dich, Cowgirl …»

UNIVERSITÄTSSPITAL, BASEL

Irgendwie hatte sie Freude an ihrem Job als Boulevard-Ratte entwickelt. Sandra Bosone stand mitten in der Intensivstation des Universitätsspitals und hatte in ihrem Ärztinnen-Outfit Zugang zu sämtlichen Patienten. Sie klapperte alle Zimmer ab, immer auf der Suche nach den am schwersten verletzten Opfern des Bombenanschlags. Die, die sprechen konnten, erzählten ihr sämtliche Details ihrer Odyssee. Jene, die dazu nicht in der Lage waren, hatten meist Angehörige, die weinten und ihr vertrauensvoll das ganze Elend schilderten. Für Sandra war es ein «Yeah-yeah- yeah»-Effekt, so viele Schicksale auf engstem Raum zu treffen, war für eine Reporterin aussergewöhnlich. Jedes davon eine eigene Geschichte wert. Doch in der Masse gingen die meisten unter, denn unter diesen Umständen war nur noch das grösste Elend interessant. Eine schwerverletzte Mutter, der beide Beine amputiert werden mussten, und deren zwei Kinder, ebenfalls durch Splitter der Bombe verletzt, gab von der journalistischen Relevanz aus gesehen die beste Story. Peter Renner, die Zecke, würde sie lieben für diese Story. Selbstverständlich mit Bild und Video, denn Sandra hatte nicht gezögert, ihre Kamera beim Interview auszupacken und die Szenerie aufzunehmen. Ob die arme Frau je in «Aktuell» erscheinen würde, darauf hatte sie keinen Einfluss. Das würden Peter Renner, Jonas Haberer oder die Anwälte entscheiden. Sie machte nur ihren Job.

Die Idee mit dem gekauften Arztkittel und dem Stethoskop war zwar gut gewesen, aber nicht genügend. Das hatte Sandra schnell gemerkt. Ihr hatte der Ausweis gefehlt. Diesen hatte sie sich allerdings schnell angeeignet. Sie hatte sich einen Kaffee geholt, dann gezielt eine Ärztin angerempelt und ihr den Kaffee über den Kittel geschüttet. Dann hatte sie der «Kollegin» geholfen, sich zig-mal entschuldigt, den riesigen Kaffeefleck verwischt, ihr dabei den Ausweis aus der Brusttasche geklaut und damit den Namen «Dr. Elfriede Kasalski» angenommen. Die Security-Leute hatten sie seither freundlich gegrüsst und ihr sämtliche Türen aufgehalten.

Jetzt hatte sie alles im Kasten. Sie verliess das Spital, zog den Arztkittel aus, versenkte das Stethoskop in ihrer Tasche und rannte zum Kiosk an den Blumenrain hinunter. Dort kaufte sie sich Zigaretten, rauchte zwei und rief Peter Renner an. Er sagte ihr, dass er sie liebe. Danach stürzte sie sich in die Fasnacht. Es war 11.55 Uhr. Der Publikumsaufmarsch hielt sich allerdings in Grenzen, obwohl am Dienstag jeweils Kinderfasnacht war.

Verrückte Welt, dachte Sandra. Aber das war egal. Sie hatte ganze Arbeit geleistet. Pervers. Aber gut. Sandra lächelte.

REDAKTION AKTUELL, WANKDORF, BERN

«Kirsten was?», schnauzte Chefredaktor Jonas Haberer seinen Nachrichtenchef an. «Ich kenne diese verdammte Kirschtorte nicht!»

Peter Renner regte sich nicht auf. Er wusste, dass sein Chef sämtliche Namen verhunzte und wunderte sich deshalb nicht im Geringsten. Hauptsache, sein Chef hämmerte nicht schon wieder auf seiner Schulter herum.

«Sie schreibt für uns die Computer- und Game-Kolumne.»

«Was?»

«Ja, mein Lieber, wir haben eine Computer- und Game-Kolumne in unserer Zeitung.»

«Ach, die Schach- und Halma-Tante.»

«Ja, ja, mein Lieber, Schach und Halma spielte man noch kurz nach dem Krieg, du alter Schafseckel!» Jonas Haberer lachte drauflos. So heftig, dass er einen Hustenanfall bekam und zu ersticken drohte. Sein langes, fettiges Haar vibrierte.

«Geht’s, Jonas?», fragte Peter Renner.

Haberer beruhigte und räusperte sich. Dann sagte er: «Los, was will die Halma-Tante, diese Kirschtorte?»

«Sie hat eine Nachricht aus dem Darknet erhalten, in der ihr mitgeteilt wurde, dass der Anschlag von Basel nur der Anfang wäre. Und dass du auf die Halma-Tante stehen würdest, falls du sie mal sehen würdest.»

Haberer bekam erneut einen Lachanfall. Er dauerte rund zwanzig Sekunden. Danach fragte er: «Wie war das mit der Nachricht? Mit diesem Darknet-Zeugs? Was ist das überhaupt, verdammt?»

«Das ist ein Schatten-Internet. Oder so ähnlich. Jedenfalls etwas Obskures.»

«Und warum soll ich auf die Kirschtorte stehen?»

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