Kitabı oku: «Der Tod - live!», sayfa 5

Yazı tipi:

«Mögen Sie nicht mehr?»

«Ich denke, Sie haben noch weitere Patienten …»

«Natürlich, aber das sollte uns …»

«Papperlapapp, schon gut. Immerhin sitze ich im Verwaltungsrat dieser Klinik und bin daran interessiert, dass der Laden läuft. Zudem weiss ich, wie es ist, wenn man die Leute loswerden muss!»

«Ich möchte Sie gar nicht los …»

«Ich bin müde», log Kilian Derungs. «Ich möchte nicht mehr.» Er erhob sich und reichte ihr die Hand: «Vielen Dank, Frau Doktor Schwertfeger.» Er ging mit schnellen Schritten hinaus, schaute auf den Zürichsee hinunter, atmete durch und holte sein Handy hervor. Er hatte während seiner Sitzung weder einen Anruf noch eine Kurznachricht noch ein Mail erhalten. Aber das war ihm für einmal egal. Er rief eine Nummer an, die er unter «Stefan Meier» gespeichert hatte. Derungs verabredete sich in zwei Stunden am «gleichen, schönen, romantischen Ort wie immer». Er lächelte. Er hatte genügend Zeit, ins Hotel zu fahren, zu duschen und sich ein bisschen zu entspannen.

Dann rief er seine Frau an und teilte ihr mit, dass er mit Parteifreund Stefan Meier einen Termin habe und deshalb später nach Hause komme.

Sie konnte ja nicht wissen, dass ihr Mann Stefan Meier abgrundtief hasste und nie auf die Idee käme, diesen auch nur anzurufen.

CONGRESS CENTER, SAAL SAN FRANCISCO, BASEL

Die Medienkonferenz wurde im grössten Saal der MCH Messe Schweiz abgehalten. Neben Staatsanwalt Hansruedi Fässler sassen zu seiner Linken Stadtpräsident Serge Pidoux und Bundesanwalt Filipo Rizzoli. Zu seiner Rechten hatten Armeechef Matthias Erler und Fabian Wirz, Medienchef der Basler Staatsanwaltschaft, Platz genommen. Erler begrüsste die rund hundertfünfzig Journalisten, Fotografen und Kameraleute aus dem In- und Ausland.

Alex Gaster sass in der vierten Reihe und machte sich Notizen. Jöel Thommen fotografierte die Männer auf dem Podium, wurde aber plötzlich von einem Kameramann am Ärmel gepackt und auf die Seite geschoben. Joël hatte ihm offensichtlich die Sicht verdeckt. Es gab einen kleinen Disput, was den Medienchef kurz ablenkte und ins Stottern brachte. Darauf ging Jöel in die Hocke und fotografierte weiter.

Staatsanwalt Hansruedi Fässler präsentierte nach einer langfädigen Lobesrede auf sämtliche Einsatzkräfte die neusten Fakten. Die Frau, in deren Plüschtier die Bombe platziert war, habe man identifizieren können. Es handle sich um eine fünfundfünfzigjährige geistig behinderte Frau, die in einer geschützten Werkstatt gearbeitet und in einem Heim gewohnt habe. Man könne mit sehr grosser Sicherheit ausschliessen, dass sie die Bombe in ihr Plüschtier genäht habe. Der Sprengsatz sei über Funk gezündet worden. Sie sei darum ein Opfer und keine Täterin. Wer die Bombe versteckt und gezündet habe, sei unklar. Die Spezialisten würden rund um die Uhr sämtliche Spuren und Erkenntnisse prüfen. Mittlerweile sei auch klar, dass die Massenpanik nicht von einer Bombe, sondern von relativ harmlosen Knallkörpern ausgelöst worden sei. Die Mitglieder der in den Medienberichten «Schwarzen Clique» genannten Formation, aus deren Reihen die Sprengkörper geworfen worden seien, hätten noch nicht ausfindig gemacht werden können. Man habe zwar einige der von ihnen benutzten Blechtrommeln, schwarzen Kleidern und Totenkopfschals gefunden, allerdings gebe es noch keinerlei Hinweise auf die Identität der Träger. «Ob es sich bei diesen Leuten tatsächlich um Fasnächtler oder aber um Hooligans, politisch motivierte Aktivisten oder um mutmassliche Terroristen handelt, ist ebenfalls unklar», sagte Fässler zum Schluss. «Wir bitten diese Leute, sich bei uns zu melden. Ebenso sind wir auf Zeugen angewiesen.»

Danach sprach Bundesanwalt Rizzoli. Er sagte so gut wie nichts. Alex schrieb keinen einzigen verwertbaren Satz auf. Armeechef Erler sagte ähnlich viel oder wenig: Die Armee habe alles unter Kontrolle. Selbstverständlich zusammen mit den Polizeikräften. Alex notierte: «Führt sich auf wie ein General.» Stadtpräsident Pidoux präsentierte die «traurige Bilanz» der Massenpanik: sieben Tote, darunter drei Kinder im Alter zwischen sechs und siebzehn Jahren. Sechsundvierzig Verletzte, davon schwebten zwei noch immer in Lebensgefahr. «Es ist eine unfassbare Katastrophe», sagte Pidoux mit gedämpfter Stimme. Er stockte und wischte sich die Tränen ab. Es gab ein kurzes Blitzlichtgewitter der Fotografen. Er fuhr fort: «Die Stadt, die Region, das ganze Land fühlt mit den Opfern und den Angehörigen mit. Wir werden ihnen jede erdenkliche Hilfe …» Der Stadtpräsident stockte erneut. Weinte plötzlich. Blitzlichtgewitter. Pidoux stand auf und verliess den Saal.

KRIMINALKOMMISSARIAT, WAAGHOF, BASEL

Die Kommissäre hatten die Medienkonferenz am Fernsehen verfolgt. Kaltbrunner murmelte danach: «Die Polizei tappt mal wieder im Dunkeln.»

«Was meinst du?», fragte Giorgio Tamine.

«Och, nichts. Habe mir nur die Schlagzeile von morgen vorgestellt.» Er rief seine Frau Pranee an, erkundigte sich, wie es ihr und Tochter Nazima gehe, machte mehrmals «So, so» und «Hmm, hmm» und sagte schliesslich, dass er wohl im Büro schlafe, wenn überhaupt.

REDAKTION AKTUELL, WANKDORF, BERN

Aus der von Haberer geplanten Schlagzeile Terroristen wollen Schweiz ausradieren wurde Terroristen bedrohen die Schweiz. Beim Untertitel setzte sich Haberer gegen Renner und Verlegerin Emma Lemmovski durch: «Aktuell»-Exklusiv: Weitere Anschläge geplant!

Es war 22.54 Uhr, und alles lief wie am Schnürchen. Alex und Henry hatten die neusten Bilder und Texte aus Basel geliefert. Flo Arber beendete mit Kirsten Warren und Peter Renner den Aufmacher-Artikel über die beängstigenden Nachrichten aus dem Deep Web.

Um 23.14 Uhr verliess Peter Renner den Newsroom. Er hatte den Nachtredaktor, der den Abschluss machte und anschliessend die Online-Plattform mit den aktuellsten Meldungen fütterte, genau angewiesen und ihm gesagt, dass er ihn sofort anrufen solle, falls in Basel etwas passiere.

Vor dem tristen Redaktionsgebäude zündete sich Renner eine Zigarette an, eine Marlboro rot. Er nahm einen tiefen Zug. Dann hörte er einen Motor aufheulen, sah Scheinwerfer aus der Tiefgarage auftauchen und murmelte: «Haberer, du alter Schafseckel.» Haberer riss drei Meter vor Renner einen Vollstopp und rief zum Fenster hinaus: «Pescheli, komm, ich fahr dich nach Hause!»

«Danke, ich laufe.»

«Na los, einsteigen, Pescheli!»

«Nein. Ich muss auslüften.»

«So ein Quatsch! Schiebst du eine Krise?»

«Sag mal, Jonas: Kapierst du das mit dem Deep Web?»

«Nein. Keine Spur. Ist mir aber egal. Die Kirschtorte versteht das. Das reicht mir. Und Emmeli war ja auch einverstanden. Wir sind auf der sicheren Seite.»

«Provozieren wir mit unserem Text nicht geradezu weitere Anschläge?» Haberer stellte den Motor ab, stieg aus, legte seinen Arm um Renners Schultern und sagte: «Pass auf, Pescheli. Wir drehen nicht am Rad. Wir berichten nur darüber. Okay?»

«Hast du eigentlich nie ein schlechtes Gewissen?»

«Dauernd, Pescheli, dauernd!» Er machte eine kurze Pause. Dann meinte er: «Und es ist dann am schlimmsten, wenn wir unseren verblödeten Lesern langweilige Geschichten präsentieren. Aber das ist jetzt ja nicht der Fall!» Renner löste sich aus Haberers Arm und ging davon. Nach einigen Metern blieb er stehen, drehte sich um und schrie: «Jonas, alle haben Recht: du bist und bleibst ein erbärmlicher Kotzbrocken!» Er ging weiter.

Klack – klack – klack. Lautes Lachen. Dann das Motorengeheul von Haberers Panzer.

21. April

REHA-KLINIK, SPEICHER, KANTON APPENZELL AUSSERRHODEN

Es war ein langer Weg. Das hatte Sandra Bosone begriffen. Ein langer und beschwerlicher Weg. Tag für Tag. Ihr Schädel-Hirn-Trauma hatte sich als schwer herausgestellt. Mehrere Ärzte hatten es bestätigt.

Manchmal konnte Sandra Erfolge feiern. Es war vielleicht eine kleine Bewegung, die plötzlich wieder möglich war. Oder es tauchte irgendeine Erinnerung auf. Wie aus dem Nichts. Das waren die guten Tage. Aber es gab auch viele schlechte. An denen alles über ihr zusammenbrach. An denen ihre Hoffnung, dass alles wieder normal würde in ihrem Leben, schwand. Dann weinte sie.

Es war Susa Schwarz, die sie in solchen Momenten aufheitern konnte. Susa war nicht nur ihre Physiotherapeutin, sondern mittlerweile eine Vertraute. Manchmal assen sie zusammen zu Mittag. Wenn Susa Zeit hatte, gingen sie ein bisschen spazieren. Susa schob dann Sandras Rollstuhl und erzählte aus ihrem Leben. Wie sie in Kasachstan geboren wurde, als Tochter eines deutschen Vaters und einer kasachischen Mutter. Und wie sie und ihre Familie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Deutschland auswanderten. Wie sie sich mit Jobben durchschlug und schliesslich Physiotherapeutin wurde.

Auch Sandra erzählte viel. Das tat ihr gut. Aber es nervte sie auch, dass in ihrem Gedächtnis ein schwarzes Loch von mehreren Wochen klaffte. Rund um den Angriff auf sie während der Basler Fasnacht war nichts mehr vorhanden. Sie hatte zwar in der Zwischenzeit alle Berichte zu lesen versucht, sich die Fotos und Filme angeschaut, aber in ihrem Kopf hatte sich keine Erinnerung eingestellt. Es nervte sie gewaltig, dass sie gegenüber der Polizei keine vernünftige Aussage machen konnte. Dabei hatte sich Kommissär Kaltbrunner so um sie bemüht, hatte sie oft besucht, ihr Mut gemacht, ihr versprochen, den oder die Täter irgendwann zu überführen. Er war rührend um ihre Genesung besorgt, hatte mit ihren Eltern Kontakt aufgenommen und ihr diese Spezialklinik im Appenzellischen empfohlen. Er hatte auch von Susa geschwärmt und sie wärmstens empfohlen, ein guter Freund von ihm sei bei ihr in Behandlung gewesen. Susa könne wahre Wunder bewirken!

Doch es hatte bisher alles nichts geholfen. Ihre Erinnerung an den Unfall war weg. Es blieb dunkel und leer. Henry meinte, das sei gut so.

Henry Tussot, der Fotograf, den sie eigentlich nie gemocht hatte. Er war jener Mensch, den sie als Ersten in ihrem neuen Leben wahrgenommen hatte. Natürlich waren ihre Eltern bei ihr. Ihre Schwester. Aber Henry war derjenige, der sie mit aller Kraft zurückgeholt hatte. Der immer und immer wieder zu ihr kam. Der ihre Hand hielt.

Sie hatten schon oft versucht, miteinander darüber zu reden, was zwischen ihnen los sei. Aber es war schwierig. Sandra kämpfte gegen ihre Sprachstörung, die sie manchmal schier verzweifeln liess. Sie machte sie wütend, dann wieder depressiv. Henry sagte immer, dass er sie sehr gern habe. Sie möge ihn auch sehr gerne, bestätigte sie jeweils. Aber mein Gestotter klingt saublöd, fand Sandra. Deshalb gab sie ihm lieber einfach die Hand. Das empfand sie als sehr schön. Ab und zu sogar als aufregend. Vor allem an den guten Tagen. Dann versuchte sie sich daran zu erinnern, wie sich Liebe anfühlte. Aber es blieb beim Versuch.

REDAKTION AKTUELL, WANKDORF, BERN

Acht Wochen nach den dramatischen Ereignissen in Basel, die die ganze Schweiz und Europa erschüttert hatten, löste sich die Schockstarre allmählich. Die Armee- und Polizeikräfte rückten in den Medien und in der Bevölkerung in den Hintergrund. Die Menschen fingen an, den Frühling zu geniessen und trauten sich auf einen Apéro in ein Gartenrestaurant.

Peter Renner hatte fürchterliche Wochen hinter sich, denn nach ihrer Schlagzeile, dass weitere Terrorattentate auf die Schweiz geplant seien, war nichts passiert. Darüber war er einerseits froh. Andererseits hatte er ein schlechtes Gewissen: Hätte er damals nur seinem Chef widersprochen! Er hatte doch schon damals dieses miese Gefühl gehabt, dass diese Nachrichten aus dem Schatteninternet nicht stimmten.

Sein Verhältnis zu Jonas Haberer hatte sich abgekühlt. Sie gingen sich, so gut es ging, aus dem Weg. Haberer war leiser geworden. Er kritisierte Peter kaum noch. Selbst dann nicht, wenn Peter ihm Geschichten vorschlug, von denen er ganz genau wusste, dass Haberer sie langweilig fand. Aber Jonas winkte sie durch. Peter Renner vermutete, dass Haberer von Verlegerin Lemmovski eins aufs Dach bekommen hatte. Und diese wiederum von ihrem Mann David. Immerhin gehörte ihm ja der Verlag beziehungsweise die Lemmovski Group, zu der «Aktuell» gehörte. Diese Gruppe war kein reines Medienunternehmen, sondern ein mittelgrosser Player in der internationalen PrintIndustrie mit Beteiligungen an Druckereien, Chemiefirmen, Medienhäusern und an grossen Online-Händlern. «Aktuell» war das Steckenpferd der Familie, Davids Vater hatte das Blatt gegründet. Doch deswegen hatte «Aktuell» innerhalb der Lemmovski Group keine Sonderstellung: Wäre «Aktuell» im Online- und Printmarkt nicht erfolgreich gewesen, hätte David Lemmovski den Verlag sofort abgestossen. Das wussten alle: David machte keinen Hehl daraus. In seinen Newslettern und Memos schrieb er immer wieder, dass «ein wirtschaftlich schwieriges Umfeld» keine Ausrede für Misserfolg sei. Im Mediengeschäft gelte eine alte journalistische Weisheit mehr denn je: Es gibt keine Tage ohne Storys, es gibt nur Tage mit ideenlosen Journalisten.

Emma Lemmovski war selten auf der Redaktion anzutreffen. Vermutlich meidet sie den Kontakt zu mir und Haberer, dachte Renner. Schliesslich hatten sie alle drei die Hysterie um die Terrordrohungen aus dem obskuren Deep Web entfacht. Emma sprach auffällig wenig über Werbeeinkünfte. Renner vermutete stark, dass «Aktuell» Verluste einstecken musste.

Hauptgrund dafür war, dass die Behörden die Berichterstattung von «Aktuell» in der Luft zerfetzt hatten. Andere Journalisten warfen kübelweise Dreck. In Hunderten von Online-Kommentaren wurde «Aktuell» als Lügen- und Hetzblatt verurteilt. Allerdings blieben die Leserinnen und Leser trotzdem treu: Die Auflage der Printausgabe und die Klicks auf «Aktuell»-Online stiegen sogar, wenig, aber immerhin. Wären sie gefallen, hätten er und Haberer wohl ein ernsthafteres Problem gehabt.

Am schlimmsten waren die Strategie-Experten: Sie verunglimpften die Journalisten von «Aktuell» bei jeder Gelegenheit als Dilettanten. Denn ein einziger Anruf bei einem Experten hätte genügt, um zu erfahren, dass Terroristen nicht mit irgendwelchen geheimnisvollen Meldungen aus dem noch geheimnisvolleren Deep Web ausgerechnet an eine Boulevard-Zeitung gelangen würden. Ja, das war ein Fehler gewesen. Das hatte Renner spätestens am Tag, an dem die Terror-Schlagzeile erschienen war, gemerkt. Der Experte, der eine reale Terrorgefahr aus dem Deep Web bestätigt hätte, hatte gefehlt. Flo Arber hatte zwar alle abgeklappert – aber eben, den entscheidenden Satz hatte er nicht bekommen. Nicht mal einen, den man so hätte hinbiegen können, dass er die Story bestätigt hätte.

Eine einzige Reaktion hatte Peter Renner darin bestärkt, nicht komplett falsch gelegen zu haben. Aber der Nachrichtenchef durfte es nicht verwenden, weil es ein vertrauliches Telefongespräch gewesen war.

Es war an der Zeit, diesen Mann wieder einmal anzurufen. Renner wählte die private Handynummer des Basler Kommissärs Olivier Kaltbrunner.

GOLFPARK MOOSSEE, MÜNCHENBUCHSEE

Am Par-4-Loch Nummer 15 versuchte Kirsten Warren direkt zu spielen. Sie hatte diesen Schlag noch nie gewagt. Bisher hatte sie sich immer ans sogenannte Dogleg gehalten, also den linken Knick des Platzes ausgespielt, denn in diesem Knick war ein kleiner See. Da sie an diesem Vormittag alleine unterwegs war, würde sie niemand auslachen oder dumm anschauen, wenn ihr Schlag zu kurz geriete und der Golfball im See landete.

Sie nahm den Driver aus ihrem Trolley, setzte das Tee und den Ball. Sie stellte sich daneben, zielte, machte Wippbewegungen mit ihren Knien und versuchte die beste Haltung zu finden. Sie zog den Schläger auf, traf den Ball perfekt – das glaubte sie zumindest – und schaute ihm nach. Allerdings schoss er zu weit in die Höhe, stürzte vorzeitig ab und landete tatsächlich im See.

«Shit!», fluchte Kirsten.

Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr mit rosafarbenem Zifferblatt und bemerkte, dass sie sofort nach Hause eilen sollte. Denn sie wollte ihren Sohn nicht warten lassen.

So marschierte sie auf dem schnellsten Weg über den Golfplatz zum Ausgang. Kurz bevor sie diesen erreichte, hörte sie jemand ihren Namen rufen. Sie blickte zurück und entdeckte Greenkeeper Ralf. Er stammte aus Münchenbuchsee, sprach ganz ordentlich Englisch und sah auch nicht schlecht aus. Sie hatten schon einige Male ein paar Sätze miteinander gesprochen.

«Oh, hi!», rief sie zurück und hoffte, dass er mit seinem John-Deere-Rasenmäher abdrehen würde. Doch er fuhr geradewegs auf sie zu. «I’m in a hurry!», rief sie. Doch auch das hielt Ralf nicht davon ab, seinen Rasentraktor auf Höchstgeschwindigkeit zu jagen, auf sie zuzusteuern und vor ihr anzuhalten. Okay, zwei, drei Sätze, sagte sich Kirsten. Soll mich bloss nicht anbaggern.

Tatsächlich versuchte Kirsten nach zwei, drei Sätzen und der nochmaligen Information, dass sie in Eile sei, den Small Talk zu beenden. Doch Ralf liess sich nicht abwimmeln. Kirsten hatte den Eindruck, dass er mit irgendetwas herumdruckste und sich nicht getraute, es zu sagen. Sie lächelte ihn an und fragte ungeduldig: «Du wolltest mir noch etwas sagen?»

«Nein, nein», sagte Ralf nervös. «Ich meine, ähm, es war schön, dich mal wieder zu sehen … und, tja, ich …»

«Gleichfalls», sagte Kirsten, lächelte noch einmal, warf ihre Haare in den Nacken und zog ihren Trolley zum Clubhaus. Sie lächelte: Ralf war eigentlich ganz süss. So schüchtern … In diesem Augenblick vibrierte ihr Handy. Sie holte es aus ihrer Golfhose und sah, dass Renner anrief. «Hi, Kirsten, hast du heute Nachmittag Zeit?»

«Oha. Wozu?»

«Wir müssen nach Basel. Du und ich.»

«Worum geht es?»

«Um dieses Schatteninternet.»

«Oh my god, ich dachte es …»

FÄRBERSTRASSE, SEEFELD, ZÜRICH

Der alt Bundesrat langweilte sich grauenhaft. Seine Frau hatte mit ihm in der Stadt zu Mittag essen wollen, doch er hatte ihr einen Korb gegeben. Er habe ein Meeting, hatte er ihr gesagt. Doch seit seinem letzten echten Meeting waren bereits Wochen vergangen. Seine Businesslunchs beschränkten sich seither auf Treffen mit ebenfalls ausrangierten Politikern und Parteifreunden. Da wurde zwar innert zwei, drei Stunden die ganze Welt neu erfunden, allerdings interessierte das niemanden mehr. Die Inputs von Kilian Derungs und seinen Freunden wurden von den aktiven Parteifunktionären zur Kenntnis genommen, aber das war’s dann auch schon.

Er hatte bei seiner Mitarbeiterin ein Sandwich mit Bündnerfleisch bestellt, das sie punkt 12 Uhr ablieferte. Sie fragte ihn, ob sie Mittagspause machen dürfe oder ob es noch etwas Dringendes zu erledigen gebe. Nein, er habe nichts Dringendes. Es sei okay, wenn sie um 13 Uhr wieder hier wäre. Zu tun hatte er aber auch um 13 Uhr nichts für sie.

Kilian Derungs’ Tag hellte sich um 12.25 Uhr auf. Er erhielt über das Newnetnet eine Mitteilung: «Endlich, unsere Auserwählten finden zu einander.»

KRIMINALKOMMISSARIAT, WAAGHOF, BASEL

«Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann würden Sie sich selbst nicht als Internet-Spezialisten bezeichnen?»

«Natürlich nicht», antwortete Peter Renner auf die Frage von Kommissär Kaltbrunner. «Ich bin ein ganz gewöhnlicher Nutzer, ein User.»

«So, so», machte Kaltbrunner und nahm seine goldene Brille von der Nase. «Ich verstehe aber nicht ganz, warum Sie dann diese Story veröffentlicht haben?»

«Die Sache schien uns glaubwürdig zu sein.» Peter Renner sass einmal mehr wie in Gips gegossen da. Sein massiger Körper hatte auf dem billigen Bürostuhl fast keinen Platz.

«Mögen Sie eigentlich Ihren Beruf?», fragte Kaltbrunner abrupt. Solche Themenwechsel waren seine Spezialität.

«Ich dachte, das wird kein Verhör, Herr Kaltbrunner», konterte Peter Renner.

«Natürlich nicht.»

«Warum wird unsere Mitarbeiterin Kirsten Warren separat vernommen?»

«Sie wird nicht vernommen. Mein Kollege Giorgio Tamine ist aber in Sachen Internet versierter als ich. Möglicherweise zieht er noch einen Experten zu. Wissen Sie, Herr Renner, es geht um Folgendes: Ich befürchte, dass Sie Recht hatten.»

«Ach ja?»

«Wie ich Ihnen bereits am Telefon gesagt habe: Ja, es gibt Hinweise auf eine Terrorgruppe.»

«Oh.»

«Das Problem ist, dass eine Zusammenarbeit mit Journalisten für uns ziemlich heikel ist. Aber als Sie sich heute Morgen bei mir gemeldet haben, bin ich mir bewusst geworden, dass wir wohl …», er zögerte, «… dass wir einmal intensiver zusammen reden sollten als vor einigen Wochen.»

«Da wollten Sie wissen, wer uns diese Terror-Nachrichten geschickt hatte. Aber ich kann und werde es Ihnen nicht sagen. Ich gehe davon aus, dass Sie beziehungsweise Ihre Spezialisten in der Zwischenzeit alles versucht haben, dies herauszufinden.»

«Ja, Goppeloni», schimpfte Olivier Kaltbrunner in breitestem Baseldeutsch. «Wissen Sie eigentlich, wer hier alles daran arbeitet? Da bekomme ich irgendwelche Berichte von ausländischen Experten, Kriminalisten und Cyber-Sheriffs, die mir erklären, dass sie sich das nicht erklären könnten, da es nichts zu erklären gibt, ausser es erkläre sich von selbst. Alles so Geheimdienst-Typen.»

«Aber warum sind Sie überhaupt noch daran interessiert? Die ganze Sache war doch einmalig. Wir lagen falsch. Und die Kerle, die der armen Behinderten diese Bombe untergejubelt haben, werden Sie sicher ausfindig …»

«Das werden wir», sagte Kaltbrunner bewusst etwas grossspurig. Er setzte sich die Brille auf, lächelte und fragte dann leise: «Wie geht es eigentlich Ihrer Mitarbeiterin, die auf dem Barfi verletzt worden …»

«Sandra Bosone? Wie soll es ihr schon gehen? Hirnverletzung. Sie ist jetzt in der Reha im Appenzellischen.»

«Ich habe davon gehört.»

«Ach ja?»

«Wir Polizisten sind Menschen, Herr Renner. Menschen. Ich habe Frau Bosone im Uni-Spital besucht.»

«Ach ja?», machte Renner nochmals konsterniert.

«Ich habe ihr die Klinik in Speicher empfohlen. Ein Kollege von uns erlitt bei einem Einsatz einmal ein Schädel-Hirn-Trauma. Er ist heute wieder im Dienst.»

Renner war sprachlos. So viel Mitgefühl hatte er nicht erwartet. Olivier Kaltbrunner fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, rieb sich die Augen und setzte seine Brille wieder auf die Nase. Er hüstelte und sagte: «Was halten Sie von einer informellen Zusammenarbeit?»

«Bitte?» Renner zitterte leicht. Dieser Tschugger war ihm nicht geheuer …

«Was haben Sie jetzt gerade gedacht?», fragte Kaltbrunner. Und gab sich die Antwort gleich selbst: «Dass dieser Schugger spinnt?»

«Ist Schugger das Baseldeutsche Wort für Polizist?»

«Genau.»

«In Bern sagen wir Tschugger. Mit einem T vorne.»

«Ich weiss.»

«Ist heute aber ein Schimpfwort …»

«Ach was!», unterbrach Kaltbrunner. «Ein Schugger ist ein Schugger. Oder eben ein Tschugger.» Die beiden Männer lächelten sich an. «Also, was halten Sie von meiner Idee der Zusammenarbeit?»

«Ich weiss nicht recht …»

«Na ja, es muss ja nicht gerade das gesamte…ähm…Rösslispiel der Staats- und Bundesanwaltschaft inklusive Armee von unserem Informationsaustausch wissen. Oder stehen Sie auf echte, stundenlange Verhöre?»

«Nein.»

«Zudem denke ich, dass es besser ist, wenn wir ebenso eng und verschwiegen zusammenarbeiten wie unsere Gegner im Darknet oder Deep Web oder wie das Zeugs heisst.»

«Ich verstehe Sie nicht ganz.»

«Sie verstehen …» Es klopfte an der Türe und Kaltbrunner rief «Herein!»

Giorgio Tamine und Kirsten Warren betraten den Raum. «Wir sind so weit fertig», sagte Tamine.

«Wir eigentlich auch», meinte Kaltbrunner. «Nicht wahr, Herr Renner?»

«Worum ging es bei dir?», wollte Peter Renner von Kirsten wissen.

«Um das Deep Web und die Darknets. Wie ich dazukam und so weiter.»

«Herr Renner, ich sage Ihnen nun etwas», meinte Kaltbrunner forsch: «Die Kommentare auf den Online-Plattformen, die Sie und Ihre Zeitung verunglimpften, die Stimmung gegen Sie machten, das waren alles organisierte Reaktionen.»

«Bitte?»

«Ja, das konnten wir mittlerweile herausfinden.»

«Und wie?», wollte Kirsten wissen.

«Wir haben die Absender verfolgen können», erklärte Giorgio Tamine.

«Und Sie landeten immer bei irgendeinem Büro für, lassen Sie mich raten, … für politische Beratung.»

«Bei zwei Politagenturen, ja.»

«Das glaube ich jetzt aber nicht», sagte Peter Renner und löste sich aus seiner Starre. «Kirsten, kannst du mir das erklären?»

«Ja. Man kann heute einen Shitstorm im Internet in Auftrag geben. Sorry, ich habe nicht mehr daran gedacht.»

«Und warum?»

«Ablenkung, Herr Renner! Damit alle glauben, wie falsch Sie und Ihre Zeitung lagen. Erst bekommen Sie die Massenhysterie auf dem Barfüsserplatz exklusiv angekündigt. Dann erhalten Sie die Ankündigung weiterer Anschläge. Doch es passiert nichts. Aber wegen der von Ihnen angezettelten Hysterie bekommen Sie Haue.»

Renner erstarrte wieder. Alle merkten, wie angestrengt er nachdachte. Nach rund einer Minute sagte Renner: «Sie wollen uns also sagen, dass jemand mit uns Katz und Maus spielt?»

Niemand antwortete.

Nach einer Weile fügte Renner hinzu: «Und dass etwas passieren wird.»

REHA-KLINIK, SPEICHER, KANTON APPENZELL AUSSERRHODEN

«Bonjour, ma chère!», rief Henry Tussot, als er das Zimmer von Sandra Bosone betrat. Sandra sass am Fenster. Sie trug Jeans und einen blauen Pullover. Ihre Haare schimmerten rötlich im Abendrot der untergehenden Sonne. «Du siehst toll aus, ich mache gleich ein paar Fotos von dir.»

Henry warf sich auf die Knie und drückte wie wild auf den Auslöser seiner Kamera.

«Stopp, stopp!», sagte Sandra und hielt ihre Hand vors Gesicht.

«Wie war dein Tag?», fragte Henry und blieb auf dem Boden sitzen.

«Ach, Therapie, Ruhe, Therapie, Ruhe …»

«Du machst Fortschritte.»

«Blödsinn, Henry.»

«Doch, Schritt für Schritt.»

Sandra mochte nicht reden. Sie schüttelte nur leicht den Kopf. Henry robbte zu ihr und legte seine rechte Hand auf ihren Oberschenkel. Sandra reagierte nicht.

«Du hast abgenommen», meinte Henry nach einer Weile. «Ist das Essen so schlecht? Merde, ich werde mich bei der Klinikleitung beschweren.»

Nein, dachte Sandra, tu das nicht. Das Essen ist vorzüglich. Ich habe bloss Mühe zu schlucken. Die Esserei ist kein Genuss mehr. Es ist eine Anstrengung. Wie alles in meinem neuen Leben. Ach, Henry, wenn du nur wüsstest! Lass mich doch einfach in Ruhe! Du wolltest doch nie etwas von mir wissen, oder? Du bist nur scharf auf eine schnelle Nummer wie mit all deinen Weibern.

«Pass auf, Sandra, wenn du wieder ganz gesund bist, was sicherlich schon bald sein wird, werden wir zusammen tolle Reportagen machen. Wir müssen ja nicht mehr für dieses hektische Blatt arbeiten. Wir könnten auf Reisen gehen, schöne Geschichten aus aller Welt schreiben. Also du schreibst, ich fotografiere. Ja, das machen wir, dann verkaufen wir diese Reportagen an tolle Magazine wie den ‹Stern› oder das ‹Geo› oder vielleicht sogar an das ‹National Geographic›! Was meinst du?»

Ich wäre schon froh, dachte Sandra, wenn ich wieder für die Zecke und den Kotzbrocken arbeiten könnte …

«Weisst du», sprach Henry weiter, «als ich dich so daliegen sah, tot, also, ich dachte, du wärst tot, da sagte ich mir: Das kann es doch nicht sein. Das Leben aufs Spiel setzen für eine solche Scheisse, oder? Ja, ja, ich weiss, du möchtest mir jetzt sagen, dass ich ja sogar Kriegsreporter werden wollte, aber weisst du, das ist vorbei, das Leben deswegen aufs Spiel zu setzen, nein, das ist es mir nicht wert.»

Hör endlich mit dem Quatsch auf, dachte Sandra. Sie schloss die Augen.

Henry stand auf und gab ihr einen Kuss auf die Wange. «Ja, ruh dich aus, ma chère, ruh dich aus. Du brauchst Kraft.»

Henry ging auf den Zehenspitzen zur Türe, schaute lange zurück, öffnete sie lautlos und ging hinaus.

Was für ein irrer, aber charmanter Typ! Sandra lachte. Es war das erste Mal in ihrem neuen Leben.

ICE 371, BASEL-BERN

Peter Renner und Kirsten Warren hatten im Hochleistungszug ICE 371 der Deutschen Bahn ein geschlossenes Erstklassabteil für sich alleine. Der Zug war pünktlich um 17.59 Uhr in Basel abgefahren. Um 18.56 Uhr sollten sie in Bern ankommen. Peter Renner hatte sich vorgenommen, nicht mehr in die Redaktion, sondern direkt nach Hause zu gehen. Sein Stellvertreter Alex Gaster hatte ja alles im Griff. Und da sich auch Jonas Haberer nicht gemeldet hatte, schien der Tag reibungslos verlaufen zu sein.

Es war 18.33 Uhr. Der Zug befand sich auf der Schnellfahrstrecke zwischen Olten und Bern. Die beiden konnten ungestört miteinander reden. Renner sprach hochdeutsch, Kirsten mal englisch, mal deutsch, meistens aber englisch. Renner fand, Kirsten sollte endlich besser Deutsch lernen. Ihre Texte lieferte sie zwar auf Deutsch ab, doch Renner oder einer seiner Redaktoren mussten sie jeweils korrigieren. Das war der einzige Makel an Kirsten Warren. Im Übrigen war sie eine Top-Journalistin, die in der virtuellen Welt zu Hause war. Und auf dem Golfplatz. Das wusste Renner. Sie war eine super Berufskollegin! Obwohl es ihm manchmal etwas schwer fiel, sie nur als das zu sehen. Aber er hatte sich geschworen, sein Privatleben strikt vom Berufsleben zu trennen. Was ihm nicht schwer fiel, seit er für «Aktuell» arbeitete: Seither hatte er so gut wie gar kein Privatleben.

Kirsten und Peter sprachen über ihren Termin im Basler Kriminalkommissariat und rätselten darüber, was die Motivation von Kaltbrunner war, sie mit ins Boot zu holen.

«Ich denke, dieser Kaltbrunner will uns einlullen und uns für seine Zwecke missbrauchen», fasste Renner zusammen. «Ist mir in all den Jahren noch nie passiert. Ausgerechnet mit der Polizei oder der Staatsanwaltschaft einen informellen Kontakt zu haben. Normalerweise hassen die doch Journalisten.»

«Ich glaube, Kaltbrunner und Tamine wurden kaltgestellt. Das sind doch … wie sagt man auf Deutsch …»

«Kleine Würstchen!»

«Okay, so etwas jedenfalls. Da sind doch ganz andere Leute am Werk. Wenn es um Terror geht, mischen plötzlich ganz viele Leute, Experten und Gruppierungen mit. Oder was meinst du?» Sie schlug ihre langen Beine übereinander, und Renner konnte nicht anders, als auf sie zu starren. Warum mochte er bloss grosse, blonde Frauen wie Kirsten oder seine oberste Chefin, Emma Lemmovski?

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